SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2006, Seite 9

Programmentwurf von Ver.di

Aufregend kunterbunt — und orientierungslos

Am 20.7.2005 legte eine Kommission des Bundesvorstands von Ver.di einen Entwurf für Programm vor, das auf dem Bundeskongress im Herbst 2007 in Leipzig verabschiedet werden soll.

Sechsundfünfzig Seiten stark ist das Papier der Programmkommission, aber man meint, es schon einmal gelesen zu haben. Die Art von Illusionen in die kapitalistische Gesellschaft, die hier verbreitet wird, findet sich auch im DGB-Programm wieder. Nach dem Zusammenbruch der nichtkapitalistischen Staaten des Warschauer Pakts ist offensichtlich auch den Führungen der DGB-Gewerkschaften jede Fantasie über eine Alternative zum Kapitalismus abhanden gekommen. In insgesamt fünf Kapiteln wird das Bild eines sozialen und humanen Kapitalismus gezeichnet, der allenfalls in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts existierte, aber mit den heutigen Realitäten kaum in Übereinstimmung zu bringen ist.
Dazu müssten sich die Autoren mit den Strategien der wichtigen Kapitalkreise auseinandersetzen, und Gegenstrategien entwickeln. Die sucht man in diesem Entwurf aber leider vergebens. An einigen Passagen soll dies hier verdeutlicht werden — mit der Anregung, sich über Alternativen zu diesem Entwurf Gedanken zu machen.

Wandel als Herausforderung

Auf insgesamt sieben Seiten werden Vorstellungen über eine solidarische Gesellschaft zu Papier gebracht. Dabei drängt sich die Frage auf, warum in diesem Text kein Wort zu den Eigentumsverhältnissen zu finden ist. Es heißt: «Weil Teilhabechancen eng mit den materiellen Möglichkeiten des einzelnen verbunden sind, treten wir für eine Politik ein, die auf die Vermeidung von Armut und die gerechte Verteilung von Einkommen zielt.» Zur Verteilung von Reichtum steht aber kein Wort — der erste Hinweis darauf, das Ver.di sich der gesellschaftlichen Auseinandersetzung nicht stellen will. Die Formulierung positiver gesellschaftlicher Ziele ohne Benennung der negativen gesellschaftlichen Realität wird uns nicht weiter bringen.
Erst durch bewusste Umverteilung sowohl unter der Regierung Kohl wie unter der Regierung Schröder ist es ja zu dem erheblichen Anstieg von Armut gekommen. Dabei reden wir noch gar nicht darüber, wie die Verhältnisse europaweit oder weltweit aussehen. Die Anzahl von Kindern, die in Deutschland in Armut leben, ist seit der Einführung von Hartz IV um 60% gestiegen!
Wenn der Entwurf aber feststellt, dass sich durch die europäische Integration die Unterschiede im Niveau der Wohlfahrt in den EU-Mitgliedstaaten verringert haben, muss man sich ernstlich fragen, ob hier eine Wahrnehmungsstörung vorliegt. Ist Ostdeutschland noch immer nicht Teil der EU? Sind die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn und die baltischen Staaten Mitglieder der EU oder liegen diese Länder in Asien oder Afrika? Warum treten die Autoren nicht für gleiche soziale Bedingungen zumindest in allen EU-Ländern ein? Reicht es aus einzufordern, dass «für die Zukunft die soziale Dimension Europas im Prozess des Zusammenwachsens grösseres Gewicht» haben soll?
Der Entwurf hält fest, dass sich in der Arbeitswelt dramatische Veränderungen vollziehen. Die werden positiv wie negativ beschrieben: Einerseits gelingt es nicht, die unerträgliche hohe Arbeitslosigkeit zu verringern. Andererseits eröffnen sich einem Teil der Beschäftigten neue Spielräume, die mehr Kreativität und neue Lernmöglichkeiten ins Berufsleben bringen.
«Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass Arbeit human gestaltet wird, und wir kämpfen dafür, dass Wünschen nach einer unbeschränkten Verfügbarkeit der Arbeitskraft Grenzen gesetzt werden.» Gute Arbeit soll menschlich gestaltet werden — das ist unser Ziel, wenn wir als Tarifpartner oder auf betrieblicher Ebene auf die Arbeitsbedingungen einwirken, schreiben die Autoren. Doch die Unternehmer finden immer neue Wege, um Tarifverträge zu unterlaufen. «Haltelinien oder Untergrenzen im weltweiten Unterbietungswettbewerb sind nicht erkennbar, wenn es nicht gelingt, die Verbindlichkeit von Flächentarifverträgen wieder zu sichern.»
Wenn dem so ist, so fragt man sich, warum im öffentlichen Dienst eine neue Niedriglohngruppe vereinbart wurde, die 20% unter dem Niveau der alten Einkommensgruppe liegt (früher 1570, jetzt 1280 Euro). Schließlich organisiert Ver.di nicht die Beschäftigten der großen Exportindustrien, die unmittelbar der weltweiten Konkurrenz ausgesetzt sind. Werden hier nicht falsche Begründungen verwendet, um von Fehlern abzulenken? Warum wurden die Löhne der neuen Postzusteller gesenkt? Weil diese sich im weltweiten Wettbewerb befinden? Oder weil die Post privatisiert wurde und sich die Deutsche Post AG anschickt, der weltweit grösste Logistikkonzern zu werden? So wichtig es ist, die Verbindlichkeit der Tarifverträge zu sichern — die Ursachen für die Lohnsenkung müssen schon genau benannt werden.
Die ganze Hilflosigkeit der Tarifpolitik von Ver.di wird auf Seite 13 dokumentiert. Ver.di misst dem Interesse der Beschäftigten an einem sicheren Arbeitsplatz besondere Bedeutung zu. Dazu sehen die Autoren folgende Herausforderungen an die Tarifpolitik:
«Durchsetzung eines auskömmlichen Lohnniveaus
Angemessene Lohnsteigerungen, die sich an Produktivitätssteigerung und Inflationsrate orientieren
Beschäftigungssicherung
Die Begrenzung der Arbeitszeit mit dem Ziel einer gerechten Verteilung von Arbeitszeit
Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Arbeit und Leben
Antidiskriminierung und Entgeltgleichheit
Die Durchsetzung von Qualifizierungsansprüchen mit Freistellungen und Finanzierungsregeln für das lebensbegleitende Lernen.»
Was bedeutet auskömmliches Lohnniveau? Was sind angemessene Lohnsteigerungen? Etwa die im öffentlichen Dienst, in der Druckindustrie, im Großhandel vom letzten, oder die im Einzelhandel in diesem Jahr? Was ist lebensbegleitendes Lernen, und was hat das mit einem Beschäftigungsverhältnis zu tun?
Darauf gibt es keine Antwort. Ebensowenig auf die Herausforderung der Massenarbeitslosigkeit. Stattdessen wird noch eins drauf gesetzt, in dem die Autoren sich für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen einsetzen:
«Im Interesse von insgesamt wettbewerbsfähigen Branchen kann es nicht zielführend sein, wenn marode Unternehmen durch einseitige Absenkungen von Standards im Markt gehalten werden. Das birgt die Gefahr einer Absenkungsspirale, die die Gewerkschaften abwehren müssen, wollen sie nicht die Wettbewerbsfähigkeit insgesamt gefährden und die Binnennachfrage schwächen.»

Differenzierte Arbeitszeitpolitik

Nun ja, ihr Schreiberlinge in Berlin, dann entwerft mal ein Branchenranking in Wettbewerbsfähigkeit, damit die Looser aussortiert werden können! Die so erwerbslos gemachten Kolleginnen und Kollegen können ja dann die Binnenkonjunktur stärken.
Als letzter Appetithappen seien noch ein paar Worte dem Absatz zur Arbeitszeit gewidmet. Die Autoren schreiben, «dass die seit gut 100 Jahren anhaltende Entwicklung zu kürzeren tariflichen Arbeitszeiten gestoppt wurde, und die tatsächlichen Arbeitszeiten steigen. Ver.di verfolgt eine differenzierte Arbeitszeitpolitik, die verschiedenen Zielen dienen und Zielkonflikte vermindern soll: Wir wollen Arbeitsplätze sichern und neue schaffen, und wir wollen auf die Arbeitszeitwünsche der Beschäftigten eingehen. Dafür wollen wir bestehende interne und externe Regelungen zur Flexibilisierung, sei es über Arbeitszeitkonten, sei es über Leiharbeit, nutzen. Ver.di macht sich stark für eine neue Perspektive der Zeiteinteilung, die der Debatte über Arbeitszeitverlängerung ein Konzept entgegenstellt, das gerechte und solidarische Arbeitsumverteilung mit humanem, nachhaltigem und ökonomisch erfolgreichem Einsatz von Arbeit verknüpft. Angesichts der zu erwartenden Produktivitätsentwicklung halten wir langfristig am Ziel der Arbeitszeitverkürzung fest.»
Es ist schon sehr interessant, dass eine Gewerkschaft sich der Förderung von Leiharbeit verschreibt. Bis vor wenigen Jahren galt schon die Duldung dieser Art von Beschäftigung als obszön. Dass aber Leiharbeit und Flexibilisierung dazu dienen sollen, Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen, dürfte höchstens im ifo-Institut des Professor «Unsinn» anerkannt sein. Dass Ver.di langfristig am Ziel der Arbeitszeitverkürzung festhält, muss man vielleicht lobend erwähnen. Dass dies aber kurzfristig den arbeitslos gemachten und erwerbslos gehaltenen Kolleginnen und Kollegen außerhalb der Betriebe überhaupt nichts nutzt, ist vielleicht nur eine nebensächliche dumme Folge des langfristigen Ziels Arbeitszeitverkürzung. Die Rente kommt langfristig auch erst mit 67, da können die 7—8 Millionen sich schon mal an die 345 Euro gewöhnen, die sie dann bis an ihr Lebensende bekommen.
Man sage nicht, hier habe jemand etwas zusammengeklaubt, um den Entwurf schlechter zu machen, als er ist. Nein, die Zitate sind nicht aus dem Zusammenhang gerissen, sie stehen da, wortwörtlich, wie oben.
Dass wir mit unseren Gewerkschaften heute in solch einer Situation sind, hat viel mit einem Apparat zu tun, in dem sich solche Gedanken breit machen können. Es ist Aufgabe der Linken in Ver.di dafür zu sorgen, dass dieser Entwurf nicht Programm wird.

Helmut Born

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