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Er war ein israelischer Napoleon. Von früher Jugend an war er davon
überzeugt, die einzige Person in der Welt zu sein, die den Staat Israel retten könnte. Das war
absolut sicher ohne jeden Zweifel. Er wusste, er müsse äußerste Macht erlangen, um die
Mission zu erfüllen, die das Schicksal ihm auferlegt habe.
Dieser Glaube führte zu einer kompletten Integration der persönlichen Egozentrik und der
nationalen Egozentrik. Für eine Person, die an solch eine Mission glaubt, gibt es keinen Unterschied
zwischen persönlichem und nationalem Interesse. Was für ihn gut ist, wird automatisch gut für
die Nation und umgekehrt. Das bedeutet, dass jeder, der ihn daran hindert, an die Macht zu kommen, wirklich ein
Verbrechen gegen den Staat begeht. Und jeder, der ihm zur Macht verhilft, eine patriotische Tat begeht.
Diese Überzeugung lenkte jahrzehntelang
seine Aktionen. Sie erklärt die hartnäckige Bestimmung, die Zähigkeit, die unbeugsame
Beharrlichkeit, die sein Markenzeichen wurde und ihm den Spitznamen «der Bulldozer» einbrachte. Sie
zog Bewunderer an, die vollkommen unter seinen Einfluss gerieten.
Dies erklärt auch seine Haltung
gegenüber dem Geld. Man sagte über ihn, dass «er nicht bei Rot halte» und «Gesetze
für ihn nicht gelten». Mehr als einmal wurde er angeklagt, er habe Geld von reichen Juden im Ausland
angenommen. Am Tag vor seinem schicksalhaften Schlaganfall kam ein förmliches Papier der Polizei heraus,
er habe Bestechungsgeld in Höhe von 3 Millionen Dollar von einem Casinobesitzer angenommen. (Es ist
möglich, dass diese Veröffentlichung seinen Blutdruck erhöhte und den schweren Schlaganfall
auslöste.)
Aber nicht alle diese Millionäre
erwarteten eine Gegenleistung. Einige von ihnen glaubten, wie er selbst, wer ihn unterstütze,
unterstütze den Staat Israel. Kann es eine heiligere Pflicht geben, als den israelischen Napoleon mit
einem abgesicherten Einkommen auszustatten, damit er sich mit ganzer Energie der Erfüllung seiner
historischen Aufgabe widmen kann?
Auf seinem langen Weg hat Sharon solche
Hindernisse einfach übersprungen. Sie brachten ihn nicht von seinem Kurs ab. Persönliche
Tragödien und politische Niederlagen haben ihn nicht einen Augenblick aufgehalten. Die Unfälle, die
seine erste Frau und seinen ältesten Sohn töteten, seine Entlassung aus dem Amt, nachdem er von einem
Unterausschuss der «indirekten Verantwortung» für Sabra und Shatila bezichtigt wurde, wie auch
die vielen anderen Rückschläge, Fehlschläge und Enttäuschungen, die ihm während all
der Jahre widerfuhren, schreckten ihn nicht ab. Sie lenkten ihn nicht einen Augenblick von seinen
Bemühungen ab, die höchste Macht zu erlangen.
Und nun sollte es Wirklichkeit werden. Am
Mittwoch, dem 4.Januar 2006, konnte er sicher sein, dass er in drei Monaten der allein herrschende Führer
Israels werden würde. Er hat eine Partei geschaffen, die ihm allein gehörte, die dabei war, nicht nur
eine zentrale Position in der nächsten Knesset einzunehmen, sondern auch alle andern Parteien in
Stücke zu reißen.
Er war entschlossen, seine Macht zu gebrauchen,
um das ganze politische System Israels umzuwerfen und ein Präsidialsystem zu adoptieren, das ihm eine
allmächtige Position geben würde, so wie Juan Perón auf dem Höhepunkt seiner Macht in
Argentinien. Dann endlich würde er in der Lage sein, seine historische Mission zu erfüllen, um
für die nächsten Generationen in Israel die Weichen zu stellen, so wie es Ben Gurion vor ihm getan
hatte.
Und da, gerade, als es schien, ihn könne
nichts mehr aufhalten, hat ihn mit grausamer Plötzlichkeit sein Körper im Stich gelassen.
Was geschah, ähnelt einem zentralen Motiv der jüdischen Mythen: Schicksal des Mose, den Gott
für seinen Stolz strafte, indem er ihm noch erlaubte, von weitem einen Blick auf das Gelobte Land zu
werfen, ihn aber sterben ließ, bevor er einen Fuß auf seinen Boden setzen konnte. An der Schwelle zur
absoluten Macht bekommt Ariel Sharon einen Schlaganfall.
Während er im Krankenhaus noch um sein
Leben ringt, beginnt sich schon der Mythos von «Sharons Vermächtnis» aufzubauen.
So wie es vielen Führern ergangen ist, die
kein schriftliches Testament hinterließen, kann sich nun jeder einen Sharon frei auf seine Weise
vorstellen. Die Linken, die noch gestern Sharon als den Schlächter von Kibiya, den Mörder von Sabra
und Shatila verfluchten und als den Mann, der für den Raub und das Gemetzel in den besetzten Gebieten
verantwortlich ist, begannen, ihn als den «Mann des Friedens» zu bewundern. Siedler, die ihn als
Verräter verurteilten, erinnerten sich daran, dass er es war, der die Siedlungen schuf und sie bis auf den
heutigen Tag erweitern ließ.
Erst gestern war er einer von den am meisten
gehassten Leuten in Israel und der Welt. Heute, nach der Evakuierung von Gush Kativ, ist er zum Liebling der
Öffentlichkeit geworden. Die Führer der Nationen erhoben ihn zum «großen Krieger, der ein
Held des Friedens wurde». Jeder stimmt darin überein, dass sich Sharon völlig verändert
habe, dass er von einem Extrem ins andere geraten sei; der sprichwörtliche Äthiopier, der seine
Hautfarbe, der Leopard, der seine Flecken veränderte.
All diese Analysen haben eines gemeinsam: sie haben nichts mit dem wirklichen Ariel Sharon zu tun. Sie
gründen sich auf Ignoranz, Illusion und Selbsttäuschung. Ein Blick auf seine lange Karriere (und ich
kann hinzufügen, meine eigene Erfahrung mit ihm) zeigt, dass er sich nicht verändert hat. Er blieb
seinem Grundkonzept treu, glich nur seine Slogans veränderten Zeiten und Umständen an. Sein
Gesamtplan blieb das, was er von Anfang an war.
Seinem Konzept lag ein primitiver Nationalismus
des 19.Jahrhunderts zugrunde, der besagt: unser Volk steht über allen anderen andere Völker
sind minderwertig. Die Rechte unseres Volkes sind heilig andere Nationen haben überhaupt keine
Rechte. Die Regeln von Ethik und Moral gelten nur innerhalb der Nation nicht für die Beziehungen
zwischen Nationen.
Diese Überzeugung hat er mit der
Muttermilch eingesogen. Sie herrschte in Kfar Malal, dem genossenschaftlichen Ort, in dem er geboren wurde. Es
war die Überzeugung, wie sie zu jener Zeit auch in der ganzen Welt herrschte. Unter Juden wurde sie
besonders nach den Schrecken des Holocaust noch stärker. Der Slogan «Alle Welt ist gegen uns»
ist tief in der nationalen Seele verankert und gilt jetzt vor allem gegenüber den Arabern.
Aus dieser moralischen Grundansicht baute sich
das Ziel auf, den jüdischen Staat so groß wie möglich zu bauen und ohne Nichtjuden. Das konnte
zu dem Schluss führen, dass die ethnische Säuberung, die von Ben Gurion 1948 begonnen wurde, als die
Hälfte der Palästinenser ihr Heim und ihre Heimat verloren, vollendet werden müsse. Sharons
Karriere begann kurz danach, als er zum Kommandeur der Undercovereinheit 101 ernannt wurde, deren
mörderische Aktionen jenseits der Grenze dazu bestimmt waren, zu verhindern, dass Flüchtlinge in ihre
Dörfer zurückkehrten.
Sharon wurde ziemlich bald davon überzeugt, dass eine zweite ethnische Säuberung en masse jedoch
in voraussehbarer Zukunft nicht möglich sei (abgesehen von einigen nicht voraussehbaren internationalen
Geschehnissen, die die Lage im Ganzen verändern würden). Aus Mangel an einer solchen Möglichkeit
glaubte Sharon, dass Israel alle Gebiete ohne dichte palästinensische Bevölkerung zwischen dem
Mittelmeer und dem Jordan annektieren müsse. Schon vor Jahrzehnten bereitete er eine Karte (den sog.
Sharon-Plan) vor, die er stolz lokalen und ausländischen Persönlichkeiten zeigte, um sie von seinen
Ansichten zu überzeugen.
Nach dieser Karte wird Israel die Gebiete
entlang der 1967er Grenze annektieren und das Jordantal bis zum «Rücken der Bergkette» (ein von
Sharon besonders beliebter Ausdruck). Er würde auch einige West-Ost-Streifen Land annektieren, um das
Jordantal mit der Grünen Linie zu verbinden. In diesen Gebieten, die zur Annexion bestimmt sind, schaffte
Sharon ein dichtes Netz von Siedlungen. Das waren seine Hauptbemühungen während der letzten
dreißig Jahre in seinen verschiedenen Positionen als Minister für Landwirtschaft, Minister für
Industrie und Handel, als Verteidigungsminister, als Wohnungs- und Bauminister, als Minister für
Infrastruktur und als Ministerpräsident und diese Arbeit geht bis zu diesem Augenblick weiter.
Die Gebiete mit dichter palästinensischer
Bevölkerung beabsichtigte Sharon, der palästinensischen Selbstverwaltung zu überlassen. Er war
entschlossen, alle Siedlungen aus diesen zu entfernen, die dort unüberlegt errichtet wurden. Auf diese
Weise würden acht oder neun Enklaven entstehen, die von einander getrennt und von Siedlern und
Einrichtungen der israelischen Armee umgeben sind. Es wäre ihm gleichgültig, ob diese
«Palästinensischer Staat» genannt würden. Die Verwendung dieses Terminus ist ein Beispiel
seiner Fähigkeit, nach außen hin und verbal sich veränderten Situationen anzugleichen.
Der Gazastreifen ist eine dieser Enklaven. Das
ist der wirkliche Sinn der Auflösung der Siedlungen und des Rückzugs der israelischen Armee. Es ist
das erste Stadium der Verwirklichung der Karte: das kleine Gebiet mit einer dichten palästinensischen
Bevölkerung von einer und einer Viertelmillion wurde den Palästinensern übergeben. Die
israelischen Land-, See- und Luftkräfte umgeben den Streifen fast vollständig. Die pure Existenz
seiner Bewohner hängt zu allen Zeiten von der Gnade Israels ab, das die Ein- und Ausgänge
kontrolliert außer dem Rafah-Übergang nach Ägypten, der von Israel fernkontrolliert wird
und die Wasser und Stromzufuhr jeden Augenblick sperren kann. Sharon beabsichtigte, dieselbe Situation
in Hebron, Ramallah, Nablus, Jenin und anderswo zu schaffen.
Ist das ein «Friedensplan»? Frieden
wird zwischen Nationen gemacht, die darin übereinstimmen, eine Situation zu schaffen, in der alle in
Freiheit, Wohlergehen und gegenseitiger Achtung leben können und glauben, dass dies für alle gut sei.
Das hatte Sharon nicht im Sinn. Als Militär kannte er nur Waffenstillstand. Wenn ihm Frieden auf einem
Silbertablett angeboten worden wäre, hätte er ihn nicht erkannt.
Er weiß sehr genau, dass kein
palästinensischer Führer mit dieser Karte einverstanden sein kann weder jetzt noch
später. Deshalb beabsichtigte er nicht, irgendwelche politischen Verhandlungen mit den Palästinensern
zu führen. Sein Slogan war: «Wir haben keinen Partner.» Er beabsichtigte, all die verschiedenen
Stadien seines Planes «einseitig» zu realisieren, so wie er es mit Gaza tat ohne Dialog mit
den Palästinensern, ohne Rücksicht auf ihre Forderungen und Hoffnungen und natürlich ohne ihre
Zustimmung.
Aber Sharon wollte wirklich Frieden machen
Frieden mit den USA. Für ihn war der amerikanische Konsens wichtig. Er wusste, dass Washington
nicht mit seinem ganzen Plan einverstanden sein konnte. Deshalb wollte er ihr Einverständnis Schritt um
Schritt holen. Da sich Präsident Bush ihm ganz unterworfen hat und keiner weiß, wer ihm folgt, wollte
Sharon den Hauptteil seines Plans innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre, vor dem Ende von Bushs
Amtszeit durchgezogen haben. Das ist der Grund seiner Eile. Er musste jetzt sofort zu absoluter Macht kommen
nur der Schlaganfall verhinderte dies.
Der Eifer, mit dem so viele gute Leute der Linken das «Sharon-Vermächtnis» aufnehmen, zeigt
nicht, dass sie seinen Plan verstehen, sondern eher ihre eigene Sehnsucht nach Frieden. Sie verlangen mit all
ihren Fasern nach einem starken Führer, der den Willen und die Fähigkeit hat, den Konflikt zu
beenden.
Die Zielstrebigkeit, mit der Sharon die Siedler
aus Gush Kativ evakuiert hat, erfüllte die Linken mit Begeisterung. Wer hätte geglaubt, dass es einen
Führer gibt, der in der Lage ist, dies ohne Bürgerkrieg, ohne Blutvergießen auszuführen?
Und wenn dies im Gazastreifen geschehen ist, warum kann dies dann nicht auch im Westjordanland geschehen?
Sharon wird die Siedler hinaustreiben und dann Frieden machen. Und all dies, ohne dass die Linken einen Finger
rühren. Der Retter wird wie ein deus ex machina herunterspringen. Ein hebräisches Sprichwort besagt:
«Die Arbeit der Gerechten wird von den anderen gemacht», die womöglich alles andere als gerecht
sind.
Sharon hat sich leicht dem Verlangen der
Öffentlichkeit angepasst. Er hat seinen Plan nicht verändert, ihm aber einen neuen Anstrich gegeben,
den Geist der Zeit. Von jetzt an erschien er als «der Mann des Friedens». Er kümmerte sich nicht
darum, welche Maske gerade zu tragen passend war. Aber diese Maske reflektiert die tiefsten Wünsche der
Mehrheit des israelischen Volkes.
Von diesem Gesichtspunkt aus kann das
imaginäre «Sharon-Vermächtnis» eine positive Rolle spielen. Als er seine neue Partei
gründete, nahm er eine Menge Likudleute mit, und zwar diejenigen, die zu dem Schluss gekommen waren, dass
das Ziel, «das ganze Land Israel» zu erlangen, unmöglich sei. Viele von ihnen werden in der
Kadima-Partei bleiben, auch wenn Sharon die politische Bühne verlassen hat. Als Teil eines weitergehenden,
langsamen, unterirdischen Prozesses sind auch die Likudleute bereit, die Teilung des Landes zu akzeptieren. Das
ganze System bewegt sich langsam in Richtung Frieden.
Das «Sharon-Vermächtnis», selbst
wenn man es sich einbildet, könnte zum Segen werden, wenn Sharon darin in seiner letzten Inkarnation
erscheint: Sharon als derjenige, der die Siedlungen auflöste; als Sharon, der bereit war, Teile von Erez
Israel aufzugeben; als Sharon, der mit einem Palästinensischen Staat einverstanden ist.
Dies war zwar nicht Sharons Absicht. Aber wie
Sharon vielleicht selbst gesagt haben könnte: Es sind nicht die Absichten, die von Bedeutung sind, sondern
die realen Ergebnisse.
Uri Avnery
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
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