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Die neue Ausgabe des internationalen Jahrbuchs Socialist Register könnte
nicht aktueller sein. Nach zwei wichtigen Jahrbüchern zur Theorie und Praxis des neuen Imperialismus,
beschäftigen sich die Autoren des diesjährigen Register (u.a. Frances Fox Piven, Barbara Ehrenreich,
Loic Wacquant, Terry Eagleton) mit den zunehmenden Manipulationen von Wahrheit und bürgerlicher
Öffentlichkeit im solcherart globalisierten und militarisierten Kapitalismus. Wir veröffentlichen
hier das leicht gekürzte Vorwort.
Die allgemeine Verbreitung der chronischen Lügenkrankheit scheint ein Strukturmerkmal des globalen
Kapitalismus zu Beginn des 21.Jahhunderts zu sein. In früheren Ausgaben von Socialist Register haben wir
die Verflechtungen der Nationalstaaten und Ökonomien untereinander in der amerikanischen neoliberalen
imperialen Ordnung und die Belastungen, die daraus für ihre Binnenbeziehungen wie für ihre
Außenbeziehungen folgen, analysiert.
Es ist dabei klar geworden, dass dies nicht
allein in eine zunehmend grobere, militarisierte Geopolitik des Imperiums mündet, die die Legitimität
der Regierungen der «Koalitionen der Willigen» in Frage stellen. Gleichermaßen ernsthafte,
vielleicht letzten Endes schwerwiegendere Legitimitätsprobleme werden durch den unablässigen Druck
der Marktkräfte geschaffen, die der globale Neoliberalismus freisetzt, und die Umweltschäden und
sozialen Verwerfungen, die sie hervorbringen. Solche Legitimationsprobleme zeigen sich in einem beispiellosen
Grad an Geheimhaltung, Täuschung, wenn nicht rundheraus Lügen, die das öffentliche Leben jetzt
prägen.
Die Kriegserklärung «gegen den
Terror» hat diese Tendenz verschärft. Den Regierungen wurden erlaubt, neue Machtinstrumente
einzuführen, um zu verbergen, was sie im Schilde führen. In den USA ist die Zahl der als geheim
eingestuften Dokumente von 6 Millionen im Jahr 1996 auf fast 16 Millionen im Jahr 2004 gestiegen, die Anzahl
der freigegebenen Seiten ist hingegen jährlich um über 80% gefallen. Grundlegende Informationen
werden jetzt routinemäßig «sensibel» genannt und der Öffentlichkeit vorenthalten,
während Maßnahmen wie der USA Patriot Act Bürger unter umfassende staatliche Überwachung
stellt, die alles beobachtet, von ihren Reisen bis zu den Büchern, die sie aus der Bibliothek entleihen
(Leser aufgepasst!). Bewaffnete Polizeikontrollen sind an der Tagesordnung, Menschen werden verhaftet und
unbegrenzt festgehalten, ohne Prozess und ohne Anschuldigung.
Die ungeheuerlichen Lügen, die Washington
und London in Zusammenhang mit der Invasion des Irak aufgetischt haben, sind nur die Spitze eines Eisbergs.
Aufrichtigkeit und eine offene Rede von Politikern ist eine Ausnahme geworden, und es gibt eine Fülle von
Hinweisen auf die schamlose Komplizenschaft professioneller Journalisten. Die leere Werberede und
Verkaufsmentalität der Konzernkultur durchdringen mehr und mehr jeden Lebensbereich. Weniger erkannt, aber
deshalb längerfristig nicht weniger bedeutend ist die wachsende Unterordnung der wissenschaftlichen
Forschung unter kommerzielle Ziele.
Die vorsätzliche Abdankung eines
großen Teils der akademischen Intelligenz vor ihrer Aufgabe, die Wahrheit zu sagen, macht die Sache noch
schlimmer. Die Gleichgültigkeit gegenüber der wissenschaftlichen Wahrheit in der akademischen Welt
schlägt sich unmittelbar im öffentlichen Leben nieder. Das «Geschichtenerzählen» ist
zu einer bevorzugten Methode der Mitarbeiter im Stab von New Labour geworden, Blairs Kommunikationsbeauftragter
hat sogar einen «Chef für Geschichtenentwicklung» eingestellt. Werden die Poststrukturalisten
und Vertreter der Postmoderne, nachdem sie durch die Ära George W. Bush gegangen sind, immer noch
behaupten, jede «Erzählung» sei so wahr wie die andere?
Die Entartung des öffentlichen Diskurses
ist unbestreitbar, aber nicht unumkehrbar, wenngleich die zugrundeliegenden strukturellen Bedingungen nur durch
eine umfassende demokratische Revolution beseitigt werden können. Im Augenblick geht es darum, das Problem
und seine Ursachen so deutlich wie möglich zu machen. Mitten im Vietnamkrieg konnte Robert Lowell immer
noch sehen, dass es dennoch eine «goldene Zeit der Freiheit und der Genehmigung zum Handeln und
Spekulieren» war. Aber er hatte die «dunkle Ahnung», das sie zu Ende gehen und durch ein
«autoritäres Reich von Pietät und Eisen» ersetzt würde. Wir leben nicht mehr in einer
goldenen Zeit; die Ahnung gewinnt an Boden. Das öffentliche Leben wird mehr und mehr von autoritären
Elementen durchsetzt, einige tragen geradezu protofaschistische Züge. Aber es gibt immer noch Raum
für kritisches Denken und kritische Rede und dies müssen wir uneingeschränkt nutzen.
Die Degeneration des öffentlichen
Diskurses und seine Folgen sichtbar zu machen, ist nicht einfach. Die Aufsätze in der aktuellen Ausgabe
von Socialist Register drehen sich alle um diese Frage, angefangen bei der nüchternen Analyse des
«zynischen Staates» im Westen, wie er paradigmatisch in Großbritannien unter New Labour
geschaffen wurde. Das steht im Zentrum der chronischen Lügenkrankheit, unter der wir leiden. Dem folgt
eine Kritik des Begriffs der «kapitalistischen Demokratien», die sich auf die
Demokratisierungserfahrungen in Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten bezieht und argumentiert, dass
kapitalistischen Staaten in erster Linie kapitalistisch und nur gelegentlich demokratisch sind.
Die weiteren Aufsätze befassen sich mit
der Verschleierung der kapitalistischen Klasseninteressen hinter dem Feigenblatt der
«Wirtschaftsgemeinschaft» und dem Klassenkrieg, der im Namen der «Sozialstaatsreform» und
des «Ausbaus der Sicherheit» geführt wird. Hierhin gehören auch die zaghaften Versuche der
Medien, den offiziellen Lügen um den Irakkrieg etwas entgegen zu setzen. Dem folgt ein Beitrag, der
beschreibt, wie die Weltbank, ungeachtet der Rhetorik der G8 über die Beendigung der globalen Armut, sich
weiter statistischer Kennziffern bedient, die das Ausmaß der Armut in der Welt und die realen
Bedürfnisse der Armen verschleiern. Ein weiterer Beitrag zeigt, wie der weltweit bekannteste liberale
Ökonom, Joseph Stiglitz, zwar freimütig seine Enttäuschung über die Weltbank kundtut, aber
auch ein Gefangener seiner Disziplin bleibt, weil er unfähig ist, die strukturellen Faktoren hinter der
falschen Verteilung politischer Macht und Marktinformation zu analysieren, die er beklagt.
Die Abdankung so vieler linker Intellektueller
vor ihrer Aufgabe, die Wahrheit zu sagen, wird in einem Aufsatz behandelt, der anschaulich den steilen Aufstieg
des Postmodernismus als Philosophie aber auch als «Habitus» in der akademischen Welt Amerikas
beschreibt. Postmodernismus ist eine Form dessen, was Socialist Register 1990 den «Rückzug der
Intellektuellen» genannt hat; teilweise war er das Resultat der politischen und intellektuellen
Versäumnisse der traditionellen Linken. Eines dieser Versäumnisse ist Gegenstand eines ausgreifenden
und provozierenden Essays, das beginnt mit einer Kritik der berühmten Position von E.P. Thompson im
Register von 1965 und sich im weiteren mit der Zweideutigkeit des Klassenkonzepts im sozialistischen Projekt
von seinem Anbeginn an von Rousseau bis Marx auseinandersetzt. Der Rückzug der
Intellektuellen, vor allem wenn begleitet von journalistischer Komplizenschaft mit den offiziellen
Lügengespinsten, hat oft Künstler herausgefordert, die entstandene Lücke zu füllen. Deshalb
veröffentlichen wir hier unser erstes Essay überhaupt über Theaterpolitik, es untersucht seine
lebenswichtige Rolle im «Spiel mit der Wahrheit», vor allem heute. Abschließend beschäftigt
sich ein Aufsatz mit den Spannungen zwischen Ästhetik und Gesellschaft, Elite und Weltläufigkeit,
Postmodernismus und Sozialismus als Annäherungen an die Wahrheit. Er enthält noch einmal in
konzentrierter Form das Ziel des Bandes, indem er deutlich macht, dass nicht die Macht, sondern ihre Opfer am
dringendsten der Wahrheit bedürfen… Der Macht muss man die Wahrheit nicht sagen, sie ist in gewisser
Weise für sie unerheblich.
(Übersetzung: Angela Klein)
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