SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2006, Seite 20

Tom Bradby, Der Herr des Regens, München: Heyne, 2006, 575 S., 8,95 Euro.

Mord und Todschlag

Wir kennen das Szenario aus Casablanca und aus der Verfilmung von Marguerite Duras‘ Roman Der Liebhaber: Die herzzerreißende Trennung der Liebenden, die Rückkehr in sichere Verhältnisse und die Unsicherheit, ob der Verlust endgültig ist. In Tom Bradbys Roman Der Herr des Regens besteigt der junge Polizist Richard Field fluchtartig das Schiff, das ihn aus Shanghai nach Europa zurückbringen soll. Wird er seine Geliebte widersehen?
Richard Field ist 1926 aus England in das britische Konzessionsgebiet von Shanghai gekommen, um den elenden familiären und sozialen Bedingungen seiner Heimat den Rücken zu kehren. Es ist das Jahr nach dem britischen Massaker an Studenten und ein Jahr vor dem Blutbad an der städtischen Arbeiterbewegung. Überall in der chinesischen Metropole agitiert die junge kommunistische Partei gegen die koloniale Besetzung, gegen die ausländischen Fabrikbesitzer, die sich der Henkertätigkeiten lokaler Banden bedienen, um die heraufziehende Revolte zu ersticken.
Der unerfahrene Field wird den Polizisten Chen und Caprisi, den es aus Chicago nach China verschlagen hat, an die Seite gestellt, um einen Mord an einer jungen Frau aufzuklären. Das Opfer, Lena Orlow, war aus dem revolutionären Russland geflohen. Ihr erging es wie Hunderten von Frauen, die aus zaristischen Offiziers- und Adelsfamilien stammend, ohne Ausbildung und ohne Pass, als "Tänzerinnen" ihren Körper verkaufen müssen. In den von den Triaden organisierten Clubs müssen sie, um zu Überleben, der kolonialen Beamtenschaft und industriellen Dandys sexuelle Gefälligkeiten erweisen und erfahren von diesen nichts als Verachtung. Ist es diese Erniedrigung, die Lena Orlow und ihre Freundin Natascha Medwedew veranlasste, regelmäßig an Treffen der kommunistisch orientierten Zeitung New Shanghai Life zu gehen?
Aldous Huxleys Charakterisierung Shanghais der 20er Jahre, er habe "in keiner Stadt je einen solchen Eindruck von einem dichten Morast üppig verflochtenen Lebens" gefunden, hat Tom Bradby gekonnt aufgenommen: Die Arroganz der Kolonialherren, die Auflösung bürgerlicher Moralvorstellungen, die nahezu ohne Fassade der Wohlanständigkeit auskommt, der unbeugsame Wille zur individuellen und kollektiven Ausplünderung prägen die Atmosphäre ebenso wie die Ahnung, dass dies zum Aufruhr führen wird.

Udo Bonn

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