SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2006, Seite 17

Westpapua: der vergessene Konflikt

John Pilger über den geheimen Krieg gegen ein schutzloses Volk

Im Jahre 1993 reiste ich mit vier weiteren Personen heimlich durch Osttimor, um Beweise für den von der indonesischen Diktatur verübten Genozid zu sammeln. Es herrschte ein derart tiefes Schweigen über dieses winzige Land, dass die einzige Landkarte, die ich vor Antritt der Reise finden konnte, Lücken mit dem Stempel "Höhenangaben unvollständig" aufwies.
Wenige Landstriche sind von mörderischen Kräften dermaßen verheert und missbraucht worden. Nicht einmal Pol Pot war es gelungen, im Verhältnis so viele Menschen umzubringen, wie es der indonesische Tyrann Suharto in geheimem Einverständnis mit der internationalen Gemeinschaft fertigbrachte. In Osttimor traf ich auf ein Land, das mit Gräbern übersät war, deren schwarze Kreuze einem ins Auge stachen: Kreuze auf Gipfeln, Kreuze reihenweise an den Hängen, Kreuze am Straßenrand. Sie kündeten von der Ermordung ganzer Gemeinden, von den Säuglingen bis zu den Alten. Im Jahr 2000, als die Osttimoresen in einem Akt von Mut, der nur wenige historische Parallelen hat, ihre Freiheit gewannen, setzten die Vereinten Nationen eine Wahrheitskommission ein; ihr 2500 Seiten starker Bericht wurde nun am 24.Januar veröffentlicht.
Ich hatte bislang nie derartiges gelesen. Der Bericht zählt unter Zuhilfenahme zumeist offizieller Dokumente in schmerzlicher Detailliertheit die gesamte Schande von Osttimors blutigem Leidensweg auf. Er besagt, dass 180000 Osttimoresen von der indonesischen Armee getötet wurden oder verhungerten. Er beschreibt die "grundlegende Rolle", die die Regierungen der USA, Großbritanniens und Australiens bei diesem Massaker spielten.
Amerikas "politische und militärische Unterstützung war fundamental" bei Verbrechen, die von "Massenexekutionen zu Zwangsumsiedlungen, sexuellen und anderen schrecklichen Formen von Folter sowie zum Missbrauch von Kindern" reichten. Großbritannien, ein Mitverschwörer bei der Invasion, war der größte Waffenlieferant.
Wer durch den gegenwärtig über dem Irak hängenden Nebel durchblicken und den wirklichen Terrorismus begreifen will, sollte dieses Dokument lesen. Als ich es las, dachte ich zurück an die Briefe, die Offizielle des Außenministeriums an besorgte Vertreter der Öffentlichkeit und an Parlamentsabgeordnete nach der Ausstrahlung meines Films Death of a Nation geschrieben hatten. Obwohl sie die Wahrheit wussten, leugneten sie, dass von Großbritannien gelieferte Hawk-Kampfflugzeuge in Osttimor mit Strohdächern versehene Dörfer zerstörten und von Großbritannien gelieferte Maschinengewehre der Marke Heckler und Koch die Bewohner erledigten. Sie logen auch über das Ausmaß des Leidens.

Gestohlene Provinz

Und all dies geschieht wieder, eingehüllt in dasselbe Schweigen, und mit einer "internationalen Gemeinschaft", die erneut die Rolle einer Unterstützerin und Nutznießerin der Vernichtung eines schutzlosen Volkes spielt. Indonesiens brutale Besetzung Westpapuas, einer gewaltigen, an Ressourcen reichen und wie Osttimor seiner Bevölkerung gestohlenen Provinz, ist eines der großen Geheimnisse unserer Zeit.
Man schätzt, dass 100000 Papuaner — 10% der Bevölkerung — vom indonesischen Militär getötet wurden. Nach Angaben von Flüchtlingen ist dies nur ein Bruchteil der wirklichen Anzahl. Im Januar erreichten 43 Westpapuaner die australische Nordküste nach einer gefahrvollen, sechs Wochen dauernden Reise in einem Einbaum. Sie hatten keine Nahrung mehr, und die letzten Tropfen Trinkwasser hatten sie ihren Kindern gegeben. "Wir wussten", sagte Herman Wanggai, ihr Anführer, "dass die meisten von uns hätten sterben müssen, wenn das indonesische Militär uns gefangengenommen hätte. Sie behandeln die Westpapuaner wie Tiere. Sie töten uns wie Tiere. Zu diesem Zweck haben sie Milizen geschaffen. Es ist genauso wie in Osttimor."
Über ein Jahr lang versteckten sich etwa 6000 Menschen im dichten Dschungel, nachdem ihre Dörfer und ihre Ernten von indonesischen Spezialeinheiten zerstört worden waren. Das Hissen der Flagge von Westpapua wird als "Verrat" betrachtet. Schon für den Versuch wurden zwei Männer zu 10 bzw. 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach einem Angriff auf ein Dorf wurde ein Mann als "Beispiel" präsentiert und mit Benzin übergossen und in Brand gesteckt.
Als die Niederlande Indonesien 1949 in die Unabhängigkeit entließen, argumentierten sie, dass Westpapua eine getrennte geografische und ethnische Einheit mit einem unterschiedlichen Nationalcharakter sei. Ein im November 2005 vom Institut für niederländische Geschichte in Den Haag veröffentlichter Bericht enthüllte, dass die Niederländer insgeheim den "unverkennbaren Beginn der Formierung eines papuanischen Staates" anerkannt hatten, aber von der US-Regierung unter John F. Kennedy eingeschüchtert wurden, die "vorübergehende" indonesische Kontrolle über — wie es ein Berater des Weißen Hauses nannte — "einige tausend Meilen Kannibalenland" zu akzeptieren.
Die Westpapuaner wurden reingelegt. Die Niederländer, Amerikaner, Briten und Australier unterstützten einen "Act of Free Choice", der angeblich von der UNO organisiert wurde. Die Bewegungen eines UN-Beobachterteams aus 25 Personen wurden vom indonesischen Militär eingeschränkt und es wurden ihnen keine Dolmetscher erlaubt. Im Jahr 1969 stimmten etwa 1000 der 800000 Westpapuaner ab. Sie alle waren von den Indonesiern ausgewählt worden.
Mit vorgehaltener Waffe waren sie "einverstanden", unter der Herrschaft von General Suharto zu bleiben. Dieser hatte 1965 die Macht übernommen; die CIA beschrieb seine Machtübernahme später als "einen der schlimmsten Massenmorde des späten 20.Jahrhunderts". Im Jahr 1981 vernahm das im Exil abgehaltene Tribunal über die Menschenrechte in Westpapua von Indonesiens erstem Gouverneur der Provinz, Eliezer Bonay, dass von 1963 bis 1969 annähernd 30000 Westpapuaner ermordet worden seien. Davon wurde im Westen wenig berichtet.
Das Schweigen der "internationalen Gemeinschaft" erklärt sich durch den fantastischen Reichtum Westpapuas. Im November 1967, nachdem Suharto seine Macht gefestigt hatte, sponserte die Time-Life Corporation eine außerordentliche Konferenz in Genf. Zu den Teilnehmern gehörten die mächtigsten Kapitalisten der Welt, angeführt vom Bankier David Rockefeller. Ihnen gegenüber saßen Suhartos Männer, die als "Berkeley-Mafia" bekannt waren, da einige von ihnen mit Hilfe von Stipendien der US-Regierung an der University of California in Berkeley studiert hatten.

Ein Berg aus Gold

Drei Tage lang wurde die indonesische Ökonomie aufgeteilt, Sektor für Sektor. Ein Konsortium aus Amerikanern und Europäern bekam Westpapuas Nickelvorkommen; amerikanische, japanische und französische Unternehmen seine Wälder. Doch der Hauptpreis — die größten Goldreserven der Welt und das weltweit drittgrößte Kupfervorkommen, buchstäblich ein Berg aus Kupfer und Gold — ging an den US-Bergbaugiganten Freeport-McMoran. Zu dessen Vorstand gehört Henry Kissinger, der als US-Außenminister Suharto grünes Licht zur Invasion Osttimors gegeben hatte.
Freeport ist heute wahrscheinlich die größte einzelne Einkommensquelle für das indonesische Regime: Das Unternehmen soll zwischen 1992 und 2004 33 Milliarden Dollar an Jakarta ausgehändigt haben. Das Volk von Westpapua hat davon nur wenig gesehen. Im Dezember 2005 sind im Distrikt Yahukimo 55 Menschen verhungert. Die Jakarta Post stellte die "schreckliche Ironie" des Hungers in solch einer "ungeheuer reichen" Provinz fest. Laut der Weltbank "leben 38% von Papuas Bevölkerung in Armut, mehr als doppelt soviel wie im Landesdurchschnitt".
Die Freeport-Minen werden von indonesischen Spezialkräften bewacht, die zu den kampferprobtesten Terroristen der Welt gehören, wie ihre aus Osttimor dokumentierten Verbrechen zeigen. Bekannt unter der Bezeichnung Kopassus, wurden sie von den Briten ausgerüstet und von den Australiern ausgebildet. Im Dezember 2005 verkündete die australische Regierung Howard, dass sie die "Zusammenarbeit" mit Kopassus auf der australischen SAS-Basis bei Perth wieder aufnehmen würde. In einer Verdrehung der Wahrheit beschrieb der damalige australische Verteidigungsminister, Senator Robert Hill, Kopassus als "effizienteste Truppe im Kampf gegen Flugzeugentführer und Geiselnehmer".
Die Dokumente von Menschenrechtsorganisationen quellen über mit Beweisen für den Terrorismus von Kopassus. Am 6.Juli 1998 massakrierten Spezialkräfte auf der zu Westpapua gehörenden Insel Biak mehr als hundert Menschen, darunter überwiegend Frauen. Doch war das indonesische Militär bisher nicht in der Lage, die Bewegung für ein Freies Papua (OPM — Organisasi Papua Merdeki) zu zerschlagen.
Seit 1965 war es fast allein die OPM, die die Indonesier mutig daran erinnert hat, dass sie Invasoren sind. In den vergangenen zwei Monaten hat der Widerstand die Indonesier veranlasst, weitere Truppen nach Westpapua zu entsenden. Zwei von Großbritannien gelieferte gepanzerte Mannschaftstransportwagen sind aus Jakarta angekommen. Sie waren von den Briten zum ersten Mal während der "ethischen Dimension" der britischen Außenpolitik unter dem verstorbenen Robin Cook an Indonesien geliefert worden. Von BAE Systems hergestellte Hawk-Kampfbomber wurden gegen westpapuanische Dörfer eingesetzt.
Das Schicksal der 43 in Australien Asyl Suchenden ist prekär. Entgegen dem Völkerrecht hat die Regierung Howard sie vom Festland auf die Weihnachtsinsel verbracht, die Teil einer australischen "Schutzzone" für Flüchtlinge ist. Wir sollten sorgfältig beobachten, was mit diesen Menschen geschieht.
Wenn die Geschichte der Menschenrechte nicht die Geschichte der Straflosigkeit der Großmächte ist, dann müssen die Vereinten Nationen nach Westpapua zurückkehren, wie sie es schließlich in Osttimor getan haben. Oder müssen wir immer erst warten, bis der Kreuze noch mehr werden?

John Pilger

John Pilger ist ein bekannter britischer Autor und Filmemacher (www.johnpilger.com). Weitere Informationen zur Solidarität mit Westpapua. (Übersetzung: Hans-Günter Mull.)



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