SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2006, Seite 18

Über die Gewalt oder:

Wenn Gefängnismauern zu Schutzmauern werden

Wie kann der Übermächtige (der in seiner Allmacht vollkommen unabhängig, in diesem Sinne frei ist) dazu bewegt werden, dem Ohnmächtigen nicht mit Gewalt alles zu nehmen: seinen Besitz, seine Würde, seine Rechte?
Das ist die Frage, die sich für die Landlosen in Barsilien stellt, für die Sans Papiers in Frankreich, für die Palästinenser in den besetzten Gebieten und in den Flüchtlingslagern außerhalb Palästinas. Es ist die Frage, die sich, auf die eine oder andere Art, immer mehr Menschen überall auf der Welt stellt.
Machen wir uns nichts vor, es geht um übermächtige Strukturen, weniger um Menschen, die man dazu bewegen könnte, dass sie einsichtig, moralisch integer, guten Willens sein mögen, vielleicht sogar, um ihrer selbst willen. Es geht um gefräßige, grenzenlose, gnadenlose Strukturen, die vor nichts halt machen, nicht einmal vor der Selbstzerstörung, derer, die von ihnen profitieren.
Gehen wir also ganz rational vor und klopfen wir die Frage ab: Wie kann der Übermächtige...
So ähnlich hat es die PFLP (Popular Front for the Liberation of Palestine) im Laufe ihrer Geschichte gehalten und ist zu unterschiedlichen Antworten gekommen. Seit vielen Jahren und ganz sicher unter ihrem derzeitigen Vorsitzenden Ahmed Saadat lautet die Antwort: Widerstand gegen die Besatzung und die Verteidigung der palästinensischen Bevölkerung gegen die Gewalt der Besatzung ist legitim und notwendig. Gewalt kann ein Mittel des Widerstands sein, jedoch nur, wenn sie sich gegen die Ausführenden und Verantwortlichen für die Besatzung richtet, d.h. diejenigen, die den Terror gegen die palästinensische Bevölkerung planen und ins Werk setzten. Das ist im Wesentlichen das israelische Militär in den besetzten Gebieten. Selbstmordattentate gegen unbeteiligte Zivilisten in Israel sind weder zielführend (werden gewiss nicht den Übermächtigen dazu bringen... usw.), noch sind sie moralisch zu rechtfertigen.
Die PFLP lehnt die Selbstmordattentate nicht nur ab, weil Unschuldige dabei ums Leben kommen und deren Rechte (auf Leben, auf Unversehrtheit) verletzt werden, sondern weil auch das Selbstopfer unmenschlich ist. Als weltlich eingestellte linke Organisation glaubt sie nicht an einen Sinn der irgendwo da oben verbürgt ist oder an ein Paradies, das den Märtyrer belohnt. In dieser Logik ist es auch zu verstehen, dass sich der Generalsekretär der PFLP und seine Mitstreiter in Jericho ergaben, als sie mit ihrem Beharren nichts mehr erreichen konnten als den eigenen Tod und den der Verteidiger des Gefängnisses.
Durch Anschläge auf die Soldaten, die Panzer, die Vorposten der israelischen Besatzung in den besetzten palästinensischen Gebieten allein wird sich die Besatzung nicht abschütteln und wird sich der Übermächtige zu nichts bewegen lassen, zumal in dieser Konfrontation die Mittel äußerst ungleich sind — zuungunsten der Palästinenser im Widerstand.
Wie die meisten Palästinenser in den besetzten Gebieten hält die PFLP das geduldige Ausharren (sumut) in der Situation der Ohnmacht für möglicherweise das wichtigste Element des Widerstands gegen die Besatzung. Was bedeutet sumut? Das Ausharren als Widerstandsform, über das in der palästinensischen Gesellschaft breiter Konsens herrscht, praktizieren die Menschen unter Besatzung, indem sie die alltäglichen Verwüstungen durch die Besatzungsmacht unverdrossen aufräumen, Zerstörtes instandsetzen, das alltägliche Leben aufrechterhalten, sich nicht unterkriegen und nicht vertreiben lassen. Es bedeutet auch, trotz aller Schwierigkeiten bis Unmöglichkeiten, zu heiraten, zu feiern, sich zu freuen.
Für eine politische Gruppierung wie die PFLP bedeutet sumut, die Organisationsstrukturen und die Kontinuität zu erhalten, auch wenn führende Persönlichkeiten der Partei durch Todeskommandos der Besatzung, die sich an kein Recht gebunden fühlt, immer bedroht sind — einem solchen Kommando fiel der Vorgänger Ahmed Saadats, Abu Ali Mustafa, zum Opfer. Es bedeutet, die Organisationsstrukturen zu erhalten, auch wenn Aktivsten mehr noch als die gesamte Bevölkerung der besetzten Gebiete täglich und nächtlich mit Überfällen der Besatzungsmacht auf ihre Wohnungen, mit Verhaftungen ohne Haftbefehl, mit Verschleppung nach Israel und mit (beliebig verlängerbarer) Administrativhaft ohne Begründung und Verfahren rechnen müssen; derzeit sitzen über 9000 palästinensische Häftlinge, darunter auch Frauen und Kinder, überwiegend als Administrativhäftlinge, also ohne rechtsstaatliche Grundlage, in israelischen Gefängnissen — nur eine Form der Gewalt der Besatzung, der die Palästinenser ihr geduldiges und solidarisches Ausharren entgegensetzen.
Die meisten Palästinenser unterschiedlicher politischer Couleur sind auch überzeugt, dass der Gewalt des übermächtigen Besatzers mit ihrem Beharren auf nichtverhandelbaren Rechten zu begegnen ist. Dies ist auch die Position der PFLP, weshalb sie die Vereinbarungen von Oslo ablehnte. Diese Vereinbarungen und die Verhandlungen im Rahmen des Oslo-Prozesses sahen allerdings das Prinzip von Rechten als Grundlage und Ausgangspunkt von Verhandlungen von vorneherein nicht vor. Das bedeutet, dass der hoffnungslos unterlegene Verhandlungspartner, in dem Fall die Palästinenser, dem übermächtigen Partner und dessen Gewalt vollständig ausgeliefert war, ein Manko jenes Verhandlungsprozesses, auf das bspw. der israelische Autor und Aktivist Michel Warschawski immer wieder hingewiesen hat.
Der sog. Friedensprozess fügte der Gewalt der Besatzung eine neue Gewalt hinzu, nämlich die der Infragestellung selbst der elementarsten Rechte. Die PFLP beharrte und beharrt darauf, dass auch Palästinenser ein Recht auf das Wasser unter ihrem Boden haben, dass sie ein Recht haben, ihren Boden zu bearbeiten, weiterzuvererben, Häuser darauf zu bauen, dass sie ein Recht auf den Aufbau staatlicher Strukturen, auf Bewegungsfreiheit, auf Bildung, auf Unversehrtheit und Sicherheit der Person haben, ein Recht auf Rechtsstaatlichkeit, als Flüchtlinge ein Recht auf Rückkehr — kurz auf die Rechte, die alle Welt als selbstverständlich anerkennt. Wie diese Rechte konkret umgesetzt werden können, ist dann Gegenstand von Verhandlungen.
Weil die PFLP auf dieser Position beharrt und weil sie Gewalt im Widerstand nicht ausschließt, gilt sie als radikal. Von der EU wurde sie als terroristische Organisation eingestuft.
Die PFLP setzt (wie erstaunlicherweise immer noch ein Großteil der palästinensischen Gesellschaft) auf Verhandlungen und Partnerschaft mit Israelis und politischen Kräften in Israel, die, wie sie, vom Prinzip gleicher Rechte ausgehen und dafür kämpfen. Die PFLP arbeitet eng und kontinuierlich mit israelischen Partnern zusammen. Mit ihnen teilt sie die Vision eines gleichberechtigten Zusammenlebens von Juden und Palästinensern in Israel/Palästina — das Ende der Gewalt.
Bisher jedoch spricht das offizielle Israel von rechts nach links nur die Sprache der Gewalt. Versteht es auch nur die Spache der Gewalt?
Die Sprache der Gewalt, offen und unverblümt, sprach auch Rehavam Zeevi, der Verfechter des "Transfers" als "Lösung des Problems". Mit Transfer ist der Abtransport oder die Vertreibung (in die arabischen Nachbarländer gemeint), mit dem Problem sind die Palästinenser gemeint, die, allem Besatzungsterror zum Trotz, immer noch zahlreich da und nicht weg sind. Rehavam Zeevi, nicht nur Theoretiker der "Transferlösung", sondern Ex-General und Ex-Minister, ein mächtiger Mann in Israel mit einer Partei, deren Programm diese Lösung war, und mit engen Beziehungen zu Ariel Sharon, wurde am 17. Oktober 2001 von einem Kommando der PFLP in Israel ermordet — ein politischer Mord, bei dem niemand außer dem Anvisierten zu Schaden kam. Widerstand gegen eine Besatzung, auch gewaltsamer Widerstand, ist nach internationalem Recht legitim.
Der/die Täter entkamen zunächst. Nun ist es selbstverständlich das Recht Israels (und der Angehörigen), den Mord an einem seiner Bürger aufzuklären und den/die Täter/Verantwortlichen vor ein ordentliches Gericht zu stellen oder vor ein solches gestellt zu sehen.
Stattdessen sprach und spricht Israel, in enger Kollaboration vor allem mit den USA und Großbritannien nur die Sprache der Gewalt und nicht die des Rechts. Ein Wettlauf begann zwischen den israelischen und den palästinensischen Sicherheitskräften, wer die vermeintlichen oder tatsächlichen Täter eher erjagen würde. Die palästinensische Autonomiebehörde handelte dabei unter dem Druck der USA und der EU, die nicht Rechststaatlichkeit verlangten, sondern Ergebnisse, irgendwelche, irgendwie, Trophäen "im Kampf gegen den Terror".
Die palästinensischen Sicherheitskräfte kamen israelischen Kommandos zuvor und setzten mehrere PFLPler im Gefängnis innerhalb der Muqatta von Ramallah fest, wo sie noch einsaßen, als dieser Gebäudekomplex, der Regierungssitz Yasser Arafats, im Frühjahr 2002 im Rahmen der Wiedereroberung der "autonomen" palästinensischen Städte von der israelischen Armee belagert und unter Beschuss genommen wurde. Es gelang ihnen, aus dem Gefängnis, das bombardiert wurde, in jenen Teil der Muqatta zu fliehen, wo Arafat mit einigen Getreuen und einigen hundert Zivilisten sowie an die vierzig Aktivisten aus verschiedenen Ländern ausharrte.
Die Mächtigen dieser Welt (und die Israels sowieso) hatten Arafat längst fallen gelassen, nachdem er sich in Camp David II geweigert hatte, seine Unterschrift unter eine Totalaufgabe aller Ansprüche zu setzen. Man sprach mit ihm nur noch in der Sprache von Diffamierung, Erpressung und Gewalt und überzog die palästinensische Bevölkerung mit Terror. Man versuchte ihn, der umzingelt war von Panzern und Scharfschützen, zu zwingen, die Gefangenen auszuliefern, und niemand weiß, ob er es getan hätte, um seine Haut zu retten. Doch es war auch klar, dass ein solcher Verrat am palästinensischen Widerstand — so hätte es die palästinensische Bevölkerung gesehen — einen Aufstand, auch gegen die Autonomiebehörde, provozieren würde.
Ein multilateraler Kuhhandel führte Ende April/Anfang Mai 2002 zu folgendem Kompromiss: Das israelische Militär zieht sich von der Muqatta zurück, unter der Bedingung, dass "den Mördern" des Ex-Ministers Zeevi der Prozess gemacht wird und sie ins (palästinensische) Gefängnis von Jericho gebracht werden, wo sie unter der Kontrolle und in der Verantwortung britischer und amerikanischer Geheimdienstvertreter einsitzen werden. Ein Schauprozess von einer halben Stunde wurde tatsächlich in der Muqatta inszeniert und führte zu dem Urteil, durch das sich heutzutage die Berichterstatter weltweit dazu berechtigt fühlen von "den Mördern" zu sprechen — das offizielle Israel sowieso. Weitere Forderungen der Palästinenser, so die Entsendung einer UN-Untersuchungskommission nach Jenin, wo kurz zuvor ein Massaker stattgefunden hatte, wurden nicht durchgesetzt.
Und da man weiterhin nur die Sprache der Gewalt spricht und schätzt und nicht die des Rechts, und da der als lasch geltende Ehud Olmert, der Nachfolger Sharons im Amt und Kadidat von dessen Kadima-Partei bei den anstehenden Wahlen, glaubt, unter Beweis stellen zu müssen, dass auch er sehr wohl die Sprache der Gewalt beherrscht, überfiel die israelische Armee die Muqatta und das Gefängnis von Jericho, um die dort Einsitzenden umzubringen oder in ein israelisches Gefängnis abzutransportieren.
Die USA und Großbritannien, unter deren Schutz die Gefangenen standen, verstanden Ehud Olmerts Wahlkampfsorgen und zogen sich geflissentlich zurück, um der Gewalt freien Lauf zu lassen. Die internationale Community der Herrschenden, immer geläufiger in der Sprache der Gewalt, sah verständnisvoll zu oder weg.
Auch Palästinenser, Araber, Muslime und viele andere verstanden, welche Sprache da gesprochen wurde, sie ist schließlich nicht neu. Sie sahen die gleichen knieenden Gestalten gebückter Gefangener, mit auf dem Rücken gefesselten Händen, bis auf die Unterhosen entkleidet, wie im Irak. Gedemütigt, aller Rechte entblößt, ausgeliefert.
Weltweit konnten Menschen via CNN zusehen, wie die israelischen Bulldozer alles um das Gefängnis herum plattwalzten, Mauern zermalmten... Gefängnismauern fielen — eine schöne Utopie! Doch in diesem Gefängnis waren die Mauern ein — fragiler — Schutz, dahinter saßen Gefangene, die es nicht wagen konnten, das Gefängnis zu verlassen, weil sie — wie von Israel angekündigt — in Freiheit sofort liquidiert würden.

Sophia Deeg

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