SoZ - Sozialistische Zeitung |
Hartz IV hat schwere Eingriffe in die Lebenssituation erwerbsloser und
bedürftiger Menschen gebracht. Hunger, Krankheit, kalte Wohnungen, Angst vor Wohnungsverlust sind
einige heute sicht- und hörbare Erscheinungen.
In Lübeck verbrachten 2500 Haushalte das Weihnachtsfest 2005 wegen Energieschulden ohne
Stromversorgung. Mehr als 300000 Menschen in der BRD haben keinen Krankenversicherungsschutz. Viele
Arbeitslosengeld II (ALG II) Beziehende können wegen zu geringer Mittel den Arztbesuch und die
Aufwendungen für die erforderliche Krankenbehandlung nicht mehr bezahlen.
Am 3.Januar 2005 war die Hartz-IV-
Maschinerie mit vielen Startschwierigkeiten angelaufen. In den ersten drei Monaten erhielten viele
Antragstellende auf ALG II zunächst nichts oder irgendeine Überweisung, der Bescheid blieb aus.
Nach Einschätzung der Beratungsstellen waren mehr als 90% der Bescheide falsch. Über das Jahr
hinweg trafen massenhaft falsche Widerspruchsbescheide ein. Etliche Antragstellende mussten ihr Recht
einklagen und warten noch heute auf das ihnen zustehende Geld. Deutlich zeigt sich: Es gibt einen Konflikt
zwischen dem Rechtsbewusstsein der Erwerbslosen und ihrer Familien einerseits und der Rechtsauffassung des
Gesetzgebers andererseits. Denn das ALG II liegt unterhalb der Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz
(BSHG) und auch unter dem soziokulturellen Existenzminimum. Die Montagsdemonstrationen und die vielen ALG-
II-Beziehenden, die den Rechtsweg beschritten haben, zeigen, dass es durchaus unterschiedliche
Vorstellungen davon gibt, wie bedürftige und erwerbslose Menschen leben sollen und wollen.
Im Gegensatz zum BSHG räumt das Hartz-IV-Gesetz den Antragstellenden nicht mehr das Recht auf
Führung einer menschenwürdigen Existenz ein. Das neue Gesetz funktioniert nach dem Motto
«Keine Leistung ohne Gegenleistung.» Sein eigentlicher Sinn besteht in der Vermeidung der
Fürsorgeleistung «Grundsicherung für Arbeitsuchende» durch Angebot irgendeiner Arbeit
und Nötigung zum Arbeitsantritt bei Antragsstellung noch vor Ausstellung des Bescheids. Die volle
Durchsetzung dieses Prinzips will die rot-schwarze Koalition mit der Einführung von Kombilöhnen
vervollständigen.
Der Verwaltungsvollzug von Hartz IV toppt
das skandalöse Gesetz noch. Denn die Behörden setzen ganz im Sinne von §1 SGB II auf
Leistungsvermeidung.
Viele ALG-II-Beziehende erhalten weniger
als ihnen zusteht. Das belegen die überwiegend falschen ALG-II-Bescheide bei der Anrechnung von
Einkommen, Vermögen oder bei der Weglassung des befristeten Zuschlags sowie von
Mehrbedarfszuschlägen. Sämtliche Formen der Verfolgungsbetreuung, wie Prüfdienste mit
Hausbesuchen, Telefonabfragen, Meldetermine, Überschüttung mit unterschiedlichsten Aufforderungen
des Jobcenters, Sanktionsquoten und eigenen Verwaltungsanordnungen der einzelnen Jobcenter belegen dies.
Unzureichende Information, Aufklärung und Beratung durch die Jobcenter oder kommunale Stellen hindert
die Betroffenen an der Wahrnehmung ihrer Rechte. Rechtliche Spielräume bei Unterkunftskosten, Miete
oder Wohnungsbeschaffungskosten, werden bei kommunalen Verordnungen und im Verwaltungsvollzug nicht in
Erwägung gezogen.
Neben einer stärkeren Entrechtung brachte Hartz IV auch Enteignung, Armutslöhne und
Arbeitsdienst. Im ALG II gibt es gegenüber dem BSHG nur noch pauschalierte einmalige Beihilfen. Bis
Ende 2004 konnten Waschmaschine, Wintermantel, Winterschuhe, Bekleidung, Aktentasche, Fahrt- und
Bewirtungskosten bei Familienfeiern und vieles andere einzeln beantragt werden. Zynischerweise sollen nun
aus einer Pauschale von 48 bzw. 45 Euro solche Anschaffungen angespart werden.
Nicht genug damit, dass die
Schonvermögen nach Altersgruppen unterschiedlich mickrig bemessen sind: Die Betroffenen dürfen
sie nicht einmal selbstbestimmt ausgeben. Das Jobcenter bestimmt über den Einsatz ihrer Spargroschen.
Erwerbslose Hilfebedürftige dürfen ihr Geld zwar für Bildung und Urlaub ausgeben, nicht aber
für Zwecke, die in der Regelleistung enthalten sind. Wird letzteres ruchbar, kann das Jobcenter
Betroffene wegen unwirtschaftlichen Verhaltens eine Kürzung der Regelleistung aufbrummen. Über
privat Angespartes wird nun staatlich verfügt.
Die einzige Perspektive sind Mini- und
Billigjobs sowie Arbeitsdiensttätigkeiten zur Mehraufwandsentschädigung (1-Euro-Jobs). Weil aber
die Anrechnung von Erwerbseinkommen derart strengen Regeln unterliegt, bleibt zum Leben nicht viel
übrig. Die Mehraufwandsentschädigung bei Arbeitsgelegenheiten ist kein Lohn, sondern soll die
arbeitsbedingten Aufwändungen von faktischen Teilzeitarbeitsverhältnissen bis zu 30 Stunden in
der Woche ersetzen. Bei erreichbaren Maximaleinkommen von 850 Euro pro erwerbsfähiger Einzelperson
geraten viele Beziehende von ALG II damit schnell in die Schuldenfalle. Denn die Lebenshaltungskosten bei
Miete, Strom, Gas und Heizöl steigen. Die Menschen im Arbeitslosengeld haben derzeit nur noch zwei
Fragen: Wo kriege ich morgen Geld her? Wie halte ich die Wohnung?
Der Verwaltungsvollzug von Hartz IV soll allen Erwerbstätigen zeigen, was ihnen blüht, wenn
sie auf der Arbeit irgendwie aufmucken. Ihnen droht die Zerstörung ihrer Familie, die Aufgabe ihrer
Wohnung und der Lebensmittelentzug. Und ihnen droht, wie den ALG-II-Beziehenden, der Zwang zur freiwilligen
Selbstunterwerfung unter die Annahme fast jeder Arbeit zu jeglichen Bedingungen, z.B. Null Lohn. Sonst gibt
es keine Leistung.
Und wer behauptet, Hartz IV sei zur
Vermittlung in den 1.Arbeitsmarkt gedacht, der irrt gewaltig. Es geht um Sparen um jeden Preis. Dazu ist
den Jobcentern inzwischen jedes Mittel recht: falsche Bescheide, Verschwindenlassen von Akten, Zwang zum
Vorzeigen der Kontoauszüge der letzten 36 Monate, Kontendurchleuchtung, Vermutung der
Leistungserschleichung, Kopien von Nachweisen aller Art, Nötigung von Ärzten zur Preisgabe ihrer
Schweigepflicht usw.
Von jedem erwerbslosen
Hilfebedürftigen und seiner Bedarfsgemeinschaft wird erwartet, dass sie alles tun, um den Bezug der
Grundsicherung für Arbeitsuchende zu vermeiden. Nach einer Umfrage, die das Schwarzbuch Hartz IV
veröffentlicht hat, haben etwa 54% der Befragten ein Arbeitsangebot erhalten. 71% davon waren 1-Euro-
Jobs, 15% reguläre Arbeit. «1-Euro-Jobs» waren vorher überwiegend ABM- oder
Honorarstellen. In 19 Fällen wurden dauerhafte reguläre Jobs ersetzt. Offiziell gehen 650000
Fürsorgebeziehende einer Erwerbsarbeit nach. Zirka 300000 ALG-II-Beziehende sind in
Arbeitsgelegenheiten zur Mehraufwandsvariante tätig und gelten somit als erwerbstätig. Klappt die
Vermeidung von ALG II nicht, sehen sich die Beziehenden mit entwürdigenden Befragungen auf dem Amt und
dem Sozialgericht konfrontiert. Viele erwerbsfähige Hilfebedürftige fühlen sich derart unter
Druck gesetzt, dass sie beginnen, Fehler zu machen, Sanktionen erhalten, oder den Folgeantrag aus Angst,
Kraftlosigkeit bzw. schweren Depressionen gar nicht mehr stellen.
Politik und Kapitaleigner unterlassen nichts, um das soziokulturelle Existenzminimum weiter zu
drücken. Weil der Zweck die Mittel heiligt, durfte der frühere Wirtschaftsminister Clement
Arbeitslose wieder mit Parasiten vergleichen und die nächsten Kürzungen beim ALG II und der neuen
Sozialhilfe ankündigen. In bewährter Manier beklagen Konzerne und Kapitaleigner ihre mangelnde
Wettbewerbsfähigkeit. Dabei haben sie allein in den Jahren 2000 bis 2003 wegen der Senkung der
Unternehmens- und Gewinnsteuer 101,5 Milliarden Euro eingespart, die Bund, Ländern und Gemeinden zur
Gestaltung des öffentlichen Lebens nicht mehr zur Verfügung stehen, aber auch nicht in die
Wirtschaft gelangen. Das reicht ihnen nicht. Weitere Einsparmaßnahmen bei Hartz IV sind bereits in
Arbeit. Dazu gehört die Beweislastumkehr bei eheähnlichen Gemeinschaften, das gesetzesoffizielle
Verbot für Jugendliche unter 25 Jahren, aus ihrem Elternhaus auszuziehen, sowie der ausgedehnte
Rückgriff auf die Unterhaltspflicht der Eltern der unter 25-Jährigen.
Der Runde Tisch der Erwerbslosen- und
Sozialhilfeorganisationen hatte Anfang 2005 auf den politischen und juristischen Widerstand der Betroffenen
orientiert und nach den offiziellen Verlautbarungen der Sozialgerichte damit Erfolg gehabt. ALG-II-
Beziehende beschreiten in weitaus größerem Umfang den Rechtsweg als noch bei der
Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe. Außerdem hat es eine einzigartige Vielfalt von individueller
Widerständigkeit und kollektivem Widerstand gegen die zunehmende Willkür bei den Jobcentern
gegeben. Damit das so bleibt und die Öffentlichkeit noch mehr erfährt von den Praktiken der
Ämter, werden am 16.März 2006 in vielen Städten (u.a. Berlin, Freiburg, Göttingen) und
Regionen Tribunale gegen Armut und Elend stattfinden.
Anne Allex
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