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Ein flüchtiger Blick auf die politische Landkarte Lateinamerikas ruft
bei vielen Beobachtern Verwunderung, ja Erstaunen hervor. Im Gegensatz zur selten hinterfragten
Vorherrschaft neoliberaler Politikkonzeptionen in anderen Weltregionen sind seit der Jahrtausendwende in
Iberoamerika verschiedene Mitte-Links-Regierungen in Amt und Würden gekommen, die sich zumindest
rhetorisch gegen neoliberale Politik aussprechen.
Die Regierungen Hugo Chávez in Venezuela (1998), Néstor Kirchner in Argentinien (2003),
Luiz Inácio da Silva in Brasilien (2003), Tabaré Vázquez in Uruguay (2005) und Evo Morales
in Bolivien (2006) sind Ausdruck eines Trendwechsels. Doch lassen sich bereits strukturelle
sozioökonomische Veränderungen ausmachen, die über bloße Worte hinausgehen? Ist der
Neoliberalismus tatsächlich am Ende? Die Positionen zu dieser Fragestellung klaffen weit auseinander.
Eine erste Strömung von Analytikern,
deren renommiertester Vertreter im US-amerikanischen Lateinamerikaspezialisten James Petras zu finden ist,
sieht in vielen der Regierungswechsel die Absicherung bürgerlicher Herrschaft. Ihr Argument: Gerade
die Regierungen in Brasilien, in Argentinien und in Uruguay seien Vertreter einer neuen Rechten, der
Austausch der verbrauchten Eliten durch ehemalige Aktivisten der sozialen Bewegungen diene einer
Redynamisierung des Neoliberalismus. Fazit: Neue Gesichter, altes Programm.
Die in weiten Teilen der deutschen Linken
äußert populäre Gegenposition verweist nicht zuletzt auf die vielfältigen
Aktivitäten der sozialen Bewegungen auf dem Subkontinent. Von der brasilianischen Landlosenbewegung
MST, der argentinischen Arbeitslosenbewegung (piqueteros), der bolivianischen Kokabauernbewegung
(cocaleros) bis zu den Stadtteilbewegungen in Venezuela stellten diese dem neoliberalen Kapitalismus
konkrete politische Alternativen gegenüber. Die veränderte Regierungspolitik sei daher nur als
Folge der sozialen Mobilisierung zu verstehen und trage in Venezuela erste Früchte.
Zur Klärung dieser Interpretationsunterschiede bedarf es einer tiefergehenden Analyse: Wie war es
überhaupt möglich, dass sich neoliberale Politikmuster, d.h. Privatisierungen und
Liberalisierungen des Außenhandels und der Finanzmärkte, Einschränkung des staatlichen
Handlungsspielraums und eine restriktive Sparpolitik in dem Erdteil mit der höchsten sozialen
Ungleichheit durchsetzen konnten?
Eine Hilfestellung beim Verständnis
könnte das Hegemoniekonzept Antonio Gramscis bieten. Die Herrschaft der bürgerlichen Klasse und
deren zentrale politische Grundausrichtung kommt Gramsci zufolge keineswegs nur durch Zwang zustande.
Vielmehr zeichne sich Hegemonie, so der im italienischen Faschismus inhaftierte Kommunist Gramsci in seinen
Gefängnisheften, «durch die Kombination von Zwang und Konsens aus, die sich in verschiedener
Weise die Waage halten, ohne dass Zwang zu sehr über den Konsens überwiegt, sondern sogar im
Gegenteil versucht wird zu erreichen, dass der Zwang auf den Konsens der Mehrheit gestützt
scheint».
Eine feste Hegemonie äußert sich
in stabilen Herrschaftskonstellationen. Über Jahrzehnte hinweg wird nach einem ähnlichen Modus
gewirtschaftet, politisch gehandelt und argumentiert. Vergleichbare Klassenfraktionen sind führend im
Block an der Macht. Die Beherrschten erhalten materielle und ideelle Zugeständnisse und hinterfragen
diese Konstellation nicht oder empfinden diese zumindest als einen fairen Kompromiss. War also der
Neoliberalismus in Lateinamerika in solch einer Form hegemonial, fand dieser eine breite Zustimmung in der
Bevölkerung?
Werfen wir einen Blick in die Vergangenheit. Es lassen sich in Lateinamerika bestimmte Phasen
hegemonialer Konstellationen ausmachen.
Von etwa 1870 bis 1929 existierte ein
liberales Freihandelsmodell: das Import-Export-Regime. Dieser Zyklus zeichnetet sich durch einen massiven
Exportboom, das politische Monopol der Landoligarchie, die britische Dominanz und eine absolute Hegemonie
freihändlerisch-liberalen Denkens aus, das selbst die potenziellen Gegner des Regimes, die
anarchosyndikalistische Arbeiterbewegung, prägte.
Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 und dem
Zusammenbruch des Weltmarkts war bis etwa 1982 in den meisten Ländern Lateinamerikas ein neues
(importsubstituierendes) Industrialisierungsmodell angesagt. Tiefe Veränderungen der Wirtschaftsweise
und des sozialen Gefüges blieben unübersehbar. Nunmehr wurden hinter hohen Zollmauern große,
durch staatliche Eingriffe gepflegte Industriekomplexe aufgebaut. Die USA lösten Großbritannien
als Vormacht ab. In vielen Ländern, etwa dem peronistischen Argentinien (19461955), kam es zu
populistischen Klassenkompromissen, die sich auf die wachsende Arbeiterklasse, die selbstbewusste
binnenmarktorientierte Industriebourgeoisie und die staatlichen Eliten stützte. Der allgemein
akzeptierte Basiskonsens für das Modell bestand in der nationalen Entwicklung.
Das Regime geriet jedoch schon in den
späten 50er Jahren in vielen Ländern in die Krise. Der wachsende politische Widerstand der Linken
ab den 60er Jahren wurde durch die Interventionen der Militärs oftmals im Blut erstickt. Neoliberalen
Laborversuchen in Chile unter Augusto Pinochet (1973) sollte dann die Schuldenkrise (1982) folgen, die den
Traum rasanter Entwicklung vorerst zunichte machte.
Hier ist der Beginn des Neoliberalismus in Lateinamerika zu sehen. Dieser war hauptsächlich die
Folge eines politischen Strategiewechsels, der durch externe Veränderungen, vor allem die massive
Außenverschuldung, aufgedrängt wurde. Die Veränderung der allgemeinen wirtschaftspolitischen
Orientierung auf höchster Ebene wurde erst später propagandistisch, organisatorisch und politisch
diffundiert.
Der Wechsel erleichterte die Erlangung
neoliberaler Hegemonie, weil die vorangegangene wirtschaftspolitische Grundstrategie erschöpft und
korrumpiert erschien. Gelegentlich war der Umbruch sogar mit diktatorischem Zwang wie in Argentinien oder
Chile verwoben. Neoliberale Politik wurde häufig als Befreiung von bürokratisch-staatlichen
Fesseln, von Korruption und Vetternwirtschaft verkauft. Dennoch kam es nie zu einer mythisch-affektiven
Verklärung des Neoliberalismus. Die neue Wirtschaftsweise war nicht wirklich in den Köpfen und
Herzen der Massen verankert. Viele Politiker wie Alberto Fujimori (19902000) gingen gar mit einem
traditionell staatszentrierten Programm in den Wahlkampf, schlugen aber nach Beginn der
Regierungstätigkeit einen entgegengesetzten Kurs ein. Die zeitweise aufflammenden Proteste gegen diese
Missachtung des Wählerwillens legten sich bald.
Kurzum: angesichts der internen und
externen Umstände und den Zeiträumen bei der Etablierung der neoliberalen Hegemonie in
Lateinamerika kann nur von einer relativ oberflächlichen und teilweise künstlichen Hegemonie
gesprochen werden. Sie war eben nicht längerfristig und tieferliegend angelegt und wurde kaum von
zivilen, privaten Organisationen getragen. Diese Form von Hegemonie, die darin besteht, tendenziell
systemfeindliche Modi der Bearbeitung von Widersprüchen von vornherein auszuschließen, dauerte in
den meisten lateinamerikanischen Ländern nicht sehr lange, je nach Land 1015 Jahre.
Im Schatten der neoliberalen Offensive in
den frühen 90er Jahren bildeten sich meist vereinzelt und unbemerkt soziale Gegenkräfte heraus,
etwa die Vorläufer der argentinischen Piquetero-Bewegung und der Landlosenbewegung MST. Weltweit
bemerkbar wurde diese Entwicklung durch den Aufstand der mexikanischen Guerillabewegung der Zapatisten, die
mit ihrem Aufstand 1994 dem Neoliberalismus ein lautes (Es reicht!) entgegenschmetterten. Die
ökonomischen Krisenprozesse ab Ende der 90er Jahre verhalfen diesen Tendenzen zum Durchbruch. Die
tiefe Finanz- und Währungskrise in Argentinien 2001/02 bildete dabei den vorläufigen
Höhepunkt und trug symbolisch zur Diskreditierung des Neoliberalismus bei.
Doch trotz der eindeutigen Schwächung
oder Krise der neoliberalen Hegemonie existieren auch heute Elemente der Kontinuität fort. Zwar
scheint eine unübersehbare Schwächung des neoliberalen Impulses im Bereich der Kultur und des
öffentlichen Bewusstseins vorzuherrschen, aber bislang wurden die Kernbereiche neoliberaler
Wirtschaftspolitik kaum wirksam angegriffen. Die Außenöffnung der Ökonomien oder die
Autonomie der Zentralbanken blieb meist unangetastet. Es geht somit (außer vielleicht in Venezuela)
keineswegs um eine Revolution. Vielmehr scheint eine Reorganisation der bürgerlichen Hegemonie
stattzufinden, deren konkrete Ausgestaltung noch offen ist. Nur zaghaft werden erste Wege getestet,
veränderte (binnenmarktzentrierte) Wirtschaftsmodelle zu implementieren.
Grundsätzlich sind im weiteren Verlauf drei verschiedene Entwicklungspfade denkbar:
♦ 1. Ein Scheitern der Mitte-Links-Regierungen und die Rückkehr
zu einem relativ unverblümten Neoliberalismus, nachdem die ökonomische Krisenperiode seit 2004 in
Lateinamerika vorerst überwunden scheint. Allerdings existieren starke Gegenkräfte, die einen
solchen Weg blockieren könnten.
♦ 2. Die Durchsetzung eines Sozialliberalismus, und die Korrektur des
neoliberalen Modells durch einzelne Ausgleichsmechanismen, wie es derzeit z.B. in Brasilien praktiziert
wird.
♦ 3. Die staatskapitalistische Transformation der Ökonomie und
Etablierung eines kooperativen Wirtschaftsbereichs mit der Möglichkeit, neue Zugänge zu
Ressourcen, Bildung und Gesundheitsversorgung für größere Teile der Bevölkerung des
Landes zu schaffen. Diese Entwicklungsvariante würde in Zukunft weitergehende politische
Transformationen möglich machen (Typus Venezuela).
Die Transformation wird von Land zu Land
ein unterschiedliches Gesicht annehmen. Lateinamerika ist ein riesiges Labor, in dem die Suche nach
Alternativen bereits begonnen hat. Alternativen, die in der Zukunft wertvoll für die politische Aktion
in Europa sein könnten.
Stefan Schmalz
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