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Im vergangenen Jahr legte eine Gruppe von 30 Forscherinnen und Forschern aus
unterschiedlichen Regionen Deutschlands eine ungewöhnliche Arbeit vor. Es handelt sich um den Versuch,
den Forschungsansatz von Pierre Bourdieu auf die deutschen Verhältnisse zu übertragen. Dessen
Studie Das Elend der Welt hatte Anfang der 90er Jahre in der internationalen Öffentlichkeit viel
Aufsehen erregt.
Sie beschrieb die tiefgreifenden, negativen
gesellschaftlichen Veränderungen, die der neoliberale Umbau der Gesellschaft in Frankreich seit den
80er Jahren mit sich gebracht hatte und stellte einen ersten öffentlichen Bruch mit dem neoliberalen
Einheitsdenken dar: Wissenschaftler ließen sich nicht mehr vor den Karren spannen, dass radikale
Marktkonkurrenz der Mehrheit der Bevölkerung einen Weg zu Wohlstand und Glück weist. Bourdieus
Wissenschaftsansatz vermochte erstmals wieder wissenschaftliche Objektivität mit politischem
Engagement auf fruchtbare Weise zu verbinden.
Im Verlauf der 90er Jahre hat Bourdieu in
Deutschland unter jungen Akademikern Schülerinnen und Schüler gefunden. Im deutschen
Wissenschaftsbetrieb, der nicht nur ideologisch am liberalen Mainstream ausgerichtet, sondern auch voll in
die Mühlen der Orientierung an einzelwirtschaftlichen Konkurrenzkriterien geraten ist, erfährt
ein solcher Ansatz längst nicht die gesellschaftliche Anerkennung, die ihm in Frankreich zuteil wurde
damals maßgeblich getragen von den sozialen Unruhen im Winter 1995/96. Umso wichtiger ist eine
möglichst breite Rezeption der Ergebnisse und Erkenntnisse, die diese «neue Soziologie»
ermöglicht.
Die Studie ist nicht nur wissenschaftlich
fundiert, sie ist auch noch höchst unterhaltsam zu lesen abstrahiert man einmal vom Inhalt, der
einem da entgegen schlägt. Sie arbeitet mit verschiedenen Methoden: Sie analysiert makrosoziologisch
die Ist-Zustände und Veränderungen, die es in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft um die
Jahrtausendwende gibt.
Fünf Bereiche werden auf diese Weise
einer genaueren Untersuchung unterzogen: der Wandel der Erwerbsarbeit unter dem Druck anhaltender
und steigender Massenarbeitslosigkeit, Deregulierung des Arbeitsrechts, Expansion des
Dienstleistungssektors, Zunahme prekärer Erwerbsbiografien und existenzieller Unsicherheit; der
Umbruch in Ostdeutschland wiederum an Hand der veränderten Zutrittsbedingungen zum
Erwerbsleben; Familie und Bildung die Teilung der Gesellschaft nach sozialen Klassen und Milieus und
nach dem Geschlecht; die Produktion von Kultur und damit Sinnstiftung Laboratorium nicht nur neuer
Lebensformen, sondern auch neuer gesellschaftlicher Fragen und Widersprüche; und schließlich die
Existenzen am Rande der Gesellschaft auf dem Land, als Asylbewerber, Arbeitsnomade, Alte,
Behinderte…
Einleitende Kapitel fassen die
soziologischen Erkenntnisse zum gesellschaftlichen Wandel in diesen Bereichen zusammen und formulieren
zugleich Fragestellungen, die als Einführung in die nachfolgenden Interviews dienen. Für jeden
Bereich wurden eine Fülle von Interviews erstellt (und aus einer noch größeren Fülle
ausgewählt), die den Vorzug haben, dass sie die Interviewpartner ausführlich und ohne allzu
große Eingriffe in ihren realen Redefluss zu Wort kommen lassen. Dennoch sind sie nicht ermüdend,
eine geschickte Redaktion durch die Fragenden schafft es, die Fülle der angesprochenen
Lebenswirklichkeiten herauszuarbeiten und zugleich ihren exemplarischen Charakter für bestimmte
gesellschaftliche Entwicklungen hervorzuheben.
So entsteht eine «Anamnese» der
Leiden der Gesellschaft, ein Panoptikum der Zustände in unserm Land, das eine krasse Gegenaufnahme zu
den Talkshow-Verhältnissen bildet, welche Fernsehsender allabendlich vermitteln.
Für den und die politisch Aktive ist
diese Art Bestandsaufnahme höchst nützlich. Der Blick auf die gesellschaftlichen
Verhältnisse ist ungeschminkt also auch ungetrübt von der «rosa Brille», die
eine sympathetische Darstellung oft impliziert.
Da wird nichts beschönigt, keine
Widersprüche in den Aussagen gerade gebogen, keine unangenehmen Sichtweisen oder Positionen
herausgefiltert die Interviewpartner treten mit allen ihren positiven und negativen Seiten auf.
Es ist Alltagsbewusstsein, was hier zum
Gegenstand wissenschaftlicher Forschung erhoben wurde, aber eben «erhoben», nicht eine
ungewichtete Einzelmeinung und nicht auf das Niveau eines Stammtischgesprächs nivellierbar.
In dieser Erhebung des Alltagsbewusstseins
zum Bestandteil einer wissenschaftlichen Aussage liegt die eigentliche Forschungsarbeit versteckt: die
wissenschaftstheoretischen und methodischen Vorüberlegungen, die Bereitung des Terrains, auf dem solch
ein Interview erst die ganze Fülle seiner Informationen entfalten kann, das ist zum großen Teil
unsichtbare Arbeit. Es ist wie bei einer guten Tanzaufführung. einem gelungenen Zauberstück oder
einem leichtathletischen Turnier: Je mehr Arbeit reingesteckt wurde, desto weniger sieht man davon.
Die gierige Leserin wird mit Sichtweisen
konfrontiert, die in sich widersprüchlich und manchmal verstörend sind. Das Prinzip der
Konkurrenz aller gegen alle hat in der Arbeitswelt voll durchgeschlagen, die hier zu Wort kommen, sehen
sich mit ihren Problemen überwiegend allein. Das aufzubrechen und neue Formen der Solidarität zu
entwickeln, wird noch eine harte Nuss werden.
Angela Klein
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