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Mitte November lancierte der französische marxistische Philosoph Etienne
Balibar zusammen mit anderen Wissenschaftlern einen Appell (Casse-cou, la Republique!), der «in der
Massenarbeitslosigkeit, dem Abbau der öffentlichen Dienstleistungen, der Segregation in den
Städten, in der religiösen und kulturellen Stigmatisierung sowie im Rassismus der
alltäglichen Polizeibrutalität» die Hauptursachen der Revolte in den französischen
Vorstädten, den banlieues, sieht. Der Aufruf wandte sich gegen «die Tendenz der
Regierungsparteien, zur Repression zu greifen, ohne das Gefahrenpotenzial zu beachten, das in den sozialen
Konflikten steckt, und ohne Rücksicht auf die damit verbundene Gefährdung der Sicherheit der
Bevölkerung». Die französische Regierung hatte über zahlreiche Städte den
Ausnahmezustand verhängt bis heute ist er nicht überall aufgehoben, obwohl die Proteste
abgeflaut sind. Er bedeutet nicht nur nächtliche Ausgehsperre, er ermöglicht auch jederzeit
unangemeldete Hausdurchsuchungen und summarische Bestrafungen. Die Regierung hatte auch verfügt, dass
«Ausländer» allein aufgrund ihrer Herkunft, obwohl französische Staatsbürger,
jederzeit in Gewahrsam genommen und ausgewiesen werden können. In einem Interview mit der
italienischen Zeitschrift Erre bezeichnet Balibar diese Maßnahmen als Aufbau einer Apartheid im
Landesinneren.
Wie hat Ihrer Meinung nach die französische und internationale öffentliche Meinung die
Revolte verarbeitet?
In Frankreich ist der Versuch, den Rebellen religiöse Etiketten wie «islamischer
Fundamentalismus» anzuhängen, auf Anhieb gescheitert. Es gibt die bonapartistische Linie von
Sarkozy, der diesen Teil der Bevölkerung zu kontrollieren sucht, indem er ihr Kommunitarismus
vorwirft, und es gibt jene, die unter Zuhilfenahme normaler demokratischer Ausdrucksformen auf die
Vermittlung der offiziellen Vertreter der verschiedenen Gemeinschaften setzen. Andere haben betont, das
republikanische Modell der Integration und der politischen Vertretung auf parlamentarischer und kommunaler
Ebene sei gescheitert. Dies wurde vor allem von der englischen und amerikanischen Presse aufgegriffen, die
dieses Scheitern als das Ende des sozialen Gleichheitsgedankens interpretiert; nunmehr werde es
erforderlich, kommunitäre Zugehörigkeiten in Frankreich anzuerkennen. Ich weiß nicht, ob das
so ist, man muss darüber diskutieren, aber ich glaube, dass diese Argumente die Aufmerksamkeit von den
wahren Gründen der Revolte der banlieues ablenken, die für mich im Neokolonialismus liegen.
Wieso?
In den banlieues konzentriert sich die zweite und die dritte Generation der Einwanderer aus
Nordafrika und Afrika. Sie reagiert überempfindlich auf heftige Formen der Stigmatisierung wie z.B.
die alltäglichen Polizeikontrollen, die Diskriminierung aufgrund von Klassenzugehörigkeit mit
einer rassistischen Diskriminierung neokolonialen Typs kombinieren. Diese Menschen haben keineswegs die
Absicht, sich kulturell von der französischen Gesellschaft «abzusondern», sie fordern nicht
die Abschottung ihrer Gemeinschaften gegenüber der Republik. Im Gegenteil, sie bedienen sich deren
Sprache und Ideologie, um Gleichheit einzufordern. Deshalb haben ihre Forderungen keinen kommunitären,
sondern einen universalistischen Charakter.
Fordern sie also die Anerkennung als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger?
Genau, und ich sage dies nicht, um die
Thesen zu bekräftigen, die ich in den letzten Jahren vertreten habe, sondern weil es kulturelle und
soziale Aspekte von Bürgerschaft gibt, die von der Staatsbürgerschaft im modernen Sinn untrennbar
ist. In diesem Sinne kann man sagen, dass die für Frankreich typischen Formen des bürgerlichen
Republikanismus seit einiger Zeit an ihre Grenzen gelangt sind.
Die Bürgerschaft, die die Mehrheit der
Bevölkerung der banlieues einfordert, ist nicht nur eine multikulturelle, nicht einmal nur eine
transnationale; es ist eine Bürgerschaft auf vielen Ebenen, die ausgehend von der lokalen Ebene ihren
Ausdruck auch auf nationaler und transnationaler Ebene finden muss. In diesem Sinne ist klar, dass es heute
um eine Forderung geht, die ich als Residenzbürgerschaft bezeichne, d.h. um den Prozess des Aufbaus
einer Bürgerschaft von unten.
Es gibt noch weitere Aspekte der
Bürgerschaft, die man nicht ignorieren kann, auch im Licht der jüngsten Ereignisse. Die
Bürgerschaft ist ein Schnittpunkt, an dem verschiedene instutionelle Traditionen zusammenlaufen: die
republikanische des Staates, die die Existenz einer öffentlichen Ordnung und eines allgemeinen
Interesses voraussetzt, und die demokratische, die auf den Fortschritt der Rechte des Einzelnen in der
Gesellschaft setzt. Heute, da sich letztere Tradition nahezu vollständig erschöpft hat, weil ein
Teil der Bourgeoisie ihrer nicht mehr bedarf, besteht die Gefahr, dass einige der in Europa erlangten
Rechte und Traditionen verschwinden.
Kann man die Revolte als Ausdruck eines allgemeineren Kampfes gegen die Apartheid in den
Metropolen betrachten?
Ich persönlich vermeide es, eine Revolte anarchischen Typs zu idealisieren, die Schulen und
öffentliche Gebäude in Brand steckt und mit der Polizei zusammenstößt. Ich bin
überzeugt, dass sie eine Reaktion auf eine Reihe sozialer Ursachen darstellt, aber sie kann nicht als
Symptom einer politischen, antiimperialistischen oder antikapitalistischen Revolte begriffen werden. Die
jungen Brandstifter stellen keine Avantgarde dar, sondern sie enthüllen die Situation, in der
Millionen von Menschen leben. Deshalb glaube ich nicht, dass man von einer Bewegung sprechen kann, hier
bündelt sich eine Forderung.
Es ist hingegen sehr wichtig festzustellen,
dass diese Menschen keinesfalls von der Bevölkerung in den banlieues isoliert sind. Es scheint mir
vielmehr, dass sie ein Unbehagen ausdrücken, das auch von der großen Mehrheit erlebt wird. In
Europa gibt es eine lange Geschichte der Revolte gegen Ghettos. Neu ist, dass diese Generation die erste
ist, die zwischen einer sich universell verstehenden Staatsbürgerschaft, unter der ihre Eltern
aufgewachsen sind und die Chancengleichheit postuliert, und der schmutzigen Realität des
institutionellen Rassismus einen schreienden Widerspruch erlebt.
Welche Perspektiven gibt es?
Gramscis Wort vom Pessimismus der Vernunft und vom Optimismus des Willens bringt mich zu der
Auffassung, dass es schlimmer ist, sich in einer solchen Situation der Stimme zu enthalten als zu handeln
und dabei Irrtümer zu begehen. Ich hoffe, dass die Mehrheit der Franzosen aus diesem neokolonialen
Albtraum erwacht. Man muss den Versuchen der Regierung zur Kriminalisierung und Ethnisierung absolut
widerstehen. Sie dienen nur der Schaffung eines Feindbilds, das das System benötigt, und sie
können gegen eine eventuelle Politisierung der Revolte verwendet werden.
Ich denke, das Hauptproblem besteht heute
einerseits darin, in den banlieues Selbstbewusstsein und Mobilisierung neu zu entfachen, um den vom
politischen System Ausgegrenzten einen politischen Ausdruck zu geben. Andererseits könnten die lokalen
Vertreter der Linksparteien, zusammen mit dem Netzwerk aus Verbänden und kommunalen Diensten, eine
bedeutende Rolle bei der Lancierung einer demokratischen Gegenoffensive spielen. Diese Wiederbelebung
lokaler Demokratie könnte in einem stark zentralistischen Land wie Frankreich landesweite Bedeutung
erlangen. Es ist gewiss nur eine Hypothese, aber wenn heute eine demokratische Initiative nicht von der
zentralen Ebene ausgeht, muss sie von den banlieues ausgehen.
Sie haben mehrfach die europäische Apartheid gegenüber den Migranten angeprangert.
Kann man sagen, dass heute, in Frankreich wie auch in anderen europäischen Ländern, eine neue
Apartheid zutage tritt, eine innerhalb der Metropolen?
Ja, absolut. Es reicht nicht festzustellen, dass die Antwort der Regierung nicht angemessen ist.
Man kommt kaum um die Annahme herum, dass die Regierung jenseits ihrer internen Auseinandersetzungen
zwischen den Befürwortern einer «Sicherheitslösung» und denen eines paternalistischen
Ansatzes eine Art rassistische innere Grenze in der Gesellschaft entlang sozialer und ethnischer
Kriterien ziehen will. Durch die Ausnahmegesetze wird ein gewisser Typ von Personen von der Mehrheit der
französischen Gesellschaft isoliert und die banlieues vom Rest des nationalen Territoriums
abgesondert. In gewisser Hinsicht ist das alles nicht neu. Vielmehr ist es nur ein Moment im Prozess des
Entstehens von Formen der Segregation in ganz Europa, ein Prozess, der seit geraumer Zeit begonnen hat.
Worin besteht dieser Prozess?
Er ist schleichend und vielgestaltig und wird intensiver. Ich betrachte ihn noch nicht als fertig,
aber ich glaube, dass sich nach außen wie nach innen ein Wandel im europäischen Raum vollzieht.
Das ist ein Prozess, der in der Errichtung einer Apartheid mündet, also in der Vervielfältigung
oder besser Verdopplung der Grenzen, der äußeren Grenzen der EU und der inneren Grenzen in den
Städten. Dieser Prozess hat oft tragische Folgen, wie wir in Ceuta oder Melilla gesehen haben. Das
sind alles Folgen der protektionistischen Politik der EU, die einerseits die Mauer verstärkt, die
Europa von Nordafrika trennt, und andererseits Zonen der Kontrolle und der Konzentration von Migranten in
Nordafrika schafft. In den banlieues geschieht auf symmetrische, wechselseitige Weise dasselbe. Es besteht
die Gefahr, dass die Versuche, diese Episoden politisch auszuschlachten, den Prozess so beschleunigen, dass
er eines Tages nicht mehr aufgehalten werden kann.
www.erre.info (Übersetzung: Hans-Günter Mull)
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