SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2006, Seite 15

Lateinamerika

Ende der neoliberalen Hegemonie?

Ein flüchtiger Blick auf die politische Landkarte Lateinamerikas ruft bei vielen Beobachtern Verwunderung, ja Erstaunen hervor. Im Gegensatz zur selten hinterfragten Vorherrschaft neoliberaler Politikkonzeptionen in anderen Weltregionen sind seit der Jahrtausendwende in Iberoamerika verschiedene Mitte-Links-Regierungen in Amt und Würden gekommen, die sich zumindest rhetorisch gegen neoliberale Politik aussprechen.

Die Regierungen Hugo Chávez in Venezuela (1998), Néstor Kirchner in Argentinien (2003), Luiz Inácio da Silva in Brasilien (2003), Tabaré Vázquez in Uruguay (2005) und Evo Morales in Bolivien (2006) sind Ausdruck eines Trendwechsels. Doch lassen sich bereits strukturelle sozioökonomische Veränderungen ausmachen, die über bloße Worte hinausgehen? Ist der Neoliberalismus tatsächlich am Ende? Die Positionen zu dieser Fragestellung klaffen weit auseinander.
Eine erste Strömung von Analytikern, deren renommiertester Vertreter im US-amerikanischen Lateinamerikaspezialisten James Petras zu finden ist, sieht in vielen der Regierungswechsel die Absicherung bürgerlicher Herrschaft. Ihr Argument: Gerade die Regierungen in Brasilien, in Argentinien und in Uruguay seien Vertreter einer neuen Rechten, der Austausch der verbrauchten Eliten durch ehemalige Aktivisten der sozialen Bewegungen diene einer Redynamisierung des Neoliberalismus. Fazit: Neue Gesichter, altes Programm.
Die in weiten Teilen der deutschen Linken äußert populäre Gegenposition verweist nicht zuletzt auf die vielfältigen Aktivitäten der sozialen Bewegungen auf dem Subkontinent. Von der brasilianischen Landlosenbewegung MST, der argentinischen Arbeitslosenbewegung (piqueteros), der bolivianischen Kokabauernbewegung (cocaleros) bis zu den Stadtteilbewegungen in Venezuela stellten diese dem neoliberalen Kapitalismus konkrete politische Alternativen gegenüber. Die veränderte Regierungspolitik sei daher nur als Folge der sozialen Mobilisierung zu verstehen und trage in Venezuela erste Früchte.

Was ist eigentlich Hegemonie?

Zur Klärung dieser Interpretationsunterschiede bedarf es einer tiefergehenden Analyse: Wie war es überhaupt möglich, dass sich neoliberale Politikmuster, d.h. Privatisierungen und Liberalisierungen des Außenhandels und der Finanzmärkte, Einschränkung des staatlichen Handlungsspielraums und eine restriktive Sparpolitik in dem Erdteil mit der höchsten sozialen Ungleichheit durchsetzen konnten?
Eine Hilfestellung beim Verständnis könnte das Hegemoniekonzept Antonio Gramscis bieten. Die Herrschaft der bürgerlichen Klasse und deren zentrale politische Grundausrichtung kommt Gramsci zufolge keineswegs nur durch Zwang zustande. Vielmehr zeichne sich Hegemonie, so der im italienischen Faschismus inhaftierte Kommunist Gramsci in seinen Gefängnisheften, «durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener Weise die Waage halten, ohne dass Zwang zu sehr über den Konsens überwiegt, sondern sogar im Gegenteil versucht wird zu erreichen, dass der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt scheint».
Eine feste Hegemonie äußert sich in stabilen Herrschaftskonstellationen. Über Jahrzehnte hinweg wird nach einem ähnlichen Modus gewirtschaftet, politisch gehandelt und argumentiert. Vergleichbare Klassenfraktionen sind führend im Block an der Macht. Die Beherrschten erhalten materielle und ideelle Zugeständnisse und hinterfragen diese Konstellation nicht oder empfinden diese zumindest als einen fairen Kompromiss. War also der Neoliberalismus in Lateinamerika in solch einer Form hegemonial, fand dieser eine breite Zustimmung in der Bevölkerung?

Vom Freihandel zur Importsubstitution

Werfen wir einen Blick in die Vergangenheit. Es lassen sich in Lateinamerika bestimmte Phasen hegemonialer Konstellationen ausmachen.
Von etwa 1870 bis 1929 existierte ein liberales Freihandelsmodell: das Import-Export-Regime. Dieser Zyklus zeichnetet sich durch einen massiven Exportboom, das politische Monopol der Landoligarchie, die britische Dominanz und eine absolute Hegemonie freihändlerisch-liberalen Denkens aus, das selbst die potenziellen Gegner des Regimes, die anarchosyndikalistische Arbeiterbewegung, prägte.
Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 und dem Zusammenbruch des Weltmarkts war bis etwa 1982 in den meisten Ländern Lateinamerikas ein neues (importsubstituierendes) Industrialisierungsmodell angesagt. Tiefe Veränderungen der Wirtschaftsweise und des sozialen Gefüges blieben unübersehbar. Nunmehr wurden hinter hohen Zollmauern große, durch staatliche Eingriffe gepflegte Industriekomplexe aufgebaut. Die USA lösten Großbritannien als Vormacht ab. In vielen Ländern, etwa dem peronistischen Argentinien (1946—1955), kam es zu populistischen Klassenkompromissen, die sich auf die wachsende Arbeiterklasse, die selbstbewusste binnenmarktorientierte Industriebourgeoisie und die staatlichen Eliten stützte. Der allgemein akzeptierte Basiskonsens für das Modell bestand in der nationalen Entwicklung.
Das Regime geriet jedoch schon in den späten 50er Jahren in vielen Ländern in die Krise. Der wachsende politische Widerstand der Linken ab den 60er Jahren wurde durch die Interventionen der Militärs oftmals im Blut erstickt. Neoliberalen Laborversuchen in Chile unter Augusto Pinochet (1973) sollte dann die Schuldenkrise (1982) folgen, die den Traum rasanter Entwicklung vorerst zunichte machte.

Vom Neoliberalismus zum ˇYa basta!

Hier ist der Beginn des Neoliberalismus in Lateinamerika zu sehen. Dieser war hauptsächlich die Folge eines politischen Strategiewechsels, der durch externe Veränderungen, vor allem die massive Außenverschuldung, aufgedrängt wurde. Die Veränderung der allgemeinen wirtschaftspolitischen Orientierung auf höchster Ebene wurde erst später propagandistisch, organisatorisch und politisch diffundiert.
Der Wechsel erleichterte die Erlangung neoliberaler Hegemonie, weil die vorangegangene wirtschaftspolitische Grundstrategie erschöpft und korrumpiert erschien. Gelegentlich war der Umbruch sogar mit diktatorischem Zwang wie in Argentinien oder Chile verwoben. Neoliberale Politik wurde häufig als Befreiung von bürokratisch-staatlichen Fesseln, von Korruption und Vetternwirtschaft verkauft. Dennoch kam es nie zu einer mythisch-affektiven Verklärung des Neoliberalismus. Die neue Wirtschaftsweise war nicht wirklich in den Köpfen und Herzen der Massen verankert. Viele Politiker wie Alberto Fujimori (1990—2000) gingen gar mit einem traditionell staatszentrierten Programm in den Wahlkampf, schlugen aber nach Beginn der Regierungstätigkeit einen entgegengesetzten Kurs ein. Die zeitweise aufflammenden Proteste gegen diese Missachtung des Wählerwillens legten sich bald.
Kurzum: angesichts der internen und externen Umstände und den Zeiträumen bei der Etablierung der neoliberalen Hegemonie in Lateinamerika kann nur von einer relativ oberflächlichen und teilweise künstlichen Hegemonie gesprochen werden. Sie war eben nicht längerfristig und tieferliegend angelegt und wurde kaum von zivilen, privaten Organisationen getragen. Diese Form von Hegemonie, die darin besteht, tendenziell systemfeindliche Modi der Bearbeitung von Widersprüchen von vornherein auszuschließen, dauerte in den meisten lateinamerikanischen Ländern nicht sehr lange, je nach Land 10—15 Jahre.
Im Schatten der neoliberalen Offensive in den frühen 90er Jahren bildeten sich meist vereinzelt und unbemerkt soziale Gegenkräfte heraus, etwa die Vorläufer der argentinischen Piquetero-Bewegung und der Landlosenbewegung MST. Weltweit bemerkbar wurde diese Entwicklung durch den Aufstand der mexikanischen Guerillabewegung der Zapatisten, die mit ihrem Aufstand 1994 dem Neoliberalismus ein lautes (Es reicht!) entgegenschmetterten. Die ökonomischen Krisenprozesse ab Ende der 90er Jahre verhalfen diesen Tendenzen zum Durchbruch. Die tiefe Finanz- und Währungskrise in Argentinien 2001/02 bildete dabei den vorläufigen Höhepunkt und trug symbolisch zur Diskreditierung des Neoliberalismus bei.
Doch trotz der eindeutigen Schwächung oder Krise der neoliberalen Hegemonie existieren auch heute Elemente der Kontinuität fort. Zwar scheint eine unübersehbare Schwächung des neoliberalen Impulses im Bereich der Kultur und des öffentlichen Bewusstseins vorzuherrschen, aber bislang wurden die Kernbereiche neoliberaler Wirtschaftspolitik kaum wirksam angegriffen. Die Außenöffnung der Ökonomien oder die Autonomie der Zentralbanken blieb meist unangetastet. Es geht somit (außer vielleicht in Venezuela) keineswegs um eine Revolution. Vielmehr scheint eine Reorganisation der bürgerlichen Hegemonie stattzufinden, deren konkrete Ausgestaltung noch offen ist. Nur zaghaft werden erste Wege getestet, veränderte (binnenmarktzentrierte) Wirtschaftsmodelle zu implementieren.

Drei Entwicklungspfade

Grundsätzlich sind im weiteren Verlauf drei verschiedene Entwicklungspfade denkbar:

♦  1. Ein Scheitern der Mitte-Links-Regierungen und die Rückkehr zu einem relativ unverblümten Neoliberalismus, nachdem die ökonomische Krisenperiode seit 2004 in Lateinamerika vorerst überwunden scheint. Allerdings existieren starke Gegenkräfte, die einen solchen Weg blockieren könnten.

♦  2. Die Durchsetzung eines Sozialliberalismus, und die Korrektur des neoliberalen Modells durch einzelne Ausgleichsmechanismen, wie es derzeit z.B. in Brasilien praktiziert wird.

♦  3. Die staatskapitalistische Transformation der Ökonomie und Etablierung eines kooperativen Wirtschaftsbereichs mit der Möglichkeit, neue Zugänge zu Ressourcen, Bildung und Gesundheitsversorgung für größere Teile der Bevölkerung des Landes zu schaffen. Diese Entwicklungsvariante würde in Zukunft weitergehende politische Transformationen möglich machen (Typus Venezuela).
Die Transformation wird von Land zu Land ein unterschiedliches Gesicht annehmen. Lateinamerika ist ein riesiges Labor, in dem die Suche nach Alternativen bereits begonnen hat. Alternativen, die in der Zukunft wertvoll für die politische Aktion in Europa sein könnten.

Stefan Schmalz

Zum Weiterlesen: Soeben im Hamburger VSA-Verlag erschienen ist der von unserem Autor (zusammen mit Dieter Boris und Anne Tittor) herausgegebene Sammelband Lateinamerika: Verfall neoliberaler Hegemonie?

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