SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2006, Seite 14

EU: Wettbewerb contra Umwelt

Wie die Chemieindustrie ökologischen Schutz verhindert

Die Auswirkungen der chemischen Verschmutzung sind in zahlreichen Studien an Tieren gut erforscht. Unzählige Beispiele zeigen, dass eine ganze Reihe dieser Produkte das Hormonsystem schädigt: Wenn sie "endokrinen Schadstoffen" (die das Hormonsystem schädigen) ausgesetzt sind, ändern Weichtiere im Meer ihr Geschlecht, Seemöwen werden Hermaphroditen, Greifvögel legen Eier, die zerbrechen, Robben verlieren ihre Immunabwehr usw.
Weil es keine systematischen Tests gibt, sind die Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit weniger gut bekannt. Trotzdem sind immer mehr Spezialisten davon überzeugt, dass die chemische Vergiftung eine der direkten oder indirekten Ursachen für die beobachtete Zunahme von Krankheiten wie Asthma, Krebs, Hormonstörungen, genetische Mutationen, bestimmte Deformationen des Fötus und einige Nervenerkrankungen ist. Besonders beunruhigend sind die Konsequenzen der Umweltverschmutzung für schwangere Frauen und Kinder, denn ein Organismus, der sich im Wachstum befindet, nimmt mehr Schadstoffe auf. Bei immer mehr Kindern treten Allergien auf.
Die Tatsache, dass Asthma bei den Kindern weltweit zur wichtigsten chronischen Erkrankung geworden ist, ist wahrscheinlich nicht nur der Luftverschmutzung, sondern auch der chemischen Verschmutzung, etwa der Nahrungsmittel, geschuldet. Einige Neurologen glauben, dass das häufigere Auftauchen des Syndroms fehlender Aufmerksamkeit oder der Hyperaktivität bei jungen Menschen zumindest teilweise der chemischen Verschmutzung zugeschrieben werden kann.
In der Fachliteratur finden sich viele Beispiele dieser Art. Häufig jedoch werden die Grenzwerte (sofern es überhaupt welche gibt) im Hinblick auf die Auswirkung der Produkte auf erwachsene Männer festgelegt. Darüber hinaus gibt es wenig Studien über die Auswirkungen von "Cocktails" (vermischte Substanzen).

Was ist REACH?

In dem Maße, wie die Beunruhigung über die Umweltbelastung zunahm, wurde auch deutlich, dass die Umweltschutzgesetzgebung in Europa stark zersplittert und daher für den großen Binnenmarkt ungeeignet ist. Der Wille, beide Seiten in Übereinstimmung zu bringen und aus der Europäischen Union einen wichtigen Akteur "nachhaltiger Entwicklung" zu machen, lag dem Prozess zugrunde, der zum europäischen Projekt REACH führen sollte.
Im April 1988 verlangte der Rat der Umweltschutzminister von der Kommission, sie möge ein Projekt für eine europäische Regulierung chemischer Produkte vorbereiten. Ein gutes Jahr später gab der Rat der Kommission den Auftrag, einen Vorschlag für eine "neue Politik" auszuarbeiten, die sich auf nachhaltige Entwicklung und das Prinzip der Vorsicht gründen und der Industrie die Beweislast für die Ungefährlichkeit ihrer Produkte übertragen sollte.
Heraus kam das Weißbuch Strategie für eine zukünftige Politik gegenüber chemischen Substanzen, das Anfang 2001 zunächst von der Kommission, dann vom Rat angenommen wurde. Gegen diesen Text startete die Chemieindustrie eine Kampagne, die ihresgleichen sucht.
Das Weißbuch von 2001 war von Fachleuten im Umweltbereich der EU-Kommission redigiert worden. Es sah vor, binnen elf Jahren ein System der Registrierung, Evaluierung und Zulassung von chemischen Substanzen aufzubauen, eben REACH. Die wichtigsten darin vorgesehenen Maßnahmen waren folgende:
Registrierung der etwa 30000 chemischen Produkte, die jährlich im Umfang von mehr als einer Tonne produziert oder importiert werden.
Verpflichtung der Industrie, Daten über die wesentliche Zusammensetzung dieser 30000 Produkte zu liefern, um sie auf ihre Umweltschädlichkeit überprüfen und eventuelle Nutzer darüber informieren zu können. Auch die Benutzer sollten in die Verantwortung einbezogen werden können.
Einführung unterschiedlicher Evaluierungsniveaus gemäß der Gefährlichkeit der Bestandteile der Produkte, ihres Einsatzes, ihrer Ausbringung und ihrer Quantität.
Anregung von Untersuchungen über Ersatzprodukte für "sehr Besorgnis erregende" Stoffe (weil Krebs, Mutationen oder Vergiftungen auslösend). Sollten keine Ersatzstoffe zur Verfügung stehen, sollte die Produktion an eine besondere Genehmigung und eine Reihe von Bedingungen gebunden werden.
Bis zum Jahr 2012 die schrittweise Aufnahme der bestehenden Substanzen ins Register, wobei in den ersten fünf Jahren die Substanzen getestet werden sollten, denen wir häufig ausgesetzt sind und deren Bestandteile bekanntermaßen oder wahrscheinlich "sehr Besorgnis erregend" sind.
Aufbau einer europäischen Agentur, um die Datenbasis zu verwalten, die Produkte zu klassifizieren, zu identifizieren und zu kennzeichnen, für jedes von ihnen eine Sicherheitskarte zu entwerfen, die Maßnahmen zum Umgang mit den Risiken enthält, usw.
REACH sollte die Industrie mit jährlich 2,1 Milliarden Euro über elf Jahre belasten — eine durchaus erträgliche Last, wenn man bedenkt, dass der Umsatz der Branche im gleichen Zeitraum bei über 5000 Milliarden Euro liegen würde. Beim Vergleich von Kosten und Nutzen setzte das Weißbuch jene 2,1 Mrd. Euro mit den wachsenden Ausgaben ins Verhältnis, die den Krankenkassen allein für Umwelterkrankungen entstünden. Die EU-Beamten errechneten, dass die Krankenkassen durch REACH in elf Jahren 54 Milliarden Euro einsparen könnten. Kann die mächtigste Chemieindustrie der Welt nicht einmal 0,042% ihres Umsatzes dafür einsetzen, die Schadensfreiheit ihrer Produkte zu garantieren, um die Gesundheit der Menschen und die Qualität der Umwelt zu verbessern?

Die Gegenoffensive der Unternehmer

Die Reaktion der Unternehmer hat gezeigt, dass solche Überlegungen, die davon ausgehen, Kosten für die Industrie mit Gewinnen für die Gesellschaft zu kompensieren, völlig utopisch sind. Nach der Annahme des Weißbuches startete der Europäische Rat der Chemieindustrie (CEFIC) eine große Kampagne, die drei Vorwürfe in den Mittelpunkt stellte:
1. REACH sei erdrückend bürokratisch, unwirksam und die Kosten lägen weit höher, als von der Kommission berechnet. 2. REACH sei weitgehend unnütz, weil die Industrie bereits freiwillig weitreichenden Regelungen für den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz zugestimmt habe und sie umsetze. 3. REACH stehe im Gegensatz zur "Strategie von Lissabon" und gefährde die Wettbewerbsfähigkeit eines Schüsselsektors der Wirtschaft und somit die Beschäftigung (1,7 Millionen Menschen seien in dieser Industrie direkt, 3 Millionen indirekt beschäftigt).
Erhebliche Mittel wurden aufgewendet und in Studien gesteckt, die zu immer katastrophaleren Konsequenzen kamen. Eine dieser Studien prognostizierte den Verlust von 2,35 Millionen Arbeitsplätzen allein in Deutschland. Eine andere sagte einen Rückgang des Volkseinkommens in Frankreich von zwischen 1,7 und 3,2% voraus. Alle diese sog. wissenschaftlichen Studien wurden widerlegt, einige sogar von offiziellen Stellen; trotzdem fanden sie in den Medien großes Echo.

Ihre politischen Handlanger

Drei Aspekte dieser außergewöhnlichen Offensive verdienen, näher beleuchtet zu werden: die Einmischung der amerikanischen Chemieindustrie und der Bush-Regierung, die spektakuläre Intervention von Blair, Chirac und Schröder und, last but not least, die Mitwirkung der Gewerkschaftsverbände, die im Europäischen Verband der Berg-, Chemie- und Energiearbeiter (EMCEF) zusammengeschlossen sind.
Die Fakten in aller Kürze:
Kapitalisten aller Länder, vereinigt euch gegen Regulierungen: Die europäischen und amerikanischen Chemieunternehmer liefern sich einen heftigen Konkurrenzkampf, doch gegen REACH haben sie eine unverbrüchliche Einheitsfront geschlossen. Das American Chemistry Council (ACC) machte gemeinsame Front mit dem CEFIC, zum einen um die Exporte auf den europäischen Markt zu sichern, zum anderen um zu verhindern, dass REACH zu einem Modell für eine vergleichbare Gesetzgebung in den USA wird.
Die Schlacht wurde über den Transatlantic Business Dialogue (TABD) koordiniert, ein wichtiges Zentrum zur Ausarbeitung von freihandelspolitischen Ansätzen für die Unternehmer. Das ACC wirkte in diesem Sinne auf seine Mitglieder, die Presse und vor allem die Bush-Regierung ein, deren Wahlkampagne sie vorher aktiv unterstützt hatte. Es gibt einen Bericht, der bis in die Einzelheiten zeigt, wie das Weiße Haus auf Drängen der Chemieunternehmer sich selbst und den Staatsapparat gegen REACH in Stellung gebracht hat.
Nicht nur Außenminister Colin Powell hat den Botschaften und Wirtschaftsvertretern der USA in 50 Ländern Ratschläge erteilt, auch eine Reihe anderer Instanzen haben das ihrige dazu beigetragen. Der Höhepunkt war wohl, dass die höchsten Vertreter der US-amerikanischen Umweltschutzbehörde (EPA, Environment Protection Agency) nach Europa geschickt wurden, um zu erläutern, welche Vorteile eine freiwillige Evaluierung von chemischen Stoffen durch die amerikanischen Unternehmen für den Umweltschutz hätte.
Die gemeinsame Intervention von Blair, Schröder und Chirac war von gleichem Kaliber. Auf ihrem Treffen in Berlin im September 2003 verfassten die drei einen offenen Brief an Romano Prodi. Darin wurde der damalige Präsident der EU-Kommission im Namen der Ziele von Lissabon deutlich zur Ordnung gerufen: "Es ist entscheidend, alle wichtigen Projekte der Gemeinschaft daraufhin zu überprüfen, welche möglichen Auswirkungen sie auf die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie haben." Deutlicher kann man es nicht sagen. Der Zeitpunkt war auch nicht zufällig gewählt: zu jenem Zeitpunkt wurde in den Brüsseler Büros die "endgültige" Version von REACH zurechtgestutzt, die dann ans Europäische Parlament gehen sollte.
Besonders hervorgehoben werden sollte die Tatsache, dass der EMCEF eine "gemeinsame Position" mit den Unternehmern unterzeichnet hat. Der Text beginnt damit, "die wichtige Rolle der Chemieindustrie für die europäische Wirtschaft und Beschäftigung als eine der am meisten internationalisierten, wettbewerbsfähigen und innovativen Branchen" zu betonen. In 25 Jahren seien von 100000 Produkten 2700 neue entwickelt worden.
Alle Schlüsselthemen der Unternehmerpropaganda sind in diesem Dokument enthalten: Vorrang für freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie, für die Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit, für den Schutz des Industriegeheimnisses, Anprangerung von "unnützem bürokratischem Ballast", die besondere Situation der kleineren Unternehmen, die gute Zusammenarbeit zwischen Unternehmensleitungen und Gewerkschaften bei der Verbesserung der Gesundheit am Arbeitsplatz usw. Die Schlussfolgerung kann nicht überraschen: Zusammen mit den Unternehmern verlangt der EMCEF "den Erhalt des bestehenden gesetzlichen und operationellen Rahmens" für chemische Produkte.
Um die Tragweite dieser gemeinsamen Erklärung von Unternehmern und Gewerkschaften ermessen zu können, muss man berücksichtigen, dass sie im November 2003 unterzeichnet wurde, also nachdem die Industrie, Bush und Blair/Chirac/Schröder ihren Druck aufgebaut hatten. Die EU-Kommission sah sich nun gezwungen, das REACH-Projekt ganz und gar zu verwässern.
Der Text, den der Brüsseler Gipfel im Oktober 2003 annahm, gegen den sich die gemeinsame Erklärung wandte, ist nur noch ein Schatten des früheren Weißbuchs: Die von den Unternehmen zu liefernden Informationen für die Registrierung von Substanzen wurden beträchtlich reduziert; die Evaluierung betrifft nur noch 10% der Produkte, die meisten Importe sind nicht mehr betroffen, der Schutz des Datengeheimnisses in Handel und Industrie wird zu Lasten der Verbraucherinformation noch verstärkt; die Produktion von Substanzen mit sehr Besorgnis erregenden Wirkungen kann fortgesetzt werden, sogar wenn es Ersatzprodukte gibt, sofern nur der Produzent nachweisen kann, dass "adäquate" Kontrollmaßnahmen getroffen wurden.
Durch seine Unterschrift unter die "gemeinsame Erklärung" hat sich der EMCEF mit einer kämpferischen Unternehmerschaft verbündet, die — vom Erfolg ihrer Offensive berauscht — diesen Vorteil bis zum vollständigen Sieg ausnützen möchte.

Genug ist nicht genug
Die Geschichte von REACH ist die Geschichte eines Schrumpfkopfes. Außer den bereits genannten haben die Unternehmer folgende Zugeständnisse erhalten: Keine Registrierung bei einer Produktion bis zu einer Tonne pro Jahr, keine Tests bei einer Produktion bis zu zehn Tonnen pro Jahr, Ausnahmen für Polymere und Zwischenprodukte, Aufsicht über REACH nicht nur durch das Kommissariat für Umwelt, sondern auch durch das Industriekommissariat. So wurden die Kosten für die Industrie schließlich auf 0,01% vom Umsatz reduziert. Aber selbst dies ist den Unternehmern noch zuviel. Ihr eigentliches Ziel ist ein System, in dem die Evaluierung von Toxizität und Umweltschädlichkeit ganz zugunsten einer "Risikoeinschätzung" aufgegeben wird, ohne über Ersatzstoffe nachdenken zu müssen. Im Wesentlichen liefe das auf den Status quo hinaus.
Durch zahlreiche Manöver wurde die Behandlung von REACH im Europäischen Parlament auf die Zeit nach den Wahlen von 2004 verlegt. Am 17.November 2005 hat sich das Europäische Parlament endlich mit REACH beschäftigt. Wie oben bereits angedeutet, hat die Parlamentsmehrheit weitere Zugeständnisse an die Chemieindustrie beschlossen. Für die 20000 Substanzen, die in einer Größenordnung von einer bis zehn Tonnen jährlich auftreten, muss nur für die gefährlichen Stoffe eine Evaluation vorgenommen werden und für die Substanzen bis 1000 Tonnen wurden die Vorgaben weiter aufgeweicht. Der Text gehe "in eine gute Richtung", meinte dann auch der Pressesprecher von UNICE, der Vertretung der europäischen Unternehmer.
Warum aber nur in eine "gute Richtung"? Weil vom Europäischen Parlament die Verpflichtung beschlossen wurde, gefährliche chemische Substanzen durch sicherere Alternativen zu ersetzen, soweit solche vorhanden sind. Diese Vorgabe hat die Chemieunternehmer nicht ruhen lassen: Ihre Lobbyarbeit bewirkte, dass der Ministerrat auf seiner Sitzung Anfang Dezember 2005 beschlossen hat, diese "Verpflichtung" in eine einfache "Empfehlung" umzuwandeln. Demnächst wird sich das EP wieder mit der Angelegenheit befassen.

Daniel Tanuro

Bei dem Beitrag handelt es sich um die von der Redaktion gekürzte Fassung eines Beitrags in dem soeben erschienenen und von Angela Klein und Paul Kleiser herausgegebenen Sammelbands: Die EU in neoliberaler Verfassung, Köln: Neuer ISP-Verlag, 160 S., 16 Euro.




Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang