SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2006, Seite 4

Kolumne von Jakob Moneta

Für eine Renaissance sozialistischer Theorie

Harry Magdoff ist am Neujahrstag 2006 im Alter von 92 Jahren gestorben. Er war zusammen mit Paul M. Sweezy Herausgeber der Monthly Review, einer hervorragenden marxistischen Streitschrift in den USA. Harry war ein Kind russisch-jüdischer Emigranten. Sweezy stammte aus einer britischen Familie, die zu den ersten Einwanderern in die USA gehörten. Die Millionen, die er erbte, investierte er in die Verbreitung des Marxismus in den USA.
Als ich Harry und seine polnisch- jüdische Lebensgefährtin kennen lernte, erzählte ich ihnen, dass Sholem Aleichem (Pseudonym von Solomon Rabinowitz, 1859—1916), der weltweit geschätzte jiddische Satiriker, mit seinen Schriftstellerkollegen darüber gestritten habe, welche Sprache die interessanteste sei. Der Engländer meinte, seine sei die wortreichste, weil sie sich aus vier Quellen zusammensetze. Der Franzose sagte, seine Sprache sei die klangreichste und darum auch die der Diplomatie. Der Italiener nannte seine die musikalischste. Aber Aleichem lobte die jiddische Sprache. Erstaunt fragten alle: «Warum?» «Weil men versteit doch jedes Wort», antwortete er. Damit hatte ich, trotz meines goyischen, deutschen Aussehens, die Sympathie von Harry und seiner Lebensgefährtin, die beide noch Jiddisch kannten, erobert.
Ich wurde zu den wöchentlichen Zusammenkünften der Redaktion eingeladen, in denen hart gestritten wurde. Gäste wurde eingeladen, um über ihre Erfahrungen zu berichten. So konnte ich damals über die Streikerfolge der IG Metall berichten, in denen es gelang, die Arbeitszeit von 48 Wochenstunden auf 35 zu reduzieren und den Urlaub von wenigen Tagen auf sechs Wochen mit Urlaubsgeld durchzusetzen.
Wer weiß noch heute, dass die US- amerikanischen Brüder Walter und Victor Reuther 1933, als Hitler an die Macht kam, auf Fahrrädern durch Deutschland fuhren, um sich ein Bild davon zu machen, wie das in der Bevölkerung aufgenommen wurde? Von dort aus fuhren sie in die Sowjetunion, wo sie in der ersten Autofabrik gearbeitet haben. Da der Betrieb noch nicht beheizt wurde, haben die Arbeiter die bittere Kälte dadurch vertrieben, dass sie sangen und tanzten, bis sie sich wieder erwärmten. Die Reuther-Brüder blieben fast zwei Jahre. Auf dem Weg zurück in die USA kamen sie nach China, wo sie zum ersten Mal Rikschafahrer sahen, die Menschen zogen. Da spannten sie sich ein und zogen ihren Rikschafahrer, was einen riesigen Auflauf verursachte.
In den USA haben sie durch Sitzstreiks und in Auseinandersetzungen mit organisierten Schlägerbanden als Streikbrecher zum ersten Mal 5 Millionen in einer Industriegewerkschaft organisiert. Walter Reuther wurde 1946 Präsident der UAW (United Automobile Workers Union). Als er am 9.Mai 1970 mit dem Flugzeug abstürzte, das ihn zur Gewerkschaftsschule bringen sollte, begann die Gewerkschaft, ihre Erfolge einzubüßen.
Auf dem Weg nach Deutschland hatte mich Walter Reuther in Paris aufgesucht, wo ich Sozialreferent an der deutschen Botschaft war. Ich kann nicht vergessen, dass er erstaunt darüber war, dass die IG Metall bei Lohnverhandlungen ökonomische Experten brauchte. Ganz einfach meinte er: «We want more!»
Als ich in den monatlichen Zusammenkünften von Gewerkschaftsführern in New York über die Erfolge der IG Metall berichtete, stieß ich auf Unglauben. Sie hielten eine 35-Stunden-Arbeitswoche und 6 Wochen Urlaub mit Urlaubsgeld für schlecht möglich.
Unter den marxistischen oder linken Intellektuellen gab es kaum einen, der nicht durch die Verfolgungsjagd MacCarthy‘s auf Kommunisten seinen Job in der Universität, in der Filmindustrie oder im Theater verloren hatte.
Annette T. Rubinstein, die sich weigerte, ihren kommunistischen Bruder zu denunzieren, die selbst eine unabhängige Linke war, verlor nicht nur ihre Stelle als linke Professorin, sondern erhielt auch ein Verbot, ihre Lesungen über die englische Literatur, die zu den besten gehörten, die von Sozialisten erarbeitet waren, auch nur öffentlich vorzutragen. Sie nahm ein Angebot aus China an, dort ihre Vorlesungen zu halten, die auch in Englisch gedruckt wurden.
Sie kehrte in die USA zurück, wo inzwischen die Kommunistenhetze abgeflaut war und hielt ihre Vorlesungen im Bert-Brecht-Haus von New York. Noch als Hundertjährige hatte sie begeisterte Zuhörer, wenn sie über die Krimiliteratur Vorträge hielt. Ihr Haus war stets offen für Linke aus aller Welt, die nicht nur ihre hervorragende Küche genossen, sondern auch ihre Vorträge, in denen sie aus dem Gedächtnis alle Passagen aus Shakespeares Schauspielen zitierte, wenn sie über englische Literatur sprach.
Als sie mir ihr über 900 Seiten starkes Buch The Great Tradition in English Literature from Shakespeare to Shaw schenkte, schrieb sie als Widmung: «To a comrade in the struggle for the great tradition of human liberation, Jakob Moneta, sincerely Annette T. Rubinstein, 3.12.95.»
Als ich eine Einladung erhielt, auf der Socialist Scholar Conference über die deutsche Gewerkschaftsbewegung zu referieren, wusste ich nicht, dass tausend Teilnehmer mehrere Tage in Arbeitsgemeinschaften oder in allgemeinen Versammlungen und Diskussionen teilnehmen würden. Unter den Vortragenden waren marxistische Professoren mit einer hohen Kultur. Die Universitäten gaben ihnen die Möglichkeit, sich mit der neoliberalen Mehrheit auseinanderzusetzen und so die theoretische Diskussion zu vertiefen.
Wenn heute in Deutschland marxistische Professoren ausgeschaltet und durch neoliberale Schwätzer ersetzt werden, die oft genug nicht einmal ein theoretisches Fundament haben, so steht das im Gegensatz zur liberalen Tradition der Universität in den USA. In den letzten Jahren hat die Socialist Scholar Conference deutsche Marxisten eingeladen, für die das eine erhebliche Bereicherung war.
Die sozialistische Theorie, die von Stalin zusammen mit ihren Verfechtern umgebracht wurde, erlebt offenbar in den USA eine Wiederauferstehung. Wir sollten sie nicht verfehlen.

Mit dieser Kolumne verabschiedet sich Jakob Moneta bis auf weiteres von den Leserinnen und Lesern der SoZ. Das fortgeschrittene Alter (91) und die Auf und Abs entsprechender Krankheiten zwingen ihn zu diesem Schritt.

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