SoZ - Sozialistische Zeitung |
Soeben in Hanoi angekommen verlasse ich mein Hotel. Ich denke sofort, ich
müsse die ganze Zeit auf einer Seite der Straße verbringen. Die Aussicht, auf die andere Seite zu
wechseln, erscheint mir sehr gering. Endlose Mopedschlangen quälen sich ohne anzuhalten vorbei. So
jongliere ich an der Straße entlang und mache mich diesseits ortskundig. Auch das funktioniert nicht
gefahrlos, weil sämtliche Bürgersteige durch Mopeds zugestellt sind.
Das lachende Gesicht eines Cyclofahrers schaut
mich an: "Where you from?" Ein Blick rundum belehrt mich, damit auf keinen Fall zu fahren, denn ich
hänge ziemlich an meinem Leben. Nach einer Stunde brennt es in meiner Brust, weil sich stinkende Abgase in
meiner Lunge festsetzen. Nun ist mir klar, warum viele mit einem Mundschutz unterwegs sind. Offensichtlich
glauben viele, dass er etwas nützt.
Erst Tage später habe ich begriffen, wie
das funktioniert mit dem Verkehr. Es ist eine Art Reissverschlusssystem, bei dem man sich einfach konsequent
über die Straße einfädeln muss. Alle fahren dann vor und hinter einem vorbei, wobei wiederum
Autos die Vorfahrt haben. Es sei denn, es ist ein Krankenwagen, für den wird nicht immer frei gemacht.
Grundsätzlich ist das wichtigste Verkehrszeichen das Hupen. Hiervon wird viel Gebrauch gemacht, auf jeden
Fall immer profilaktisch, was den ohrenbetäubenden Verkehrslärm erklärt. Bislang scheint das
mehr als Fortschritt denn als Umweltkatastrophe gesehen zu werden.
Ich überlege kurz, warum ich
überhaupt hier bin. Doch mich interessiert dieses Land mit dem in über dreißig Jahren Krieg
gequälten und unterdrückten Volk, dass so zäh Widerstand geleistet hat. Nach dem letzten Krieg
nach inzwischen 30 Jahren leiden noch immer Millionen von Vietnamesen unter den Folgen des
verbrecherischen sog. Amerikanischen Krieges, große Gebiete sind nach wie vor unbewohnbar. Und
unkultivierbar wegen Agent Orange, dem durch US-Bomber versprühten Dioxingift.
1975 wurde Vietnam bis 1969 unter Führung des Nationalhelden Ho Chi Minh vom US-
amerikanischen Krieg befreit. Liebevoll nennen viele ihn heute noch Onkel Ho. Noch hängen an jeder Ecke
seine weisen Sprüche nebst sozialistischen Hochhalteparolen. Auf dem riesigen Plakat steht: "Lebt,
kämpft, arbeitet und lernt nach dem Vorbild des großen Onkel Ho!" Das wirkt etwas verstaubt.
Daneben auf Plakaten westliche Werbung, die genauso auffallend ist und den Bruch in der Gesellschaft
offensichtlich macht, der sich durch eine parallele Entwicklung zwischen dem Realsozialismus sowjetischer
Prägung und dem Kapitalismus auftut.
Die Öffnung in Richtung Westen begann Ende
der 80er Jahre nach dem Zusammenbruch der Ostblockstaaten und des RGW. Die Folge war ein völliges
Ausfallen des Außenhandels und stellte das Land vor riesige Probleme, die durch die spätere Krise der
"Tigerstaaten" noch verschärft wurden. Die neue Öffnung wird "Doi-moi" genannt
und ist Vietnams Sonderweg. Die Bemühungen um eine Aufnahme in die WTO laufen auf Hochtouren. Inzwischen
zeigt sich aber immer deutlicher der ungesunde Spagat zwischen Kapitalismus und "sozialistischem"
Überwachungsstaat.
Trotz der enormen Schwierigkeiten hatte Vietnam
im Jahr 2000 immerhin ein Wachstum von 6%. Handys haben inzwischen viele, aus allen körperlichen Lagen
wird telefoniert mit dem Besitz eines Mopeds zusammen sicher Ausdruck eines gewissen Wohlstands. Die
Schere in Vietnam verläuft indessen nicht nur zwischen dem eher "kommunistisch" orientierten
Norden und dem kapitalistisch orientierten Süden. Vor allem verläuft sie zwischen Arm und Reich und
klafft immer weiter auseinander.
Zwischen endlos erscheinenden und Prosperität vortäuschenden Verkaufsräumen an den
Straßen mit ewig gleichem Touristenkram sieht man im hereinbrechenden Abend eine ansteigende Zahl von
Bettlern und Behinderten, die auch etwas vom Wohlstand der Touristen abbekommen wollen. In Ho-Chi-Minh-Stadt
fallen besonders viele Kinder auf, die von den Eltern zum Betteln auf die Straße geschickt werden. In
Sekundenabständen werde ich von Losverkäufern angesprochen, oder Straßenhändler
möchten mir einen Mundschutz, ein Feuerzeug oder Kaugummi aufschwatzen. An jeder Ecke findet man
Garküchen oder Obstverkäufer. Irgendetwas muss verkauft werden, um in den nächsten Tag zu
kommen.
Mit schlechtem Gewissen quäle ich mich
durch die Handelnden und Bittenden. Aus Solidarität möchte ich allen etwas abkaufen, doch das ist
unmöglich. Mein "No, thank you" ist schnell eingeübt und kommt jetzt automatisch.
Inzwischen ist der Spruch auf T-Shirts zu haben, damit man endlich den Mund halten kann. Einst schwebte Ho Chi
Minh die klassenlose Gesellschaft vor, als er sagte: "Es gibt nichts, was schöner und herrlicher ist
als Unabhängigkeit und Freiheit." Dem größten Teil der Vietnamesen verbleibt nur der erste
Halbsatz von diesem Traum: "Es gibt nichts..."
Vor allem die jungen Menschen träumen von
einem "zivilisierten" Kapitalismus. Ich sehe, wie ein Hotel durch private Wachleute abgesperrt wird.
Der Eingang ist geschmückt mit rosa Herzchenluftballons und einem Blumenkranz darum. Daneben steht ein
Poster von fast zwei Quadratmetern, das ein überaus hübsches Hochzeitspaar zeigt. Ein großer
Mercedes fährt vor. Das Paar steigt aus und macht deutlich, dass es stolzer Besitzer des Autos ist. Die
Kleidung ist westlich und stammt wahrscheinlich aus einem der modernen Konsumpaläste mit westlicher
Markenware zu westlichen Preisen, die sich hier kaum jemand leisten kann. Ausdruck einer neuen Geldelite. Die
herumstehende staunende Armut wird durch die Wachleute auf Abstand gehalten.
Schnell stellt sich die Frage, wie man in einem
so armen Land zu solch einem teuren Auto kommt, auf das auch noch 300% Luxussteuer zu zahlen ist. Durch Insider
werde ich später aufklärt: Korruption ist ein gängiges Mittel, um in Vietnam zu Vermögen zu
kommen. Ob als Parteibonze oder als Kapitalist spielt dabei keine Rolle. Wer dieses Spiel nicht beherrscht, ist
auf der Verliererseite.
Im Norden des Landes hatte die Armut in der Landbevölkerung zu Aufständen geführt, weil sich
Hunger breit machte. Dort herrscht die kleinbäuerliche Familienwirtschaft auf 60 von insgesamt 83
Millionen Miniparzellen vor. Beschwörend wendet sich die Regierung an das Ausland mit der Bitte, die
landwirtschaftliche Entwicklung zu unterstützen. Denn die Preisschere zwischen modernen
Gebrauchsgütern und im Land unwirtschaftlich produzierten Nahrungsmitteln macht ein Überleben im
ländlichen Raum deshalb zunehmend schwerer.
Folgen hat die Entwicklung auch auf sozialem
Gebiet. Das Auseinanderfallen der alten solidarischen Dorfgemeinschaften führt dazu, dass die Netze im
Falle von Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit ihre Wirkung verlieren. Vor einigen Jahren wurden zudem die
Krankenhäuser privatisiert. Wer nicht bezahlen kann, hat keinen Anspruch auf Versorgung und Heilung. Die
Abwanderung Junger in die Städte ist ungebrochen. Allein in Ho-Chi-Minh-Stadt leben fast 6 Millionen
Menschen, ein Drittel davon Landflüchtlinge. Die Arbeitslosigkeit wird offiziell mit sieben Prozent
angegeben, doch sie dürfte um ein Vielfaches höher liegen. In den Städten wächst die
Arbeitslosigkeit stärker. Manche schätzen sie auf 25%. Das zwingt die Menschen, für wenig Geld
zu arbeiten. Die Bevölkerungsentwicklung verschärft das Problem. Sie nimmt trotz staatlich
geforderter Enthaltsamkeit schnell zu und wird das Land in wenigen Jahren vor noch viel größere
Probleme stellen.
Ein weiterer Grund für wachsende Armut ist die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. 50 Dollar im
Monat bei täglich zwölfstündiger Arbeit, das mag reichen, um billige Schuhe herzustellen.
Immerhin ist Vietnam Deutschlands drittgrößter Schuhlieferant. Aber auch in Vietnam sind 50 Dollar zu
wenig. Eine Familie braucht zum Überleben mindestens 150 Dollar, wobei der gesetzliche Mindestlohn
zwischen 30 und 45 Dollar im Monat liegt. Ob er eingehalten wird, prüft niemand. Eine Reservearmee von 40
Millionen meist junger Vietnamesen steht bereit, für weniger zu arbeiten.
Hat man es einmal in eine solche Firma
geschafft, gibt es keinerlei soziale Absicherung. Unabhängige Gewerkschaften zur Interessenvertretung gibt
es nicht. Das Wort Arbeitsschutz ist unbekannt. Da liegt es nahe, dass die Firmen ausländischer Investoren
ungern Einblick in ihr geschäftliches Treiben geben möchten. Ihre abweisende Architektur macht das
unzweifelhaft deutlich. Am Rande von Ho-Chi-Minh-Stadt stehen gefängnisgleiche Gebäudekomplexe, die
keinerlei Einblick bieten, mit hohen Wänden, Stacheldraht, Elektrozaun und Wachleuten.
Wenngleich die Entwicklung des
Marktradikalismus fortschreitet, bremst die sozialistische Regierung ausländische Investitionsprojekte
gelegentlich ab offiziell. Inoffiziell gibt es das Heilmittel "off the record", mit dem
bürokratische Hemmnisse wie geschmiert beseitigt werden. So führt das zu paradiesischen
Zuständen für Investoren und einigen Parteibonzen. Es muss nicht erklärt werden, dass dies
für die Entwicklung des Landes nur nachteilig sein muss. Und so macht sich seit Jahren Unmut breit.
Kritiker, selbst aus den politischen Kadern, brachten ihre Erbitterung über die Zustände zum
Ausdruck. Verrat an den sozialistischen Idealen, hieß es. Sie wurden kurzerhand aus der Partei
ausgeschlossen oder bekamen Hausarrest. Im schlimmsten Fall gab es Erziehungslager. Man hört, dass
vorsichtige Kritik wieder möglich ist, zu beweisen ist das aber nicht. Ausländische Presse außer
der Bangkok Post gibt es nicht.
Ich kenne verschiedene asiatische Länder
und immer wieder frage ich mich, wie halten die Menschen diese gesellschaftlichen Widersprüche aus, diese
Umweltkatastrophe und dieses Verkehrschaos? Zunächst hatte ich die schnelle Antwort bereit, es müsse
der sprichwörtliche asiatische Gleichmut sein. Inzwischen weiß ich, dass das falsch ist. Es ist das,
was auch wir am liebsten in vergleichbaren Situationen machen: Augen zu und durch Verdrängung als
tägliche Übung, bis sich die bittere Wahrheit nicht mehr verleugnen lässt.
Almut von Rickmann-Werde
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