SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2006, Seite

Der Kampf um die Arbeitszeit

Eine neue Vision braucht das Land

Das Märchen vom Wachstum, das Arbeitsplätze schafft, wird durch die erfahrbare Praxis wie durch die Wissenschaft widerlegt.

Eine neue Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Sozialforschung (IAB) bei der Bundesagentur für Arbeit, von der der Kölner Stadtanzeiger in seiner Ausgabe am 14./15.Januar 2006 berichtet, untersucht die Entwicklung der Beschäftigungsverhältnisse in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts und kommt zum Ergebnis, dass das in diesem Zeitraum erzielte durchschnittliche Wirtschaftswachstum von 1,4% nicht ausreicht, um unter dem Strich mehr Beschäftigung zu schaffen. Zwei Prozent müssten es mindestens sein. Überhaupt schätzt das Institut, dass die Konjunktur nur noch zu einem Drittel für Arbeitsplätze verantwortlich ist. Damit ist aber dem Credo aller Regierungen und Wirtschaftsweisen der Boden entzogen, die Arbeitslosigkeit könne durch Steigerung des Bruttosozialprodukts bekämpft werden.
Der Anstieg der Produktivität müsste eine Gesellschaft reich machen — sollte man meinen. Wenn man weniger Zeit aufwenden muss, um die Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs herzustellen, hat man mehr Zeit für anderes. Auch logisch. Im Kapitalismus gilt diese Logik aber nicht, weil für den Markt statt für die Befriedigung der Bedürfnisse produziert wird. Da gibt es den unaufhörlichen Zwang, Waren produzieren zu müssen, um sie zu verkaufen — selbst um den Preis, dass die Käufer im Ausland sitzen und wegen der westlichen Exporte einheimische Produktionen eingestellt werden müssen bzw. sich gar nicht erst entwickeln können. Für solche Produktion kann die Arbeitszeit nicht ausgedehnt genug, der Lohn nicht niedrig genug sein.
Entsprechend haben sich die Arbeitsbedingungen verschlechtert. Die genannte Studie des IAB belegt seit 1991 einen Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Jobs von 30 auf 26,2 Millionen, die Vollzeitstellen gingen sogar um 5 Millionen zurück, 3,5 Millionen davon wurden im produzierenden Gewerbe abgebaut. Dafür hat sich die geringfügige Beschäftigung mehr als verdoppelt, die Zahl der Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen stieg um ein Viertel.
Wir benötigen heute nur noch ein Viertel unseres gesamten Arbeitsvolumens, um all die uns notwendig erscheinenden Güter herzustellen (von denen wir beileibe nicht alle brauchen) — Tendenz sinkend. Wir müssen uns also überlegen, wie wir mit unserer potenziell überschüssigen Arbeitskapazität umgehen wollen. Die Regierung und die Wirtschaftsbosse fordern von uns, dass wir mehr arbeiten, zu unsichereren Bedingungen und schlechteren Löhnen, damit die Unternehmen mehr verkaufen, auf dem Weltmarkt Konkurrenten ausstechen und mehr Gewinne machen. Was hätten wir davon? Der Wettlauf um die schlechtesten Arbeitsbedingungen kann nur im allgemeinen Crash enden.
Wir könnten aber auch eine gesamtgesellschaftliche Diskussion darüber beginnen, wie wir unseren Bedarf an Gütern und Dienstleistungen mit einem rationelleren Arbeitseinsatz decken, die dazu notwendige Arbeit dementsprechend auf alle Schultern verteilen und die überschüssige Zeit — und das wird viel sein — dazu verwenden, unser soziales Umfeld zu pflegen, uns weiter zu qualifizieren und aktiv an der gesellschaftlichen Willensbildung teilzunehmen.
Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik und der Produktivkräfte im Allgemeinen hat zweifellos einen Stand erreicht, wo sie nur noch durch allseitig qualifizierte und kreativ tätige Menschen beherrscht werden können. Mit einer breiten Masse verordneten Stumpfsinns und einer kleinen hochgezüchteten Elite werden wir den produktiven Fortschritt, den wir brauchen, um eine umweltverträgliche Lebensweise zu entwickeln, nicht schaffen. Das Postulat «Arbeit möglichst billig, zu möglichst schlechten Bedingungen» aber führt uns zurück ins 19.Jahrhundert.
Wir schreiben nicht mehr das Jahr 1985. Von der Losung «Mehr Zeit zum Leben und Lieben» sind wir heute weit entfernt. Während Politik und Wirtschaft aus allen Kanälen das neoliberale Menschenbild predigen, in dem Gesellschaft nur noch aus gegeneinander konkurrierenden Individuen besteht, halten die Gewerkschaften das Terrain der Arbeitszeit seit langem nicht mehr besetzt, aus Ohnmacht, Fantasielosigkeit, auch Anpassung an die neuen Verhältnisse. Mit dem Abwehrkampf von Ver.di ist keine alternative Vision verbunden, die über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus die Bevölkerung mobilisieren könnte. Umfragen über die Popularität des Streiks sind in diesen Tagen mit den disparatesten Ergebnissen zu haben — je nach politischer Opportunität und Auftraggeber. Aber dass die Propaganda der Gegenseite immer noch verfängt, wird niemand bestreiten.
Wenn wir den Kampf um die Arbeitszeit gewinnen wollen, müssen wir ihn als einen langfristigen und gesamtgesellschaftlichen anlegen. Ver.di hat wichtige Weichenstellungen in dieser Richtung zweifellos verpasst — durch den Abschluss eines schlechten Tarifvertrags öffentlicher Dienst im vergangenen Jahr, aber auch durch das Versäumnis, dieses Thema mit Nachdruck auf das Sozialforum zu bringen und dort Mitstreiterinnen und Mitstreiter für einen gemeinsamen Kampf zu gewinnen. Aber was nicht ist, kann ja vielleicht noch werden.

Angela Klein

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