SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2006, Seite 21

Gesellschaft mit begrenzter Haftung. (Hg.F.Schultheis/K.Schulz), Konstanz: UVK, 2005, 29 Euro

Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag

Im vergangenen Jahr legte eine Gruppe von 30 Forscherinnen und Forschern aus unterschiedlichen Regionen Deutschlands eine ungewöhnliche Arbeit vor. Es handelt sich um den Versuch, den Forschungsansatz von Pierre Bourdieu auf die deutschen Verhältnisse zu übertragen. Dessen Studie Das Elend der Welt hatte Anfang der 90er Jahre in der internationalen Öffentlichkeit viel Aufsehen erregt.
Sie beschrieb die tiefgreifenden, negativen gesellschaftlichen Veränderungen, die der neoliberale Umbau der Gesellschaft in Frankreich seit den 80er Jahren mit sich gebracht hatte und stellte einen ersten öffentlichen Bruch mit dem neoliberalen Einheitsdenken dar: Wissenschaftler ließen sich nicht mehr vor den Karren spannen, dass radikale Marktkonkurrenz der Mehrheit der Bevölkerung einen Weg zu Wohlstand und Glück weist. Bourdieus Wissenschaftsansatz vermochte erstmals wieder wissenschaftliche Objektivität mit politischem Engagement auf fruchtbare Weise zu verbinden.
Im Verlauf der 90er Jahre hat Bourdieu in Deutschland unter jungen Akademikern Schülerinnen und Schüler gefunden. Im deutschen Wissenschaftsbetrieb, der nicht nur ideologisch am liberalen Mainstream ausgerichtet, sondern auch voll in die Mühlen der Orientierung an einzelwirtschaftlichen Konkurrenzkriterien geraten ist, erfährt ein solcher Ansatz längst nicht die gesellschaftliche Anerkennung, die ihm in Frankreich zuteil wurde — damals maßgeblich getragen von den sozialen Unruhen im Winter 1995/96. Umso wichtiger ist eine möglichst breite Rezeption der Ergebnisse und Erkenntnisse, die diese «neue Soziologie» ermöglicht.
Die Studie ist nicht nur wissenschaftlich fundiert, sie ist auch noch höchst unterhaltsam zu lesen — abstrahiert man einmal vom Inhalt, der einem da entgegen schlägt. Sie arbeitet mit verschiedenen Methoden: Sie analysiert makrosoziologisch die Ist-Zustände und Veränderungen, die es in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft um die Jahrtausendwende gibt.
Fünf Bereiche werden auf diese Weise einer genaueren Untersuchung unterzogen: der Wandel der Erwerbsarbeit — unter dem Druck anhaltender und steigender Massenarbeitslosigkeit, Deregulierung des Arbeitsrechts, Expansion des Dienstleistungssektors, Zunahme prekärer Erwerbsbiografien und existenzieller Unsicherheit; der Umbruch in Ostdeutschland — wiederum an Hand der veränderten Zutrittsbedingungen zum Erwerbsleben; Familie und Bildung — die Teilung der Gesellschaft nach sozialen Klassen und Milieus und nach dem Geschlecht; die Produktion von Kultur und damit Sinnstiftung — Laboratorium nicht nur neuer Lebensformen, sondern auch neuer gesellschaftlicher Fragen und Widersprüche; und schließlich die Existenzen am Rande der Gesellschaft — auf dem Land, als Asylbewerber, Arbeitsnomade, Alte, Behinderte…
Einleitende Kapitel fassen die soziologischen Erkenntnisse zum gesellschaftlichen Wandel in diesen Bereichen zusammen und formulieren zugleich Fragestellungen, die als Einführung in die nachfolgenden Interviews dienen. Für jeden Bereich wurden eine Fülle von Interviews erstellt (und aus einer noch größeren Fülle ausgewählt), die den Vorzug haben, dass sie die Interviewpartner ausführlich und ohne allzu große Eingriffe in ihren realen Redefluss zu Wort kommen lassen. Dennoch sind sie nicht ermüdend, eine geschickte Redaktion durch die Fragenden schafft es, die Fülle der angesprochenen Lebenswirklichkeiten herauszuarbeiten und zugleich ihren exemplarischen Charakter für bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen hervorzuheben.
So entsteht eine «Anamnese» der Leiden der Gesellschaft, ein Panoptikum der Zustände in unserm Land, das eine krasse Gegenaufnahme zu den Talkshow-Verhältnissen bildet, welche Fernsehsender allabendlich vermitteln.
Für den und die politisch Aktive ist diese Art Bestandsaufnahme höchst nützlich. Der Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ist ungeschminkt — also auch ungetrübt von der «rosa Brille», die eine sympathetische Darstellung oft impliziert.
Da wird nichts beschönigt, keine Widersprüche in den Aussagen gerade gebogen, keine unangenehmen Sichtweisen oder Positionen herausgefiltert — die Interviewpartner treten mit allen ihren positiven und negativen Seiten auf.
Es ist Alltagsbewusstsein, was hier zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung erhoben wurde, aber eben «erhoben», nicht eine ungewichtete Einzelmeinung und nicht auf das Niveau eines Stammtischgesprächs nivellierbar.
In dieser Erhebung des Alltagsbewusstseins zum Bestandteil einer wissenschaftlichen Aussage liegt die eigentliche Forschungsarbeit versteckt: die wissenschaftstheoretischen und methodischen Vorüberlegungen, die Bereitung des Terrains, auf dem solch ein Interview erst die ganze Fülle seiner Informationen entfalten kann, das ist zum großen Teil unsichtbare Arbeit. Es ist wie bei einer guten Tanzaufführung. einem gelungenen Zauberstück oder einem leichtathletischen Turnier: Je mehr Arbeit reingesteckt wurde, desto weniger sieht man davon.
Die gierige Leserin wird mit Sichtweisen konfrontiert, die in sich widersprüchlich und manchmal verstörend sind. Das Prinzip der Konkurrenz aller gegen alle hat in der Arbeitswelt voll durchgeschlagen, die hier zu Wort kommen, sehen sich mit ihren Problemen überwiegend allein. Das aufzubrechen und neue Formen der Solidarität zu entwickeln, wird noch eine harte Nuss werden.

Angela Klein

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