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Mit politischer Absicht Geschichten (nach)erzählen, Geschichte
schreiben, Geschichte(n) konstruieren dabei Geschichtsschreibung aber nicht schlicht politisch
instrumentalisieren lassen? Ein schwieriges Unterfangen.
Klar ist: Geschichte als das von der Gegenwart vermeintlich Geschiedene schreiben ist immer schon
politisch. Was von wem wann und wie erinnert wird, ist Teil einer chaotischen Politik des Kulturellen,
abhängig von politischen Konjunkturen und (mehr oder weniger bewussten) subjektiven und kollektiven
(Legitimations-) Bedürfnissen. Die politische Kraft der Geschichtsschreibung ist daher nicht erst seit
Orwells 1984 bekannt.
Über das Selbstverständnis einer
linken Geschichtsschreibung in Zeiten einer alternden Postmoderne sagt dies allerdings noch längst
nichts. Über die Perspektiven einer (einer?) solchen militanten kritischen, die bestehende
Gesellschaftsordnung demokratisch und sozial überwinden wollenden Geschichtsschreibung zu diskutieren
hat sich der Arbeitszusammenhang «Kritische Geschichte» (www.kritische-geschichte.de)
vorgenommen.
2002 gründete sich der Kreis, um verstreute Personen und Projekte ausfindig zu machen und
schließlich gemeinsame Arbeits- und Diskussionsforen zu schaffen. Zwei Tagungsbände liegen
mittlerweile vor. Beide Bände, Kritische Geschichte Perspektiven und Positionen (im Folgenden:
KG) sowie Vorwärts und viel vergessen Beiträge zur Geschichte und Geschichtsschreibung
neuer sozialer Bewegungen (im Folgenden: VVG), enthalten qualitativ höchst unterschiedliche
Beiträge. Beide versammeln neben geschichtstheoretischen und forschungsmethodologischen Aufsätzen
Einzelbeiträge zur Geschichte sozialer Bewegungen.
KG dokumentiert die erste aus dem
Arbeitskreis hervorgegangene Tagung «Making History», die im Oktober 2003 an der Universität
München stattfand. Dem tastenden Charakter der Tagung gemäß, wird ein breites thematisches
Spektrum abgedeckt. Es sollten tiefgehende und grundlegende Fragen verhandelt werden: «Wie kann eine
Geschichtswissenschaft aussehen, die nach demokratischen Alternativen zu den kapitalistischen Produktions-
und Lebensweisen fragt? Was sind ihre Themen? Welche Theorien und Methoden kann sie sich zu Nutze machen?
Wie kann geschichtspolitische Praxis mit diesen Zielen gestaltet werden?» Dementsprechend reichen die
Beiträge von «Leo Kofler und die Dialektik der Geschichte» (Christoph Jünke), über
die «Perspektiven der Sozialgeschichte» (Marcel van der Linden) bis hin zur Diskussion der
Möglichkeiten geschichtspolitischer Interventionen (Ralph Klein, Regina Mentner und Stephan Stracke).
Als Produkt der Folgetagung zur Geschichte
sozialer Bewegungen (Bremen 2004) versammelt Vorwärts und viel vergessen thematisch kohärentere
Beiträge. Die Neuen Sozialen Bewegungen (im Folgenden NSB) dienen allen Autoren als Gegenstände
und/oder Adressaten. Die im ersten Band verhandelten Fragen nach Theorie, Methode, Themen und
Möglichkeiten des Eingreifens tauchen jedoch wieder auf, gewissermaßen am Beispiel der NSB
konkretisiert. Sehr interessant sind die Aufsätze zu Problemen der Bewegungsgeschichtsschreibung. Dirk
Lange («Politische Alltagsgeschichte») bspw. entwickelt ein alltagsgeschichtliches
Forschungsmodell für die NSB und konzentriert sich dabei auf das Politische am Privaten. Sein
Interesse gilt der Subjektivität und Lebenserfahrung der Bewegungsaktiven. Der Bewegungsalltag sei die
«Schnittstelle, an welcher der … gesellschaftliche Austauschprozess zwischen objektiver
Bedingtheit und subjektiver Praxis stattfindet». Somit könnten die vorpolitischen Sinnstiftungen
analysiert werden, «diejenigen alltäglichen Praktiken und Sinngebungen der neuen sozialen
Bewegungen in den Blick» genommen werden, «die der politischen Institutionalisierung
vorausgehen.»
Darüber hinaus enthält VVG
Beiträge zu einzelnen Projekten der Bewegungsgeschichtsschreibung (z.B. Ilse Lenz und Brigitte
Schneider über die Neue Frauenbewegung und die soziale Bewegungsforschung) sowie zur Geschichte
einzelner Bewegungen (z.B. Gottfried Oy über die NSB und ihre Medienpolitik).
Eine in beiden Bänden verhandelte Frage ist, ob sich einer zu definierenden «herrschenden
Geschichtsschreibung» eine Geschichtsschreibung von «unten» entgegensetzen lässt.
Hieße dies dann, einer falschen hegemonialen eine objektivere linke Geschichtsschreibung vorzuhalten,
eine, die erzählt «wie es wirklich war»? Imma Harms («Der Zwang der
Geschichtsschreibung», in: VVG) warnt, Foucault und Benjamin bemühend, vor einer solchen
Alternative. Einer «wahren Erzählung» setzt sie die Pluralität der
Erzählperspektiven entgegen. Kritischer Geschichtsschreibung rät sie vielmehr zur Offenlegung des
eigenen Standpunktes. Geschichte schreiben müsste als ein offener kommunikativer Prozess verstanden
werden, der umso tragfähiger wird, je angreifbarer man selbst sich darin macht. Linke «Aneignung
von Geschichte hieße vor allem, bewusst einen subjektiven Standpunkt einzunehmen und den Widerspruch
zu suchen.»
Das Spannungsverhältnis zwischen
vermeintlich wissenschaftlicher Objektivität und subjektiver Parteilichkeit stellt Wolfgang Fritz Haug
ins Zentrum seines Beitrags «Parteilichkeit und Objektivität» (in: KG). Von der eigenen
Partikularität, der eigenen Verwobenheit in die Verhältnisse, und damit der Parteilichkeit geht
auch er aus. Einem unvermittelten Nebeneinander von Meinungen, subjektiven Zugängen usw. zieht er
jedoch eine als Intersubjektivität verstandene anzustrebende Objektivität vor. Diese bedarf des
Streits, der Diskussion, «der Widerspruchskunst, um der Parteilichkeit Objektivität und diese
dank jener zu gewinnen».
Ein derartiges Herangehen ebnet den Weg für eine «andere Geschichtsschreibung», wie sie
Walter Benjamin in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen zur Aufgabe des historischen Materialisten
machte. Die Geschichte kann gegen den Strich gebürstet werden, einer Geschichte aus Sicht der Sieger
die Erzählung des Anderen, der Hoffnung, der Klassenherrschaft, der Unterdrückung und Ausbeutung
entgegengesetzt werden. Schließlich ist die Geschichte Gegenstand der Konstruktionsarbeit. Diese aber
erfolgt nicht apolitisch sondern im von Herrschaftsverhältnissen durchzogenen sozialen Raum: «Die
Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der
Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse
kommandiert.»
Gegen diesen Konformismus der
Geschichtsschreibung aufzubegehren bleibt Aufgabe kritischer Geschichte. Dass sie dies zu leisten vermag,
wird in beiden Bänden bewiesen. Außerordentlich informativ sind in dieser Hinsicht Serhart
Karakayalis Aufsatz zu migrantischen Kämpfen in der Geschichte der Bundesrepublik (in: VVG), Peter
Birkes «Bizarre Autonomie: Turmuhren, Stoppuhren und Fabrikarbeit in Dänemark bis ca. 1973»
und Anton Tantners Beitrag zu Ansätzen eines militärischen Wohlfahrtsstaats in der
Habsburgermonarchie (beide in: KG).
Das per se politische Wesen und auch der
konstruktive Charakter der Geschichtsschreibung werden von der Mehrzahl der Autoren in diesem weiten Sinne
anerkannt und in die eigenen Überlegungen einbezogen. Für Bernd Hüttner beispielsweise (in:
KG) wird Geschichte «erfunden und nicht gefunden, und gerade diese Sichtweise der eigene Arbeit
begründet die besonders hohe Verantwortlichkeit der (postmodernen) bewegungsnahen militanten
HistorikerInnen. Sie müssen sich Gedanken über ihre Zielsetzung, die Methoden und die Relevanz
ihrer Aktivitäten machen.» Dies liefert neuen Zündstoff für die weitere Arbeit. Wie
lässt sich das Verhältnis zwischen kritischer Geschichtsschreibung und Bewegung denken? Wie auch
immer die Frage beantwortet werden mag, eine einfache Funktionalisierung der Geschichtsschreibung für
politische Zwecke darf es nicht geben.
Insgesamt regen beide Bände zur
Diskussion an und tragen damit zur Selbstverständigung einer militanten Geschichtsschreibung bei.
Sicherlich ist damit erst der Anfang gemacht, die thematische Spannbreite der Beiträge macht deutlich,
wie groß der Diskussionsbedarf und wie weit das (un-)erschlossene Arbeitsfeld ist (weswegen ein Blick
auf die Texte und Diskussionen der besagten homepage immer lohnt). Darin liegt, über die Qualität
einzelner Beiträge hinaus, die Stärke beider Bücher.
Thomas Goes
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