SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2006, Seite 10

Die Seeverkehrswirtschaft

Treibende und Getriebene

Wer wie der Schreiber dieser Zeilen 30 Jahre lang nicht mehr im Bremer Hafen, im Europa-Hafen und im nicht mehr existierenden Überseehafen gewesen ist, und diese früheren Orte im Kopf Revue passieren lässt, wird vom Schlag getroffen. Wo früher die 15000- bis 20000-Tonner lagen, ein Schiff am anderen, Kräne Stückgut aus den Schiffsbäuchen hievten, Eisenbahnwaggons die Fracht übernahmen, es nach exotischen Dingen roch und Schiffsmannschaften aus der ganzen Welt für jeweils kurze Zeit zusammenkamen, herrscht heute gähnende Leere. Hafenrundfahrten waren früher eine touristische Attraktion. Heute? Der Europahafen ist noch da, leer, der Überseehafen ist zugeschüttet und als Denkmal verewigt, glänzt noch aus einem Hafenmuseum (leben wir nur noch in Museen?).

Wenn in den 60ern jemand nicht wusste, wie er seine Brötchen verdienen sollte, machte er einen Schweißerlehrgang auf der AG Weser, dann hatte er einen krisenfest scheinenden Job. Wer sonst nicht besonders qualifiziert war, konnte als Stauer im Hafen arbeiten, mit Samstags- und Sonntagsschichten, Zulagen, Nachtschichten, das ernährte eine ganze Familie mit Eigenheim und Garten. Wenn man die Weser hinunterfuhr: Werften und Segelvereine.
Die Werft "Bremer Vulkan" gab dem ganzen Bremer Norden Arbeit, Tag und Nacht, wochentags und am Wochenende. An den Weserterrassen in Vegesack konnte man sich hinsetzen und die dicken Pötte ein- und auslaufen sehn, man brauchte nicht darauf zu warten. Heute gähnende Leere. Wenn wir auf der Weser segelten, mussten wir zwischen Binnenschiffen, Übersee-Frachtern, Küstenmotorschiffen, Ruderern, Motorbooten und anderen durchkreuzen. Segelboote oder Rudermannschaften gibt es noch.
Doch für die Freizeit auf dem Wasser hat die Weser jeden Reiz verloren — ein mit Spundwänden, Aufspülungsflächen und Steinschüttungen zum Kanal verwandeltes Rinnsal, immer wieder ausgetieft für die Großschifffahrt. 1960 machten wir noch Klassenausflüge zum Schönebecker Sand an der Lesum- Mündung, heute stehen da Spundwände. In Woltmershausen luden weiße Sandstrände zum Baden ein: Ein solcher Blick zurück wirkt nostalgisch. Aus heutiger Sicht war das nur ein Durchgangsstadium. Kein Halt. Scheinbar gibt es keine Möglichkeit, Lebensformen bewusst zu wählen, rational zu planen. Warum? Was ging da vor sich?
Die maritime Wirtschaft, von der Bremen früher lebte, war und ist ein komplexes Gefüge von Branchen, gesellschaftlichen Institutionen und Gruppen, die unter internationaler Konkurrenz stehen und sich im Wechselspiel nationaler und internationaler wirtschaftlicher und technischer Faktoren, Innovationen und unter dem gegenseitigen Druck der beteiligten sozialen Gruppen verwandelt haben und weiter verwandeln. Der "laufende Geschäftsbetrieb", wie Unternehmer das nennen, kennt kein Anhalten. Jedes Verweilen ist tödlich. Das Nachdenken vollzieht man im Laufen, im Laufen des Geschäfts, sofern dabei überhaupt gedacht und nicht nur reflexartig reagiert wird.

Menschen — mal gebraucht, mal nicht

Eine der zentralen sozialen Gruppen im Gefüge der Seeverkehrswirtschaft sind die Reeder: Sie wählen die Schiffsmannschaft aus. Schon in den 60er Jahren begannen die Reedereien damit, kostspielige und durch Gewerkschaften vertretene deutsche Schiffsmannschaften in den einfachen Mannschaftsdienstgraden zu ersetzen: beim (damals noch) Norddeutschen Lloyd wurden Spanier, Filipinos, später Türken und andere Nationalitäten eingesetzt.
Die Reederei Hamburg-Süd betrieb zeitweise ein Ausbildungszentrum in Kiribati in der Südsee, später wurden auch die Posten der nautischen Offiziere zunehmend durch ausländische Arbeitnehmer besetzt. Was wir heute als weltweiten Kampf um die Ansiedlung von Industrien und Produktionsstandorten erleben, letztlich das Ausnutzen unterschiedlicher Lohnniveaus und Lebenshaltungskosten, um einen Konkurrenzvorteil zu erwirtschaften, hatte damals in der Seeverkehrswirtschaft ein Frühstadium erreicht.
In den 60er Jahren fing man an, die praxisorientierte Ausbildung des nautischen Nachwuchses abzuschaffen. Auf Druck der Reeder entstand ein Ausbildungsmodell, das nach dem Abitur nur eine dreijährige Schulzeit und ein Jahr Fahrpraxis vorsah. Diese Absolventen deutscher Seefahrtschulen fanden jedoch, da ihnen das praktische Verständnis für den gesamten Schiffsbetrieb fehlte, meist keine Anstellung.
Später brach das deutsche Ausbildungssystem für nautische Offiziere fast ganz zusammen. Seefahrtschulen wie die in Bremen wurden zeitweise geschlossen. Mehrere Faktoren kamen zusammen: Der Wunsch der Reeder, niedrig entlohnte Seeleute aus dem Ausland als nautische Offiziere anzustellen; das Ausflaggen der Schiffe, das es ermöglichte, zusammengewürfelte Mannschaften einzustellen, ohne die strengen Vorschriften der Seeberufsgenossenschaft und der Klassifikationsgesellschaften einzuhalten, und das oben beschriebene Aushebeln des alten praxisorientierten Ausbildungsganges.
Das Ausflaggen der Schiffe, das in Deutschland Ende der 60er Jahre einsetzte, sollte helfen Kosten zu sparen. Denn Billigflaggenländer wie Panama haben viel laxere staatliche Vorschriften für Betrieb und Ausstattung der Schiffe, wodurch die Kosten für Unfallverhütung, Sicherheit, Mannschaftsunterbringung, Steuern und vieles andere sinken.
Mit ihren niedrigeren Frachtraten machten ausgeflaggte Schiffe schon bald nach Kriegsende anderen Anbietern auf dem Weltmarkt das Leben schwer. Für die Reeder in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft kamen die RGW-Staaten mit ihren Frachterflotten als Billigkonkurrenz hinzu.
1972 veröffentlichte der Verband der Reeder eine Studie über das "Schiff der Zukunft". Diese Studie machte die Absicht deutlich, die Betriebskosten der Schiffe radikal zu senken. Die Studie muss damals auf die Mannschaften gleich welchen Dienstgrades eiskalt, zynisch und berechnend gewirkt haben. Man merkt ihr noch heute ihre Stoßrichtung an: Rationalisierung und Automatisierung bis zum äußersten, der "Mensch ein Kostenfaktor", "Geiz ist geil" — all das, was wir heute unter dem Stichwort Neoliberalismus zusammenfassen. Diese Studie beschrieb die Zukunft, wie sie heute existiert. Die Reeder waren eine Art Avantgarde dieser "Bewegung", da sie am stärksten unter internationalem Konkurrenzdruck standen.

Jagd nach Größe

Arbeiteten auf einem nach Übersee verkehrenden Schiff in den 60er Jahren — etwa150 m lang mit 10000—15000 BRT — noch insgesamt 30—40 Mann, einschließlich Stewards, Koch und umfangreicher Maschinenbesatzung, so kommt heute ein sehr viel größeres und schnelleres Containerschiff von etwa 300 Meter Länge mit 12—15 Mann aus. Diese vergleichsweise winzige Mannschaft arbeitet in drei Schichten. Pro Schicht sind also nur 4 Mann überhaupt ansprechbar und "beleben" den fahrenden Stahlkoloss.
Ein Gemeinschaftsleben an Bord gibt es im Grunde nicht mehr. Die Seeleute vereinsamen. Reedereien gehen heute davon aus, dass ein leitender nautischer Offizier nur noch 4—5 Jahre zur See fährt, danach wird ihm meist ein Job an Land angeboten. Die technische Innovation des Containerverkehrs, Veränderungen in der Antriebstechnik und Wartung der Dieselaggregate, Veränderungen der nautischen Praxis an Bord (Radar, GPS, Kreiselkompass, Autopilot) haben Arbeiten überflüssig gemacht oder sind — wie zahlreiche Wartungsarbeiten - inzwischen an Land konzentriert. Den Arbeitsprozessen wird jede Gemütlichkeit, jede Pause, jedes Verweilen genommen. Letzthin wird der mit menschlichen Bedürfnissen ausgestattete Mensch ersetzt, die Maschine hat weder Kultur noch Seele, sie braucht kein antiquiertes "sich Wohlfühlen".
1966 begann in Bremen (nicht in Bremerhaven) der erste Containerverkehr. Wie schon Ende des 19.Jahrhunderts mit Weserbegradigung und - austiefung versuchte Bremen, den Frachtverkehr egoistisch an sich zu ziehen. Unter anderem wurde deshalb der Bau des Neustädter Hafens in Angriff genommen. Inzwischen sind die sechs Stunden Revierfahrt zwischen Bremerhaven und Bremen für die Reeder zu kostspielig geworden. In den 90er Jahren hat Bremerhaven die Rolle des Containerhafens übernommen.
Niemand glaubte in den 60er Jahren, dass der Containerverkehr so erdrückend und monopolisierend wirken würde, wie er es bis heute getan hat. Die klassische Stückgutfahrt ist in den hochentwickelten Ländern im Grunde verschwunden. In den 70er Jahren hatten die größten Containerschiffe eine Kapazität von knapp 5000 TEU (Twenty Foot Equivalent-Unit, ein 20 Fuß langer Container). Die Außenweser und die Elbe sind inzwischen für Schiffe mit 8000 TEU ausgebaut. Die derzeitige Höchstmarke liegt bei 9200 TEU.
Man rechnet damit, dass von 2007 bis 2009 etwa 100 Containerschiffe dieser Kapazität verkehren werden. Für die großen Schiffahrtsrouten sind jedoch Mega-Carrier in der Planung, die 12000—14000 TEU transportieren können. Wahrscheinlich gibt es hier aber eine Obergrenze, die nicht mehr gedehnt werden kann. Die erwarteten Mega-Carrier werden Bremerhaven und Hamburg nicht mehr anlaufen können. Der Weser-Jade-Port in Wilhelmshaven soll diesen Schiffen mit ihrem Tiefgang von 15—16,50 m und mehr gerecht werden.
Für diese Schiffe verlangen die Reeder nicht nur geeignete Zufahrten und Häfen, sondern auch immer größere und effektivere Containerumschlagsanlagen. Die Konkurrenz zwischen den einzelnen Häfen, die Fracht an sich ziehen wollen, zwingt sie dazu, den Forderungen der Reeder nach dem Ausbau der Häfen zu folgen: Die Hafeneinfahrten müssen vertieft werden, sodass sie auch bei niedrigen Wasserständen problemlos angelaufen werden können.
Damit die äußerst eng kalkulierten Fahrpläne für die riesigen Containerschiffe nicht durcheinander geraten, verlangen die Reedereien Abfertigungsgarantien, sogar dann wenn ein Schiff mal verspätet im Hafen erscheint. Hier treiben die Reeder die Umschlagsgesellschaften, Hafenbetreiber und Städte vor sich her: "Im Hinblick auf unsere Unternehmenszielsetzung — ‘Gewinnmaximierung‘ — sind wir in solchen Situationen verpflichtet, den kostengünstigsten Anbieter auszuwählen" (Adolf Adrion, 1997: Anforderungen eines Reeders an Containerterminals).
Die Infrastrukturinvestitionen übernimmt die öffentliche Hand, d.h. der Steuerzahler. Die öffentliche Hand wiederum treibt Natur- und Umweltschutzorganisationen vor sich her, die sich kritisch mit Sinn und Unsinn der Eingriffe auseinandersetzen.
Nur ein Beispiel für die Veränderungen am Leib der Natur (das sind wir, wir sind es aber auch nicht): Heute hat die Weser einen Tidenhub von etwa 4 Metern in der Bremer Innenstadt. Vor der Weseraustiefung und -begradigung, die ab 1887 nach den Vorschlägen von Franzius durchgeführt wurde, lag der Tidenhub an den Brücken der Innenstadt bei 15 Zentimetern. Die Tide der Nordsee erreichte in diesem noch naturnäheren Zustand Bremen gar nicht. Doch schon um 1900 war das Ökosystem Unterweser bis zur Unkenntlichkeit verändert. Eines der unmittelbarsten, auch ökonomischen Opfer war die Unterweser-Fischerei, die ihre Fischgründe insbesondere im Gebiet zwischen Vegesack und Nordenham verlor. Aber auch die im 19.Jahrhundert noch aktive Kleinschifffahrt wurde durch die größer und größer werdenden Schiffseinheiten verdrängt.
Die Reeder stehen untereinander in Konkurrenz und das inzwischen nahezu weltweit. Sie konkurrieren um die günstigsten Frachtraten, den schnellsten und zuverlässigsten Service, geringe Schadensquoten und inzwischen auch um die Verknüpfung des eigentlichen Seetransports mit kompletten Haus-zu-Haus-Logistiksystemen (Lieferung möglichst just-in-time). Preisabsprachen sind jedoch möglich. Kartelle im Seeverkehr sind seltsamerweise sogar durch EU-Recht gedeckt. Hier ist das Hauen und Stechen etwas eingeschränkt.
Auch die technische Innovation treibt, wenn sie sich ausbreitet, ganze Sozialsysteme vor sich her — und zwar weltweit. Der Container, in den 50er Jahren in den USA erfunden, war zunächst eine Revolution in der Umschlagstechnik, er hat später den Schiffbau, dann aber auch ganze soziale Systeme in den Häfen und ihrem Umland verändert. Moderne Containeranlagen "arbeiten" fast ohne Menschen. Zeitersparnis und Beseitigung des lebendigen, bedürfnisgeprägten Menschen sind auf die Spitze getrieben.
Ein traditionelles Frachtschiff, das man noch bis in die 80er Jahre im Bremer Hafen "bewundern" konnte, benötigte eine Schiffsmannschaft (Decksmannschaft) und einen Ladeoffizier. Um das Stückgut, sagen wir sechs Kaffee- oder Linsensäcke, aus dem Schiffsbauch ins Lagerhaus zu befördern, brauchte man an Land neben dem Kranführer mehrere Stauer, die in gabelstaplerlosen Zeiten die Säcke mithilfe der Sackkarre ins Lagerhaus hinein und später wieder hinaus rollerten. An Land waren pro Luke fünf bis sechs Personen tätig, auf dem Schiff drei bis vier.
Der Lade- und Entladevorgang war langwierig. Liegezeiten von mehreren Tagen, die neben Personal auch Liegegelder kosteten und vor allem Zeit, Zeit verschlangen, und das aus heutiger Sicht sehr umständliche Zwischenlagern im Lagerhaus erhöhten den Gesamtpreis des Seetransports. Die Mannschaften der früheren Überseefrachter konnten aber in den angelaufenen Ländern und Häfen nach der Schicht das lang entbehrte Landleben genießen, eine ausgedehnte Vergnügungsindustrie, Bars, Restaurants, Spielhöllen, Hotels, liegendes Gewerbe waren in der Nähe der Häfen angesiedelt.
Walle, direkt am Bremer Hafen gelegen, war ein pulsierendes Gebiet mit Läden, Kneipen, Bars, Spelunken und Prostituierten. Walle ist heute vergleichsweise tot. Die Containerschiffe, die bis auf einige Ausnahmen seit den 90ern nur noch Bremerhaven anlaufen und nicht mehr nach Bremen kommen, be- und entladen innerhalb weniger Stunden, die Mannschaften treten gar nicht mehr in Kontakt mit dem von ihrem Schiff angelaufenen Land. Für Erzfrachter, die innerhalb von acht Stunden ihre 30000 Tonnen Roheisenerz für die Stahlhütte entladen können, gilt dasselbe. Das Prinzip der Zeit- und Arbeitsersparnis — ein Schiff ist nur dann für den Reeder produktiv, wenn es fährt — hat ganze Städte sozial umgekrempelt, Bremen ist ein Beispiel dafür.
Der Kunde, der die Fracht verlädt, treibt die Gesamtheit der Reeder und Logistik-Anbieter vor sich her. Der Importeur, der seine Ware in Deutschland auf den Markt bringt und einen günstigen Verkaufspreis erzielen will und muss, wird wiederum von den Einzelhändlern und von der Masse der Endverbraucher angetrieben, die nach Marktgesetzen das beste Produkt zum möglichst geringen Preis erwerben wollen. (Hallo, das sind wir!)
Die Reeder aber und die mit ihnen verknüpfte Transportmaschinerie stehen vornehmlich unter dem Druck und der Aufsicht der sie finanzierenden Banken, die in die Reedereien investiert haben oder über Schiffshypotheken an ihren Gewinnen teilhaben. Schiffsbeteiligungsgesellschaften verkaufen Parten von Schiffen auch an Kleinanleger. Bei Gewinnerwartungshorizonten von 20—25% pro Jahr, wie sie die Hedgefonds oder die Deutsche Bank propagieren, muss das Reedereigeschäft entsprechend gedeihen.
Perfektionierte, relativ preisgünstige Logistiksysteme ermöglichen es, dass Produktionsbetriebe überhaupt darangehen können, sich kleinste Elektronikteilchen aus China oder von den Philippinen "mal eben rüberschicken" zu lassen. Vor allem die Seelogistik schafft überhaupt erst die Bedingungen dafür, dass die sogenannten Alt-Industrien ausgelagert und die Arbeiter in Asien gegen die in Europa ausgespielt werden können. Der Seetransport in seiner heutigen Form ist damit eines der Instrumente, das die Globalisierung vorantreibt. (Aber ist die Entdeckung des Seewegs rund um Kap Hoorn oder das Kap der Guten Hoffnung etwas anderes gewesen?) Der Produzent eines Rasierapparats, bspw. die Firma Braun, fühlt sich getrieben, sich für die benötigten Komponenten den jeweils billigstmöglichen Produktionsstandort irgendwo auf dem Globus zu suchen. Die in "alten Zeiten" hemmend wirkenden Entfernungen und Transportkosten zwischen den Kontinenten sind geschmolzen. "Arbeitsplätze gehen verloren", wie wir quasi bewusstlos sagen. Die Voraussetzungen dafür, dass das geschieht, werden nicht mit angesprochen, nicht mitgedacht.

Solidarität, wo?

Wurden in den 50er bis 70er Jahren per Schiff vor allem Rohstoffe transportiert, so hat die hoch entwickelte Logistik einen Sog geschaffen, Fertigwaren, Komponenten, leicht- und schwerindustrielle Produkte jedweder Couleur zu transportieren. Ein Holzhändler in Norddeutschland kauft sein Holz nicht im Wendland, das ist viel zu teuer, er importiert es aus Norwegen, Schweden, Russland oder sonst woher. Umgekehrt haben chinesische Wohnungsausstatter und Möbelfabriken das europäische Buchenfurnier als attraktiv entdeckt, deshalb wird Buche aus Frankreich und Deutschland in die Furnierfabriken nach China geliefert. Der Kunde im holzarmen China treibt den Importeur vor sich her, es entstehen neue Bedürfnisse, die früher zu erfüllen oder zu schaffen, gar nicht denkbar gewesen wäre.
Es ist ein System aufeinander einwirkender Peitschen, die jede gesellschaftliche Gruppe in der Hand hält, obwohl sie als solche auch getrieben ist und keineswegs autonom.
Das galt und gilt auch für den Schiffbau. Der deutsche Stahlschiffbau kam ab Mitte der 60er Jahre unter den Druck der japanischen und koreanischen Werften, die sehr großzügig von ihren Staaten subventioniert wurden. Der Reeder, selbst vom Gesetz des geringstmöglichen Preises getrieben, treibt die Werften vor sich her und kauft nur dort, wo er die technisch akzeptable, dauerhafte Ware zum geringstmöglichen Preis erwerben kann. Es ist ein System verallgemeinerter Prostitution. Es gibt keine romantischen Bindungen. So existierte zur Zeit der deutschen Werftenkrise keine Solidarität zwischen den Schiffe anschaffenden deutschen Reedereien und den hier ansässigen Werften sowie den vom Werftbetrieb lebenden "Städten".
Man ließ die Werften am ausgestreckten Arm verhungern. Staatliche Subventionen, in zu geringer Höhe, oft unzuverlässig in der Bewilligung, bedrohten die Werften zusätzlich. Deutschland hat heute keine als vollständig anzusehende Schiffbau-Branche mehr. Aber das ist kein Einzelfall. Das Vereinigte Königreich, eine der größten Seemächte der Welt bis zum Zweiten Weltkrieg, hat kein eigenes Werftensystem mehr, Schweden hat keins mehr. Obwohl zur Zeit ebensoviel Tonnage weltweit neu bestellt ist, wie derzeit fährt, entstehen in Deutschland keine zusätzlichen Werftbetriebe.
In der Boomphase der deutschen Wirtschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnten immer höhere Löhne und Gehälter erzielt werden. Die Gewerkschaften und ein tendenzieller Mangel an Arbeitskräften (eine sehr geringe Arbeitslosigkeit) trieben die Reeder dazu, sich nach billigeren Mannschaften auf dem Globus umzusehen und das Schiff der Zukunft mit halbierter Mannschaft zu ersinnen.
Doch geht man in der Geschichte weiter zurück, so hat es eigentlich nie ein stabiles, nachhaltiges, sich nicht veränderndes System des Seehandels und Seetransports gegeben. Weser und Hunte waren früher gespickt mit kleinen und größeren Werften und einer breiten Schicht von Fahrensleuten, die Kuffen, Tjalken, Weserkähne, Rahsegler im Nah- und Fernverkehr einsetzten. Im Vergleich zum gegenwärtigen Massentransport und -konsum war es ein kleinräumiges, kleinmaßstäbiges Gewerbe, wie es dem technischen Niveau und den Konsummustern der Gesellschaft entsprach, ein noch individuelles, auf den "kleinen" Ort, den "kleinen" Reeder, Kapitän und seine Gehilfen, die einzelne "kleine Fracht" ausgerichtetes System, dessen Hauptenergiequelle kostenloser (manchmal auch Gefahr bringender) Wind, nicht Kohle oder Öl waren. Diese Welt ist ebenso verschluckt worden vom System der sich wechselseitig voreinander hertreibenden gesellschaftlichen Gruppen und technischen Innovationen wie die Stückgutfrachter der 60er und 70er Jahre.
Die Faktizität dieses Systems ist mächtig. Die Schäden, die es an den Individuen, an der sog. Natur, an sozialen Systemen verursacht, sind kontraproduktiv, zerstörerisch. Wäre es sinnvoll, wenn alle Beteiligten sich zusammensetzten und mal darüber nachdächten, wie ein — wir sagen aus Gewohnheit "Wirtschaftssystem", besser wäre vielleicht eine "Lebensform" — ein System gegenseitiger Beziehungen, ein Verhältnis zum Anderen, zur Natur und zur Technik aussehen könnte, das alle Beteiligten in ein sinnvolles, solidarisches und humanes Verhältnis zueinander setzen könnte?
Thomas Hoppe
Ursprünglich zusammen mit dem Text von Kafkas "Auf der Galerie" in Eselsohr — Our view of the city, Nr. 2/2005.

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang