SoZ - Sozialistische Zeitung |
Wer wie der Schreiber dieser Zeilen 30 Jahre lang nicht mehr im Bremer Hafen,
im Europa-Hafen und im nicht mehr existierenden Überseehafen gewesen ist, und diese früheren Orte
im Kopf Revue passieren lässt, wird vom Schlag getroffen. Wo früher die 15000- bis 20000-Tonner
lagen, ein Schiff am anderen, Kräne Stückgut aus den Schiffsbäuchen hievten,
Eisenbahnwaggons die Fracht übernahmen, es nach exotischen Dingen roch und Schiffsmannschaften aus der
ganzen Welt für jeweils kurze Zeit zusammenkamen, herrscht heute gähnende Leere. Hafenrundfahrten
waren früher eine touristische Attraktion. Heute? Der Europahafen ist noch da, leer, der
Überseehafen ist zugeschüttet und als Denkmal verewigt, glänzt noch aus einem Hafenmuseum
(leben wir nur noch in Museen?).
Wenn in den 60ern jemand nicht wusste, wie er seine Brötchen verdienen sollte, machte er einen
Schweißerlehrgang auf der AG Weser, dann hatte er einen krisenfest scheinenden Job. Wer sonst nicht
besonders qualifiziert war, konnte als Stauer im Hafen arbeiten, mit Samstags- und Sonntagsschichten,
Zulagen, Nachtschichten, das ernährte eine ganze Familie mit Eigenheim und Garten. Wenn man die Weser
hinunterfuhr: Werften und Segelvereine.
Die Werft "Bremer Vulkan" gab dem
ganzen Bremer Norden Arbeit, Tag und Nacht, wochentags und am Wochenende. An den Weserterrassen in Vegesack
konnte man sich hinsetzen und die dicken Pötte ein- und auslaufen sehn, man brauchte nicht darauf zu
warten. Heute gähnende Leere. Wenn wir auf der Weser segelten, mussten wir zwischen Binnenschiffen,
Übersee-Frachtern, Küstenmotorschiffen, Ruderern, Motorbooten und anderen durchkreuzen.
Segelboote oder Rudermannschaften gibt es noch.
Doch für die Freizeit auf dem Wasser
hat die Weser jeden Reiz verloren ein mit Spundwänden, Aufspülungsflächen und
Steinschüttungen zum Kanal verwandeltes Rinnsal, immer wieder ausgetieft für die
Großschifffahrt. 1960 machten wir noch Klassenausflüge zum Schönebecker Sand an der Lesum-
Mündung, heute stehen da Spundwände. In Woltmershausen luden weiße Sandstrände zum
Baden ein: Ein solcher Blick zurück wirkt nostalgisch. Aus heutiger Sicht war das nur ein
Durchgangsstadium. Kein Halt. Scheinbar gibt es keine Möglichkeit, Lebensformen bewusst zu
wählen, rational zu planen. Warum? Was ging da vor sich?
Die maritime Wirtschaft, von der Bremen
früher lebte, war und ist ein komplexes Gefüge von Branchen, gesellschaftlichen Institutionen und
Gruppen, die unter internationaler Konkurrenz stehen und sich im Wechselspiel nationaler und
internationaler wirtschaftlicher und technischer Faktoren, Innovationen und unter dem gegenseitigen Druck
der beteiligten sozialen Gruppen verwandelt haben und weiter verwandeln. Der "laufende
Geschäftsbetrieb", wie Unternehmer das nennen, kennt kein Anhalten. Jedes Verweilen ist
tödlich. Das Nachdenken vollzieht man im Laufen, im Laufen des Geschäfts, sofern dabei
überhaupt gedacht und nicht nur reflexartig reagiert wird.
Eine der zentralen sozialen Gruppen im Gefüge der Seeverkehrswirtschaft sind die Reeder: Sie
wählen die Schiffsmannschaft aus. Schon in den 60er Jahren begannen die Reedereien damit, kostspielige
und durch Gewerkschaften vertretene deutsche Schiffsmannschaften in den einfachen Mannschaftsdienstgraden
zu ersetzen: beim (damals noch) Norddeutschen Lloyd wurden Spanier, Filipinos, später Türken und
andere Nationalitäten eingesetzt.
Die Reederei Hamburg-Süd betrieb
zeitweise ein Ausbildungszentrum in Kiribati in der Südsee, später wurden auch die Posten der
nautischen Offiziere zunehmend durch ausländische Arbeitnehmer besetzt. Was wir heute als weltweiten
Kampf um die Ansiedlung von Industrien und Produktionsstandorten erleben, letztlich das Ausnutzen
unterschiedlicher Lohnniveaus und Lebenshaltungskosten, um einen Konkurrenzvorteil zu erwirtschaften, hatte
damals in der Seeverkehrswirtschaft ein Frühstadium erreicht.
In den 60er Jahren fing man an, die
praxisorientierte Ausbildung des nautischen Nachwuchses abzuschaffen. Auf Druck der Reeder entstand ein
Ausbildungsmodell, das nach dem Abitur nur eine dreijährige Schulzeit und ein Jahr Fahrpraxis vorsah.
Diese Absolventen deutscher Seefahrtschulen fanden jedoch, da ihnen das praktische Verständnis
für den gesamten Schiffsbetrieb fehlte, meist keine Anstellung.
Später brach das deutsche
Ausbildungssystem für nautische Offiziere fast ganz zusammen. Seefahrtschulen wie die in Bremen wurden
zeitweise geschlossen. Mehrere Faktoren kamen zusammen: Der Wunsch der Reeder, niedrig entlohnte Seeleute
aus dem Ausland als nautische Offiziere anzustellen; das Ausflaggen der Schiffe, das es ermöglichte,
zusammengewürfelte Mannschaften einzustellen, ohne die strengen Vorschriften der
Seeberufsgenossenschaft und der Klassifikationsgesellschaften einzuhalten, und das oben beschriebene
Aushebeln des alten praxisorientierten Ausbildungsganges.
Das Ausflaggen der Schiffe, das in
Deutschland Ende der 60er Jahre einsetzte, sollte helfen Kosten zu sparen. Denn Billigflaggenländer
wie Panama haben viel laxere staatliche Vorschriften für Betrieb und Ausstattung der Schiffe, wodurch
die Kosten für Unfallverhütung, Sicherheit, Mannschaftsunterbringung, Steuern und vieles andere
sinken.
Mit ihren niedrigeren Frachtraten machten
ausgeflaggte Schiffe schon bald nach Kriegsende anderen Anbietern auf dem Weltmarkt das Leben schwer.
Für die Reeder in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft kamen die RGW-Staaten mit ihren
Frachterflotten als Billigkonkurrenz hinzu.
1972 veröffentlichte der Verband der
Reeder eine Studie über das "Schiff der Zukunft". Diese Studie machte die Absicht deutlich,
die Betriebskosten der Schiffe radikal zu senken. Die Studie muss damals auf die Mannschaften gleich
welchen Dienstgrades eiskalt, zynisch und berechnend gewirkt haben. Man merkt ihr noch heute ihre
Stoßrichtung an: Rationalisierung und Automatisierung bis zum äußersten, der "Mensch
ein Kostenfaktor", "Geiz ist geil" all das, was wir heute unter dem Stichwort
Neoliberalismus zusammenfassen. Diese Studie beschrieb die Zukunft, wie sie heute existiert. Die Reeder
waren eine Art Avantgarde dieser "Bewegung", da sie am stärksten unter internationalem
Konkurrenzdruck standen.
Arbeiteten auf einem nach Übersee verkehrenden Schiff in den 60er Jahren etwa150 m lang mit
1000015000 BRT noch insgesamt 3040 Mann, einschließlich Stewards, Koch und
umfangreicher Maschinenbesatzung, so kommt heute ein sehr viel größeres und schnelleres
Containerschiff von etwa 300 Meter Länge mit 1215 Mann aus. Diese vergleichsweise winzige
Mannschaft arbeitet in drei Schichten. Pro Schicht sind also nur 4 Mann überhaupt ansprechbar und
"beleben" den fahrenden Stahlkoloss.
Ein Gemeinschaftsleben an Bord gibt es im
Grunde nicht mehr. Die Seeleute vereinsamen. Reedereien gehen heute davon aus, dass ein leitender
nautischer Offizier nur noch 45 Jahre zur See fährt, danach wird ihm meist ein Job an Land
angeboten. Die technische Innovation des Containerverkehrs, Veränderungen in der Antriebstechnik und
Wartung der Dieselaggregate, Veränderungen der nautischen Praxis an Bord (Radar, GPS, Kreiselkompass,
Autopilot) haben Arbeiten überflüssig gemacht oder sind wie zahlreiche Wartungsarbeiten -
inzwischen an Land konzentriert. Den Arbeitsprozessen wird jede Gemütlichkeit, jede Pause, jedes
Verweilen genommen. Letzthin wird der mit menschlichen Bedürfnissen ausgestattete Mensch ersetzt, die
Maschine hat weder Kultur noch Seele, sie braucht kein antiquiertes "sich Wohlfühlen".
1966 begann in Bremen (nicht in
Bremerhaven) der erste Containerverkehr. Wie schon Ende des 19.Jahrhunderts mit Weserbegradigung und -
austiefung versuchte Bremen, den Frachtverkehr egoistisch an sich zu ziehen. Unter anderem wurde deshalb
der Bau des Neustädter Hafens in Angriff genommen. Inzwischen sind die sechs Stunden Revierfahrt
zwischen Bremerhaven und Bremen für die Reeder zu kostspielig geworden. In den 90er Jahren hat
Bremerhaven die Rolle des Containerhafens übernommen.
Niemand glaubte in den 60er Jahren, dass
der Containerverkehr so erdrückend und monopolisierend wirken würde, wie er es bis heute getan
hat. Die klassische Stückgutfahrt ist in den hochentwickelten Ländern im Grunde verschwunden. In
den 70er Jahren hatten die größten Containerschiffe eine Kapazität von knapp 5000 TEU
(Twenty Foot Equivalent-Unit, ein 20 Fuß langer Container). Die Außenweser und die Elbe sind
inzwischen für Schiffe mit 8000 TEU ausgebaut. Die derzeitige Höchstmarke liegt bei 9200 TEU.
Man rechnet damit, dass von 2007 bis 2009
etwa 100 Containerschiffe dieser Kapazität verkehren werden. Für die großen
Schiffahrtsrouten sind jedoch Mega-Carrier in der Planung, die 1200014000 TEU transportieren
können. Wahrscheinlich gibt es hier aber eine Obergrenze, die nicht mehr gedehnt werden kann. Die
erwarteten Mega-Carrier werden Bremerhaven und Hamburg nicht mehr anlaufen können. Der Weser-Jade-Port
in Wilhelmshaven soll diesen Schiffen mit ihrem Tiefgang von 1516,50 m und mehr gerecht werden.
Für diese Schiffe verlangen die Reeder
nicht nur geeignete Zufahrten und Häfen, sondern auch immer größere und effektivere
Containerumschlagsanlagen. Die Konkurrenz zwischen den einzelnen Häfen, die Fracht an sich ziehen
wollen, zwingt sie dazu, den Forderungen der Reeder nach dem Ausbau der Häfen zu folgen: Die
Hafeneinfahrten müssen vertieft werden, sodass sie auch bei niedrigen Wasserständen problemlos
angelaufen werden können.
Damit die äußerst eng
kalkulierten Fahrpläne für die riesigen Containerschiffe nicht durcheinander geraten, verlangen
die Reedereien Abfertigungsgarantien, sogar dann wenn ein Schiff mal verspätet im Hafen erscheint.
Hier treiben die Reeder die Umschlagsgesellschaften, Hafenbetreiber und Städte vor sich her: "Im
Hinblick auf unsere Unternehmenszielsetzung Gewinnmaximierung sind wir in solchen
Situationen verpflichtet, den kostengünstigsten Anbieter auszuwählen" (Adolf Adrion, 1997:
Anforderungen eines Reeders an Containerterminals).
Die Infrastrukturinvestitionen
übernimmt die öffentliche Hand, d.h. der Steuerzahler. Die öffentliche Hand wiederum treibt
Natur- und Umweltschutzorganisationen vor sich her, die sich kritisch mit Sinn und Unsinn der Eingriffe
auseinandersetzen.
Nur ein Beispiel für die
Veränderungen am Leib der Natur (das sind wir, wir sind es aber auch nicht): Heute hat die Weser einen
Tidenhub von etwa 4 Metern in der Bremer Innenstadt. Vor der Weseraustiefung und -begradigung, die ab 1887
nach den Vorschlägen von Franzius durchgeführt wurde, lag der Tidenhub an den Brücken der
Innenstadt bei 15 Zentimetern. Die Tide der Nordsee erreichte in diesem noch naturnäheren Zustand
Bremen gar nicht. Doch schon um 1900 war das Ökosystem Unterweser bis zur Unkenntlichkeit
verändert. Eines der unmittelbarsten, auch ökonomischen Opfer war die Unterweser-Fischerei, die
ihre Fischgründe insbesondere im Gebiet zwischen Vegesack und Nordenham verlor. Aber auch die im
19.Jahrhundert noch aktive Kleinschifffahrt wurde durch die größer und größer werdenden
Schiffseinheiten verdrängt.
Die Reeder stehen untereinander in
Konkurrenz und das inzwischen nahezu weltweit. Sie konkurrieren um die günstigsten Frachtraten, den
schnellsten und zuverlässigsten Service, geringe Schadensquoten und inzwischen auch um die
Verknüpfung des eigentlichen Seetransports mit kompletten Haus-zu-Haus-Logistiksystemen (Lieferung
möglichst just-in-time). Preisabsprachen sind jedoch möglich. Kartelle im Seeverkehr sind
seltsamerweise sogar durch EU-Recht gedeckt. Hier ist das Hauen und Stechen etwas eingeschränkt.
Auch die technische Innovation treibt, wenn
sie sich ausbreitet, ganze Sozialsysteme vor sich her und zwar weltweit. Der Container, in den 50er
Jahren in den USA erfunden, war zunächst eine Revolution in der Umschlagstechnik, er hat später
den Schiffbau, dann aber auch ganze soziale Systeme in den Häfen und ihrem Umland verändert.
Moderne Containeranlagen "arbeiten" fast ohne Menschen. Zeitersparnis und Beseitigung des
lebendigen, bedürfnisgeprägten Menschen sind auf die Spitze getrieben.
Ein traditionelles Frachtschiff, das man
noch bis in die 80er Jahre im Bremer Hafen "bewundern" konnte, benötigte eine
Schiffsmannschaft (Decksmannschaft) und einen Ladeoffizier. Um das Stückgut, sagen wir sechs Kaffee-
oder Linsensäcke, aus dem Schiffsbauch ins Lagerhaus zu befördern, brauchte man an Land neben dem
Kranführer mehrere Stauer, die in gabelstaplerlosen Zeiten die Säcke mithilfe der Sackkarre ins
Lagerhaus hinein und später wieder hinaus rollerten. An Land waren pro Luke fünf bis sechs
Personen tätig, auf dem Schiff drei bis vier.
Der Lade- und Entladevorgang war
langwierig. Liegezeiten von mehreren Tagen, die neben Personal auch Liegegelder kosteten und vor allem
Zeit, Zeit verschlangen, und das aus heutiger Sicht sehr umständliche Zwischenlagern im Lagerhaus
erhöhten den Gesamtpreis des Seetransports. Die Mannschaften der früheren Überseefrachter
konnten aber in den angelaufenen Ländern und Häfen nach der Schicht das lang entbehrte Landleben
genießen, eine ausgedehnte Vergnügungsindustrie, Bars, Restaurants, Spielhöllen, Hotels,
liegendes Gewerbe waren in der Nähe der Häfen angesiedelt.
Walle, direkt am Bremer Hafen gelegen, war
ein pulsierendes Gebiet mit Läden, Kneipen, Bars, Spelunken und Prostituierten. Walle ist heute
vergleichsweise tot. Die Containerschiffe, die bis auf einige Ausnahmen seit den 90ern nur noch Bremerhaven
anlaufen und nicht mehr nach Bremen kommen, be- und entladen innerhalb weniger Stunden, die Mannschaften
treten gar nicht mehr in Kontakt mit dem von ihrem Schiff angelaufenen Land. Für Erzfrachter, die
innerhalb von acht Stunden ihre 30000 Tonnen Roheisenerz für die Stahlhütte entladen können,
gilt dasselbe. Das Prinzip der Zeit- und Arbeitsersparnis ein Schiff ist nur dann für den
Reeder produktiv, wenn es fährt hat ganze Städte sozial umgekrempelt, Bremen ist ein
Beispiel dafür.
Der Kunde, der die Fracht verlädt,
treibt die Gesamtheit der Reeder und Logistik-Anbieter vor sich her. Der Importeur, der seine Ware in
Deutschland auf den Markt bringt und einen günstigen Verkaufspreis erzielen will und muss, wird
wiederum von den Einzelhändlern und von der Masse der Endverbraucher angetrieben, die nach
Marktgesetzen das beste Produkt zum möglichst geringen Preis erwerben wollen. (Hallo, das sind wir!)
Die Reeder aber und die mit ihnen
verknüpfte Transportmaschinerie stehen vornehmlich unter dem Druck und der Aufsicht der sie
finanzierenden Banken, die in die Reedereien investiert haben oder über Schiffshypotheken an ihren
Gewinnen teilhaben. Schiffsbeteiligungsgesellschaften verkaufen Parten von Schiffen auch an Kleinanleger.
Bei Gewinnerwartungshorizonten von 2025% pro Jahr, wie sie die Hedgefonds oder die Deutsche Bank
propagieren, muss das Reedereigeschäft entsprechend gedeihen.
Perfektionierte, relativ preisgünstige
Logistiksysteme ermöglichen es, dass Produktionsbetriebe überhaupt darangehen können, sich
kleinste Elektronikteilchen aus China oder von den Philippinen "mal eben rüberschicken" zu
lassen. Vor allem die Seelogistik schafft überhaupt erst die Bedingungen dafür, dass die
sogenannten Alt-Industrien ausgelagert und die Arbeiter in Asien gegen die in Europa ausgespielt werden
können. Der Seetransport in seiner heutigen Form ist damit eines der Instrumente, das die
Globalisierung vorantreibt. (Aber ist die Entdeckung des Seewegs rund um Kap Hoorn oder das Kap der Guten
Hoffnung etwas anderes gewesen?) Der Produzent eines Rasierapparats, bspw. die Firma Braun, fühlt sich
getrieben, sich für die benötigten Komponenten den jeweils billigstmöglichen
Produktionsstandort irgendwo auf dem Globus zu suchen. Die in "alten Zeiten" hemmend wirkenden
Entfernungen und Transportkosten zwischen den Kontinenten sind geschmolzen. "Arbeitsplätze gehen
verloren", wie wir quasi bewusstlos sagen. Die Voraussetzungen dafür, dass das geschieht, werden
nicht mit angesprochen, nicht mitgedacht.
Wurden in den 50er bis 70er Jahren per Schiff vor allem Rohstoffe transportiert, so hat die hoch
entwickelte Logistik einen Sog geschaffen, Fertigwaren, Komponenten, leicht- und schwerindustrielle
Produkte jedweder Couleur zu transportieren. Ein Holzhändler in Norddeutschland kauft sein Holz nicht
im Wendland, das ist viel zu teuer, er importiert es aus Norwegen, Schweden, Russland oder sonst woher.
Umgekehrt haben chinesische Wohnungsausstatter und Möbelfabriken das europäische Buchenfurnier
als attraktiv entdeckt, deshalb wird Buche aus Frankreich und Deutschland in die Furnierfabriken nach China
geliefert. Der Kunde im holzarmen China treibt den Importeur vor sich her, es entstehen neue
Bedürfnisse, die früher zu erfüllen oder zu schaffen, gar nicht denkbar gewesen wäre.
Es ist ein System aufeinander einwirkender
Peitschen, die jede gesellschaftliche Gruppe in der Hand hält, obwohl sie als solche auch getrieben
ist und keineswegs autonom.
Das galt und gilt auch für den
Schiffbau. Der deutsche Stahlschiffbau kam ab Mitte der 60er Jahre unter den Druck der japanischen und
koreanischen Werften, die sehr großzügig von ihren Staaten subventioniert wurden. Der Reeder,
selbst vom Gesetz des geringstmöglichen Preises getrieben, treibt die Werften vor sich her und kauft
nur dort, wo er die technisch akzeptable, dauerhafte Ware zum geringstmöglichen Preis erwerben kann.
Es ist ein System verallgemeinerter Prostitution. Es gibt keine romantischen Bindungen. So existierte zur
Zeit der deutschen Werftenkrise keine Solidarität zwischen den Schiffe anschaffenden deutschen
Reedereien und den hier ansässigen Werften sowie den vom Werftbetrieb lebenden
"Städten".
Man ließ die Werften am ausgestreckten
Arm verhungern. Staatliche Subventionen, in zu geringer Höhe, oft unzuverlässig in der
Bewilligung, bedrohten die Werften zusätzlich. Deutschland hat heute keine als vollständig
anzusehende Schiffbau-Branche mehr. Aber das ist kein Einzelfall. Das Vereinigte Königreich, eine der
größten Seemächte der Welt bis zum Zweiten Weltkrieg, hat kein eigenes Werftensystem mehr,
Schweden hat keins mehr. Obwohl zur Zeit ebensoviel Tonnage weltweit neu bestellt ist, wie derzeit
fährt, entstehen in Deutschland keine zusätzlichen Werftbetriebe.
In der Boomphase der deutschen Wirtschaft
nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnten immer höhere Löhne und Gehälter erzielt werden.
Die Gewerkschaften und ein tendenzieller Mangel an Arbeitskräften (eine sehr geringe Arbeitslosigkeit)
trieben die Reeder dazu, sich nach billigeren Mannschaften auf dem Globus umzusehen und das Schiff der
Zukunft mit halbierter Mannschaft zu ersinnen.
Doch geht man in der Geschichte weiter
zurück, so hat es eigentlich nie ein stabiles, nachhaltiges, sich nicht veränderndes System des
Seehandels und Seetransports gegeben. Weser und Hunte waren früher gespickt mit kleinen und
größeren Werften und einer breiten Schicht von Fahrensleuten, die Kuffen, Tjalken,
Weserkähne, Rahsegler im Nah- und Fernverkehr einsetzten. Im Vergleich zum gegenwärtigen
Massentransport und -konsum war es ein kleinräumiges, kleinmaßstäbiges Gewerbe, wie es dem
technischen Niveau und den Konsummustern der Gesellschaft entsprach, ein noch individuelles, auf den
"kleinen" Ort, den "kleinen" Reeder, Kapitän und seine Gehilfen, die einzelne
"kleine Fracht" ausgerichtetes System, dessen Hauptenergiequelle kostenloser (manchmal auch
Gefahr bringender) Wind, nicht Kohle oder Öl waren. Diese Welt ist ebenso verschluckt worden vom
System der sich wechselseitig voreinander hertreibenden gesellschaftlichen Gruppen und technischen
Innovationen wie die Stückgutfrachter der 60er und 70er Jahre.
Die Faktizität dieses Systems ist
mächtig. Die Schäden, die es an den Individuen, an der sog. Natur, an sozialen Systemen
verursacht, sind kontraproduktiv, zerstörerisch. Wäre es sinnvoll, wenn alle Beteiligten sich
zusammensetzten und mal darüber nachdächten, wie ein wir sagen aus Gewohnheit
"Wirtschaftssystem", besser wäre vielleicht eine "Lebensform" ein System
gegenseitiger Beziehungen, ein Verhältnis zum Anderen, zur Natur und zur Technik aussehen könnte,
das alle Beteiligten in ein sinnvolles, solidarisches und humanes Verhältnis zueinander setzen
könnte?
Thomas Hoppe
Ursprünglich zusammen mit dem Text von
Kafkas "Auf der Galerie" in Eselsohr Our view of the city, Nr. 2/2005.
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04