SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2006, Seite 20

Geschichtsschreibung als Politik des Kulturellen

Vorwärts und nichts vergessen?

Mit politischer Absicht Geschichten (nach)erzählen, Geschichte schreiben, Geschichte(n) konstruieren — dabei Geschichtsschreibung aber nicht schlicht politisch instrumentalisieren lassen? Ein schwieriges Unterfangen.

Klar ist: Geschichte als das von der Gegenwart vermeintlich Geschiedene schreiben ist immer schon politisch. Was von wem wann und wie erinnert wird, ist Teil einer chaotischen Politik des Kulturellen, abhängig von politischen Konjunkturen und (mehr oder weniger bewussten) subjektiven und kollektiven (Legitimations-) Bedürfnissen. Die politische Kraft der Geschichtsschreibung ist daher nicht erst seit Orwells 1984 bekannt.
Über das Selbstverständnis einer linken Geschichtsschreibung in Zeiten einer alternden Postmoderne sagt dies allerdings noch längst nichts. Über die Perspektiven einer (einer?) solchen militanten kritischen, die bestehende Gesellschaftsordnung demokratisch und sozial überwinden wollenden Geschichtsschreibung zu diskutieren hat sich der Arbeitszusammenhang «Kritische Geschichte» (www.kritische-geschichte.de) vorgenommen.

Von der Methodik zur Bewegung

2002 gründete sich der Kreis, um verstreute Personen und Projekte ausfindig zu machen und schließlich gemeinsame Arbeits- und Diskussionsforen zu schaffen. Zwei Tagungsbände liegen mittlerweile vor. Beide Bände, Kritische Geschichte — Perspektiven und Positionen (im Folgenden: KG) sowie Vorwärts und viel vergessen — Beiträge zur Geschichte und Geschichtsschreibung neuer sozialer Bewegungen (im Folgenden: VVG), enthalten qualitativ höchst unterschiedliche Beiträge. Beide versammeln neben geschichtstheoretischen und forschungsmethodologischen Aufsätzen Einzelbeiträge zur Geschichte sozialer Bewegungen.
KG dokumentiert die erste aus dem Arbeitskreis hervorgegangene Tagung «Making History», die im Oktober 2003 an der Universität München stattfand. Dem tastenden Charakter der Tagung gemäß, wird ein breites thematisches Spektrum abgedeckt. Es sollten tiefgehende und grundlegende Fragen verhandelt werden: «Wie kann eine Geschichtswissenschaft aussehen, die nach demokratischen Alternativen zu den kapitalistischen Produktions- und Lebensweisen fragt? Was sind ihre Themen? Welche Theorien und Methoden kann sie sich zu Nutze machen? Wie kann geschichtspolitische Praxis mit diesen Zielen gestaltet werden?» Dementsprechend reichen die Beiträge von «Leo Kofler und die Dialektik der Geschichte» (Christoph Jünke), über die «Perspektiven der Sozialgeschichte» (Marcel van der Linden) bis hin zur Diskussion der Möglichkeiten geschichtspolitischer Interventionen (Ralph Klein, Regina Mentner und Stephan Stracke).
Als Produkt der Folgetagung zur Geschichte sozialer Bewegungen (Bremen 2004) versammelt Vorwärts und viel vergessen thematisch kohärentere Beiträge. Die Neuen Sozialen Bewegungen (im Folgenden NSB) dienen allen Autoren als Gegenstände und/oder Adressaten. Die im ersten Band verhandelten Fragen nach Theorie, Methode, Themen und Möglichkeiten des Eingreifens tauchen jedoch wieder auf, gewissermaßen am Beispiel der NSB konkretisiert. Sehr interessant sind die Aufsätze zu Problemen der Bewegungsgeschichtsschreibung. Dirk Lange («Politische Alltagsgeschichte») bspw. entwickelt ein alltagsgeschichtliches Forschungsmodell für die NSB und konzentriert sich dabei auf das Politische am Privaten. Sein Interesse gilt der Subjektivität und Lebenserfahrung der Bewegungsaktiven. Der Bewegungsalltag sei die «Schnittstelle, an welcher der … gesellschaftliche Austauschprozess zwischen objektiver Bedingtheit und subjektiver Praxis stattfindet». Somit könnten die vorpolitischen Sinnstiftungen analysiert werden, «diejenigen alltäglichen Praktiken und Sinngebungen der neuen sozialen Bewegungen in den Blick» genommen werden, «die der politischen Institutionalisierung vorausgehen.»
Darüber hinaus enthält VVG Beiträge zu einzelnen Projekten der Bewegungsgeschichtsschreibung (z.B. Ilse Lenz und Brigitte Schneider über die Neue Frauenbewegung und die soziale Bewegungsforschung) sowie zur Geschichte einzelner Bewegungen (z.B. Gottfried Oy über die NSB und ihre Medienpolitik).

Objektivität und Parteilichkeit

Eine in beiden Bänden verhandelte Frage ist, ob sich einer zu definierenden «herrschenden Geschichtsschreibung» eine Geschichtsschreibung von «unten» entgegensetzen lässt. Hieße dies dann, einer falschen hegemonialen eine objektivere linke Geschichtsschreibung vorzuhalten, eine, die erzählt «wie es wirklich war»? Imma Harms («Der Zwang der Geschichtsschreibung», in: VVG) warnt, Foucault und Benjamin bemühend, vor einer solchen Alternative. Einer «wahren Erzählung» setzt sie die Pluralität der Erzählperspektiven entgegen. Kritischer Geschichtsschreibung rät sie vielmehr zur Offenlegung des eigenen Standpunktes. Geschichte schreiben müsste als ein offener kommunikativer Prozess verstanden werden, der umso tragfähiger wird, je angreifbarer man selbst sich darin macht. Linke «Aneignung von Geschichte hieße vor allem, bewusst einen subjektiven Standpunkt einzunehmen und den Widerspruch zu suchen.»
Das Spannungsverhältnis zwischen vermeintlich wissenschaftlicher Objektivität und subjektiver Parteilichkeit stellt Wolfgang Fritz Haug ins Zentrum seines Beitrags «Parteilichkeit und Objektivität» (in: KG). Von der eigenen Partikularität, der eigenen Verwobenheit in die Verhältnisse, und damit der Parteilichkeit geht auch er aus. Einem unvermittelten Nebeneinander von Meinungen, subjektiven Zugängen usw. zieht er jedoch eine als Intersubjektivität verstandene anzustrebende Objektivität vor. Diese bedarf des Streits, der Diskussion, «der Widerspruchskunst, um der Parteilichkeit Objektivität und diese dank jener zu gewinnen».

Geschichte finden oder erfinden

Ein derartiges Herangehen ebnet den Weg für eine «andere Geschichtsschreibung», wie sie Walter Benjamin in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen zur Aufgabe des historischen Materialisten machte. Die Geschichte kann gegen den Strich gebürstet werden, einer Geschichte aus Sicht der Sieger die Erzählung des Anderen, der Hoffnung, der Klassenherrschaft, der Unterdrückung und Ausbeutung entgegengesetzt werden. Schließlich ist die Geschichte Gegenstand der Konstruktionsarbeit. Diese aber erfolgt nicht apolitisch sondern im von Herrschaftsverhältnissen durchzogenen sozialen Raum: «Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert.»
Gegen diesen Konformismus der Geschichtsschreibung aufzubegehren bleibt Aufgabe kritischer Geschichte. Dass sie dies zu leisten vermag, wird in beiden Bänden bewiesen. Außerordentlich informativ sind in dieser Hinsicht Serhart Karakayalis Aufsatz zu migrantischen Kämpfen in der Geschichte der Bundesrepublik (in: VVG), Peter Birkes «Bizarre Autonomie: Turmuhren, Stoppuhren und Fabrikarbeit in Dänemark bis ca. 1973» und Anton Tantners Beitrag zu Ansätzen eines militärischen Wohlfahrtsstaats in der Habsburgermonarchie (beide in: KG).
Das per se politische Wesen und auch der konstruktive Charakter der Geschichtsschreibung werden von der Mehrzahl der Autoren in diesem weiten Sinne anerkannt und in die eigenen Überlegungen einbezogen. Für Bernd Hüttner beispielsweise (in: KG) wird Geschichte «erfunden und nicht gefunden, und gerade diese Sichtweise der eigene Arbeit begründet die besonders hohe Verantwortlichkeit der (postmodernen) bewegungsnahen militanten HistorikerInnen. Sie müssen sich Gedanken über ihre Zielsetzung, die Methoden und die Relevanz ihrer Aktivitäten machen.» Dies liefert neuen Zündstoff für die weitere Arbeit. Wie lässt sich das Verhältnis zwischen kritischer Geschichtsschreibung und Bewegung denken? Wie auch immer die Frage beantwortet werden mag, eine einfache Funktionalisierung der Geschichtsschreibung für politische Zwecke darf es nicht geben.
Insgesamt regen beide Bände zur Diskussion an und tragen damit zur Selbstverständigung einer militanten Geschichtsschreibung bei. Sicherlich ist damit erst der Anfang gemacht, die thematische Spannbreite der Beiträge macht deutlich, wie groß der Diskussionsbedarf und wie weit das (un-)erschlossene Arbeitsfeld ist (weswegen ein Blick auf die Texte und Diskussionen der besagten homepage immer lohnt). Darin liegt, über die Qualität einzelner Beiträge hinaus, die Stärke beider Bücher.

Thomas Goes

Kritische Geschichte. Perspektiven und Positionen (Hg. R.Heigl/P.Ziegler/P.Bauer), Leipzig: Universitätsverlag, 2005, 215 Seiten, 28 Euro

Vorwärts und viel vergessen. Beiträge zur Geschichte und Geschichtsschreibung neuer sozialer Bewegungen (Hg. B.Hüttner/G.Oy/N.Schepers), Neu-Ulm: AG SPAK, 2005, 176 Seiten, 11 Euro





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