SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2006, Seite 15

Kanada

Neue Unübersichtlichkeit

Nach nur 18 Monaten im Amt konnte Kanadas liberale Minderheitsregierung unter Paul Martin keine der anderen Parteien für parlamentarische Mehrheitsentscheidungen mehr gewinnen. Die daraufhin für den 23.Januar angesetzten Neuwahlen haben die liberale durch eine konservative Minderheitenregierung ersetzt.

Gesetzesvorlagen der Regierung sind nun auf die Zustimmung von wenigstens 31 Abgeordneten anderer Parteien angewiesen. Unerwartet konnten die Konservativen erhebliche Stimmengewinne in Québec verzeichnen, das bislang fest in der Hand des separatistischen Bloc Québécois gewesen ist. Eine der Absurditäten des kanadischen Mehrheitswahlsystems: Obwohl der Bloc gegenüber den letzten Wahlen an Stimmen und Sitzen verlor, konnte er mit 10,5% der Wählerstimmen 51 Sitze erringen, während die sozialdemokratische New Democratic Party (NDP), die insgesamt Gewinne zu verzeichnen hatte, mit 17,5% der Stimmen auf lediglich 29 Sitze kam.

Linke Defensive

Die kanadische Linke, abgesehen von ihren ausschließlich bewegungsorientierten Strömungen, hat weitgehend die NDP unterstützt. Dies gilt auch für die Kommunistische Partei, die zumindest in den urbanen Zentren eine beachtliche Zahl eigener Kandidaten aufgestellt hatte.
Eine bemerkenswerte Ausnahme bildete die Führung der Canadian Auto Workers (CAW), die lange als militanteste der kanadischen Gewerkschaften galt. Deren Vorsitzender Buzz Hargrove sowie der CAW-Chefökonom Jim Stanford, beide bekannte Figuren in der kanadischen Öffentlichkeit, sprachen sich für strategisches Wählen aus. In Wahlkreisen, in denen liberale Kandidaten Erfolgsaussichten hatten, sollten diese von linken Wählern unterstützt werden, um eine konservative Mehrheit zu verhindern. Hierüber gab es in der Linken sowie den Gewerkschaften erregte Debatten. Die Stimmengewinne der NDP zeigen allerdings, dass die Politik des kleineren Übels auf wenig Gegenliebe gestoßen ist. Trotzdem deutet die Debatte auf die Schwäche der Linken hin.
Vor fünf Jahren hatte das noch ganz anders ausgesehen. Getragen von den Mobilisierungserfolgen der globalisierungskritischen Bewegung einerseits und angestoßen von der Enttäuschung über die Politik der Dritten Weges, die von der NDP in einer Reihe kanadischer Provinzen verfolgt worden war, formierte sich innerhalb der Sozialdemokratie unter dem Namen New Party Initiative (NPI) eine Oppositionsströmung, die für einen Linksschwenk warb. Ein entsprechender Antrag beim NDP-Parteitag 2001 gewann zwar respektable 40% der Delegiertenstimmen, aber eben keine Mehrheit. Das Scheitern dieses Antrages leitete zugleich das Ende der NPI ein.
Im Sande verlaufen sind auch die unter den Namen «Rebuilding the Left und Structured Anti-Capitalist Movement» unternommenen Bestrebungen, der globalisierungskritischen Bewegung Strukturen zu verleihen, die deren Bestand auch in Zeiten nachlassender Mobilisierungen hätte gewährleisten können. Der einzige Neuformierungsansatz der Linken besteht gegenwärtig im Zusammenschluss der Union des Forces Progressistes sowie Option Citoyenne zu einer gemeinsamen linken Partei. Ob sich daraus eine politische Kraft links der Sozialdemokratie in Québec bildet und diese eine Vorbildfunktion für die englischsprachigen Provinzen haben kann, bleibt abzuwarten.

Dezentralisierung und Liberalisierung

Die in Kanada anstehenden politischen und wirtschaftlichen Probleme, insbesondere das Verhältnis zwischen Bundes- und Provinzregierungen, den Auswirkungen des Ölbooms sowie dem Verhältnis zu den USA, wurden im Wahlkampf kaum thematisiert, obwohl die zentrale Bedeutung dieser Themen wenig umstritten ist.
Sofern die Liberale Partei in 12 Regierungsjahren bereits erhebliche Kompetenzverlagerungen von der Bundes- zur Provinzebene vorgenommen und auf diese Weise die Defizite des Bundeshaushalts abgebaut und gleichzeitig die wirtschaftliche Integration mit den USA vorangetrieben hat, ist das Fehlen inhaltlicher Kontroversen nicht überraschend.
Obwohl Linke und Liberale den konservativen Spitzenkandidat Stephen Harper oft als kanadischen George Bush mit einem geheim gehaltenen fundamentalistischen Programm ausgewiesen haben, ging es bei diesen Wahlen nicht um eine Richtungsentscheidung. Zur Abstimmung stand vielmehr, da eine aussichtsreiche linke Alternative gefehlt hat, lediglich die Geschwindigkeit, mit der die bereits eingeschlagene Strategie der Dezentralisierung und Handelsliberalisierung weiterverfolgt wird.
In jüngster Zeit ist jedoch ein externer Faktor wirksam geworden, der sowohl die Spannungen zwischen den kanadischen Provinzen als auch zwischen Ölindustrie und den restlichen Wirtschaftssektoren verschärft. Seit Sommer letzten Jahres hat die ausländische Nachfrage nach Öl den Wert des kanadischen Dollar um über 30% nach oben getrieben und damit die gesamten kanadischen Exporte enorm verteuert. Da, abgesehen von kurzfristigen Schwankungen, keine Änderung der nach oben weisenden Ölpreisentwicklung abzusehen ist, wird ein starker Dollar auch weiterhin Kostendruck auf die kanadische Industrie ausüben und hat bereits zu einer Reihe von Betriebsschließungen, u.a. auch Produktionsverlagerungen in die USA, geführt.
Betroffen hiervon sind insbesondere die Provinzen Ontario und Québec mit ihrem hohen Industriebestand. Ontario, mit 11 Millionen Einwohnern zugleich die bei weitem größte der kanadischen Provinzen, ist darüber hinaus von der Krise der amerikanischen Automobilgiganten Ford und General Motors betroffen. Schon bevor die jüngsten Zahlen bezüglich Werksschließungen und Stellenabbau bekannt gegeben worden waren, hat die CAW, die sich nach einer Welle massiven Stellenabbaus zu Beginn der 80er Jahre als militante Alternative von den korporatistisch orientierten United Auto Workers abgespalten hatte, erhebliche Lohnzugeständnisse gemacht.
Andererseits profitiert Alberta, eine Art kanadisches Texas, bereits jetzt vom Ölboom, während British Columbia und die atlantischen Provinzen in Zukunft off-shore Öl fördern wollen. Die regional unterschiedlichen Wirkungen von Ölboom einerseits und industrieller Krise andererseits werden in der kanadischen Öffentlichkeit unter dem Stichwort «fiskalisches Ungleichgewicht» diskutiert.

Paradoxien

Dabei kommt es zu paradoxen Konstellationen: Alberta, Gewinner des Ölbooms, und Québec, negativ von der Deindustrialisierung betroffen, stellen sich gemeinsam Forderungen nach einer föderalen Umverteilung eines Teils der mit dem Ölboom gestiegenen Steuereinnahmen entgegen. Albertas konservative Provinzregierung ist grundsätzlich gegen jeglichen Fiskalföderalismus und will höhere Steuereinnahmen für weitere Senkungen der Steuersätze verwenden. Dagegen erwartet der Bloc Québécois ein höheres Maß an Autonomie im Tausch gegen die Zustimmung zu Gesetzesvorlagen der konservativen Minderheitenregierung in Ottawa.
Um entsprechenden Forderungen Nachdruck zu verleihen, fabuliert das Führungspersonal des Bloc schon mal öffentlich über eine Währungsunion mit den USA. Solche Gedankenspiele beruhen auf einem Wandel des Separatismus, der sich über Jahrzehnte, neben Fragen kultureller und sprachlicher Eigenständigkeit, auf das in Québec weiter ausgebaute Sozialsystem gestützt hat, das durch die Forderung nach Unabhängigkeit gegen den Anpassungsdruck Englisch-Kanadas abgeschirmt werden sollte.
Mittlerweile gibt es jedoch auch in der Business Community Québecs ausgeprägte Autonomiebestrebungen, die privilegierte Geschäftsbeziehungen mit den USA anstreben. Der ohnehin bestehende Druck auf soziale Standards in Québec würde dadurch noch verstärkt. In diesem Punkt dürfte sich Québec angesichts der US-Orientierung der gerade gewählten Bundesregierung in Ottawa nicht von den anderen Provinzen unterscheiden.
Offen ist jedoch, ob sich hieraus eine gemeinsame Abwehrfront zur Verteidigung der noch bestehenden sozialen Sicherungssysteme ergibt oder ein Wettkampf um privilegierte Beziehungen zu den USA einsetzt. Angesichts der notorischen Instabilität von Minderheitsregierungen dürfte diese Frage auch Einfluss auf den Ausgang der von vielen 2007 erwarteten Neuwahlen haben. Ob dann eine linke Alternative zu einer konservativen Mehrheitsregierung besteht, ist derzeit jedoch nicht abzusehen.

Ingo Schmidt, Vancouver

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