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Am 20.7.2005 legte eine Kommission des Bundesvorstands von Ver.di einen
Entwurf für Programm vor, das auf dem Bundeskongress im Herbst 2007 in Leipzig verabschiedet werden
soll.
Sechsundfünfzig Seiten stark ist das Papier der Programmkommission, aber man meint, es schon
einmal gelesen zu haben. Die Art von Illusionen in die kapitalistische Gesellschaft, die hier verbreitet
wird, findet sich auch im DGB-Programm wieder. Nach dem Zusammenbruch der nichtkapitalistischen Staaten des
Warschauer Pakts ist offensichtlich auch den Führungen der DGB-Gewerkschaften jede Fantasie über
eine Alternative zum Kapitalismus abhanden gekommen. In insgesamt fünf Kapiteln wird das Bild eines
sozialen und humanen Kapitalismus gezeichnet, der allenfalls in den 60er und 70er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts existierte, aber mit den heutigen Realitäten kaum in Übereinstimmung zu bringen ist.
Dazu müssten sich die Autoren mit den
Strategien der wichtigen Kapitalkreise auseinandersetzen, und Gegenstrategien entwickeln. Die sucht man in
diesem Entwurf aber leider vergebens. An einigen Passagen soll dies hier verdeutlicht werden mit der
Anregung, sich über Alternativen zu diesem Entwurf Gedanken zu machen.
Auf insgesamt sieben Seiten werden Vorstellungen über eine solidarische Gesellschaft zu Papier
gebracht. Dabei drängt sich die Frage auf, warum in diesem Text kein Wort zu den
Eigentumsverhältnissen zu finden ist. Es heißt: «Weil Teilhabechancen eng mit den
materiellen Möglichkeiten des einzelnen verbunden sind, treten wir für eine Politik ein, die auf
die Vermeidung von Armut und die gerechte Verteilung von Einkommen zielt.» Zur Verteilung von Reichtum
steht aber kein Wort der erste Hinweis darauf, das Ver.di sich der gesellschaftlichen
Auseinandersetzung nicht stellen will. Die Formulierung positiver gesellschaftlicher Ziele ohne Benennung
der negativen gesellschaftlichen Realität wird uns nicht weiter bringen.
Erst durch bewusste Umverteilung sowohl
unter der Regierung Kohl wie unter der Regierung Schröder ist es ja zu dem erheblichen Anstieg von
Armut gekommen. Dabei reden wir noch gar nicht darüber, wie die Verhältnisse europaweit oder
weltweit aussehen. Die Anzahl von Kindern, die in Deutschland in Armut leben, ist seit der Einführung
von Hartz IV um 60% gestiegen!
Wenn der Entwurf aber feststellt, dass sich
durch die europäische Integration die Unterschiede im Niveau der Wohlfahrt in den EU-Mitgliedstaaten
verringert haben, muss man sich ernstlich fragen, ob hier eine Wahrnehmungsstörung vorliegt. Ist
Ostdeutschland noch immer nicht Teil der EU? Sind die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn und die
baltischen Staaten Mitglieder der EU oder liegen diese Länder in Asien oder Afrika? Warum treten die
Autoren nicht für gleiche soziale Bedingungen zumindest in allen EU-Ländern ein? Reicht es aus
einzufordern, dass «für die Zukunft die soziale Dimension Europas im Prozess des Zusammenwachsens
grösseres Gewicht» haben soll?
Der Entwurf hält fest, dass sich in
der Arbeitswelt dramatische Veränderungen vollziehen. Die werden positiv wie negativ beschrieben:
Einerseits gelingt es nicht, die unerträgliche hohe Arbeitslosigkeit zu verringern. Andererseits
eröffnen sich einem Teil der Beschäftigten neue Spielräume, die mehr Kreativität und
neue Lernmöglichkeiten ins Berufsleben bringen.
«Deshalb setzen wir uns dafür
ein, dass Arbeit human gestaltet wird, und wir kämpfen dafür, dass Wünschen nach einer
unbeschränkten Verfügbarkeit der Arbeitskraft Grenzen gesetzt werden.» Gute Arbeit soll
menschlich gestaltet werden das ist unser Ziel, wenn wir als Tarifpartner oder auf betrieblicher
Ebene auf die Arbeitsbedingungen einwirken, schreiben die Autoren. Doch die Unternehmer finden immer neue
Wege, um Tarifverträge zu unterlaufen. «Haltelinien oder Untergrenzen im weltweiten
Unterbietungswettbewerb sind nicht erkennbar, wenn es nicht gelingt, die Verbindlichkeit von
Flächentarifverträgen wieder zu sichern.»
Wenn dem so ist, so fragt man sich, warum
im öffentlichen Dienst eine neue Niedriglohngruppe vereinbart wurde, die 20% unter dem Niveau der
alten Einkommensgruppe liegt (früher 1570, jetzt 1280 Euro). Schließlich organisiert Ver.di nicht
die Beschäftigten der großen Exportindustrien, die unmittelbar der weltweiten Konkurrenz
ausgesetzt sind. Werden hier nicht falsche Begründungen verwendet, um von Fehlern abzulenken? Warum
wurden die Löhne der neuen Postzusteller gesenkt? Weil diese sich im weltweiten Wettbewerb befinden?
Oder weil die Post privatisiert wurde und sich die Deutsche Post AG anschickt, der weltweit grösste
Logistikkonzern zu werden? So wichtig es ist, die Verbindlichkeit der Tarifverträge zu sichern
die Ursachen für die Lohnsenkung müssen schon genau benannt werden.
Die ganze Hilflosigkeit der Tarifpolitik
von Ver.di wird auf Seite 13 dokumentiert. Ver.di misst dem Interesse der Beschäftigten an einem
sicheren Arbeitsplatz besondere Bedeutung zu. Dazu sehen die Autoren folgende Herausforderungen an die
Tarifpolitik:
«Durchsetzung eines
auskömmlichen Lohnniveaus
Angemessene Lohnsteigerungen, die sich
an Produktivitätssteigerung und Inflationsrate orientieren
Beschäftigungssicherung
Die Begrenzung der Arbeitszeit mit dem
Ziel einer gerechten Verteilung von Arbeitszeit
Vereinbarkeit von Familie und Beruf,
Arbeit und Leben
Antidiskriminierung und
Entgeltgleichheit
Die Durchsetzung von
Qualifizierungsansprüchen mit Freistellungen und Finanzierungsregeln für das lebensbegleitende
Lernen.»
Was bedeutet auskömmliches Lohnniveau?
Was sind angemessene Lohnsteigerungen? Etwa die im öffentlichen Dienst, in der Druckindustrie, im
Großhandel vom letzten, oder die im Einzelhandel in diesem Jahr? Was ist lebensbegleitendes Lernen,
und was hat das mit einem Beschäftigungsverhältnis zu tun?
Darauf gibt es keine Antwort. Ebensowenig
auf die Herausforderung der Massenarbeitslosigkeit. Stattdessen wird noch eins drauf gesetzt, in dem die
Autoren sich für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen einsetzen:
«Im Interesse von insgesamt
wettbewerbsfähigen Branchen kann es nicht zielführend sein, wenn marode Unternehmen durch
einseitige Absenkungen von Standards im Markt gehalten werden. Das birgt die Gefahr einer
Absenkungsspirale, die die Gewerkschaften abwehren müssen, wollen sie nicht die
Wettbewerbsfähigkeit insgesamt gefährden und die Binnennachfrage schwächen.»
Nun ja, ihr Schreiberlinge in Berlin, dann entwerft mal ein Branchenranking in
Wettbewerbsfähigkeit, damit die Looser aussortiert werden können! Die so erwerbslos gemachten
Kolleginnen und Kollegen können ja dann die Binnenkonjunktur stärken.
Als letzter Appetithappen seien noch ein
paar Worte dem Absatz zur Arbeitszeit gewidmet. Die Autoren schreiben, «dass die seit gut 100 Jahren
anhaltende Entwicklung zu kürzeren tariflichen Arbeitszeiten gestoppt wurde, und die
tatsächlichen Arbeitszeiten steigen. Ver.di verfolgt eine differenzierte Arbeitszeitpolitik, die
verschiedenen Zielen dienen und Zielkonflikte vermindern soll: Wir wollen Arbeitsplätze sichern und
neue schaffen, und wir wollen auf die Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten eingehen. Dafür
wollen wir bestehende interne und externe Regelungen zur Flexibilisierung, sei es über
Arbeitszeitkonten, sei es über Leiharbeit, nutzen. Ver.di macht sich stark für eine neue
Perspektive der Zeiteinteilung, die der Debatte über Arbeitszeitverlängerung ein Konzept
entgegenstellt, das gerechte und solidarische Arbeitsumverteilung mit humanem, nachhaltigem und
ökonomisch erfolgreichem Einsatz von Arbeit verknüpft. Angesichts der zu erwartenden
Produktivitätsentwicklung halten wir langfristig am Ziel der Arbeitszeitverkürzung fest.»
Es ist schon sehr interessant, dass eine
Gewerkschaft sich der Förderung von Leiharbeit verschreibt. Bis vor wenigen Jahren galt schon die
Duldung dieser Art von Beschäftigung als obszön. Dass aber Leiharbeit und Flexibilisierung dazu
dienen sollen, Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen, dürfte höchstens im ifo-Institut
des Professor «Unsinn» anerkannt sein. Dass Ver.di langfristig am Ziel der
Arbeitszeitverkürzung festhält, muss man vielleicht lobend erwähnen. Dass dies aber
kurzfristig den arbeitslos gemachten und erwerbslos gehaltenen Kolleginnen und Kollegen außerhalb der
Betriebe überhaupt nichts nutzt, ist vielleicht nur eine nebensächliche dumme Folge des
langfristigen Ziels Arbeitszeitverkürzung. Die Rente kommt langfristig auch erst mit 67, da
können die 78 Millionen sich schon mal an die 345 Euro gewöhnen, die sie dann bis an ihr
Lebensende bekommen.
Man sage nicht, hier habe jemand etwas
zusammengeklaubt, um den Entwurf schlechter zu machen, als er ist. Nein, die Zitate sind nicht aus dem
Zusammenhang gerissen, sie stehen da, wortwörtlich, wie oben.
Dass wir mit unseren Gewerkschaften heute
in solch einer Situation sind, hat viel mit einem Apparat zu tun, in dem sich solche Gedanken breit machen
können. Es ist Aufgabe der Linken in Ver.di dafür zu sorgen, dass dieser Entwurf nicht Programm
wird.
Helmut Born
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