SoZ - Sozialistische Zeitung |
Lassen die deutschen Weltmeistertitel beim Export, die Rekordgewinne der Dax-
Unternehmen und die dennoch fortgesetzten Jobkillerstrategien mittlerweile Zweifel an den
"Sachzwängen" der Globalisierung zur Senkung der "Lohnnebenkosten" und zur
Verbilligung der Erwerbsarbeit aufkommen, nicken auch die von Sozialkürzungen Betroffenen, wenn ihnen
vorgeführt wird, dass die umlagefinanzierte Sozialversicherung "offensichtlich" nicht mehr
haltbar sei, wenn 2050 auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter 78 Ältere kommen. Die Behauptung,
die demografische Entwicklung zwinge zum Systemwechsel in der sozialen Sicherung, ist unter den
Propagandamythen des Neoliberalismus derjenige mit der höchsten suggestiven Wirkung. Zur Kritik des
"Mythos Demografie" und seiner politischen Dramatisierung ist zusammenfassend vor allem auf
Folgendes hinzuweisen:
1Zur Dramatisierung der demografischen Entwicklung werden teils
bewusste Falschinformationen gesetzt. So landete das "Berlin-Institut für Demografie und
Entwicklung" unlängst einen Medienknüller ("Die Deutschen sterben aus!") mit der
Botschaft: "Deutschland hat weltweit mit der niedrigsten Geburtenrate zu kämpfen …
Statistisch gesehen bringt jede Frau nur noch 1,36 Kinder zur Welt. Damit hat die Geburtenrate den
Tiefstand des letzten Kriegsjahres 1945 erreicht." Tatsächlich liegt die Geburtenrate nach
Angaben der EU-Statistiker (Eurostat) in 10 der 25 EU-Mitgliedstaaten niedriger als in Deutschland. Und
hierzulande lag sie 19831986 deutlich unter dem aktuellen Niveau. Ausweislich seiner
Selbstdarstellung verfolgt das genannte privat finanzierte Institut "das Ziel, die öffentliche
Wahrnehmung (!) der weltweiten demografischen Veränderungen zu verbessern". Es handelt sich nicht
um ein Forschungsinstitut, sondern um eine Einrichtung zur Beeinflussung öffentlicher Meinung.
2Die Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamts
sind keine Prognosen, sondern Projektionen. Sie sagen nicht voraus, was eintreten wird, sondern was unter
bestimmten Annahmen wahrscheinlich eintritt. "50-Jahre-Prognosen sind moderne Kaffeesatzleserei",
urteilt Statistikprofessor Gerd Bosbach. Er weist darauf hin, dass eine
Bevölkerungsvorausschätzung im Jahre 1950 für das Jahr 2000 unter anderem die Verbreitung
moderner Verhütungsmittel, die Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland und den Zuzug von
Spätaussiedlern aus Osteuropa nach 1989 hätte voraussehen müssen. Eine "Prognose"
im Jahr 1900 für 1950 hätte gar zwei Weltkriege ins Kalkül ziehen müssen, um nah an der
Wirklichkeit zu liegen. Die letzten neun Bevölkerungsvorausschätzungen brachten es nur auf eine
"Lebensdauer" von durchschnittlich vier Jahren.
3Der Trend zur Alterung der Gesellschaft begleitet die
Sozialversicherung von jeher. Im 20.Jahrhundert hat sich der Altersquotient das quantitative
Verhältnis der über 65-Jährigen zu den Personen im erwerbsfähigen Alter um zwei
Drittel erhöht (von 1:12,4 im Jahr 1900 auf 1:4,1 im Jahr 2000). Der zurückliegende demografische
Wandel ist ungleich größer als der für die Zeit bis 2050 prognostizierte (Anstieg des
Altersquotienten auf 1:2,0). Dennoch brach die Sozialversicherung im 20.Jahrhundert nicht nur nicht
zusammen, sondern sie wurde erheblich ausgebaut.
4Selbst wenn die demografischen Projektionen exakt zutreffen sollten
über die finanzielle Tragfähigkeit der Sozialversicherung wäre damit überhaupt
nichts ausgesagt. Beiträge werden nicht nach Köpfen erhoben, sondern aus
sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Arbeitsproduktivität, Beschäftigungsstand und
Entgeltentwicklung sind hier die maßgeblichen Faktoren.
Im Jahre 1800, als drei Bauern einen
Städter ernährten, hätte man jeden für verrückt erklärt, der es für
möglich hielt, dass zukünftig ein Bauer zur Ernährung von 33 Städtern ausreichen werde.
Die Produktivitätsentwicklung in der Landwirtschaft hat dies eintreten lassen. Angesichts der
prognostizierten Produktivitätsentwicklung hält das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung (DIW) es für möglich, Beitragssätze und Nettoeinkommen zugleich steigen
zu lassen. In der Vergangenheit war dies bereits der Fall. Es kommt eben darauf an, wie und wofür
Produktivitätsgewinne verteilt werden.
Die Botschaft der Demografen an die
Sozialpolitik erschöpft sich darin, dass der gesamtwirtschaftliche Aufwand für die Sicherung im
Alter und bei Pflegebedürftigkeit zwischen 2020 und 2050 steigen muss. Ob der Sozialversicherung dazu
im erforderlichen Umfang Beitragsmittel zufließen, ist keine Frage der Demografie, sondern der
Verteilung zwischen Kapital und Arbeit, bei Erwerbsarbeit und Einkommen.
Unter Rentenexperten herrscht Einigkeit,
dass es die demografische Debatte so nicht gäbe, wenn Vollbeschäftigung bestünde. Anders
ausgedrückt: wenn der Rentenversicherung ein Beitragsvolumen zur Verfügung stünde, das dem
einer Vollbeschäftigung zu heutigen Löhnen und Beitragssätzen entspricht. Die
Verteilungsfragen aus der Wahrnehmung zu drängen, ist Zweck des "Mythos Demografie". Denn
materielles Ziel des neoliberalen Systemwechsels ist die strukturelle Veränderung der
Verteilungsverhältnisse zum Vorteil des Kapitals.
5Die demografische Debatte reklamiert Verteilungsfragen zwischen den
Generationen, diagnostiziert eine Verletzung der "Generationengerechtigkeit" zum Nachteil der
Jüngeren und fordert Rentenkürzungen. Gezielt ausgeblendet wird damit, wo
Verteilungsungerechtigkeit tatsächlich stattfindet: innerhalb der Generationen. Nicht zufällig
ist die Verteilungsungleichheit in keiner Altersgruppe so groß wie unter den über 65-
Jährigen, werden da doch die Witwen auf Stütze mit den Superreichen in der Spätphase eines
ertragreichen Akkumulationslebens zusammen betrachtet. Durchschnittsangaben nähren dann den Mythos vom
"reichen Rentner".
Zum anderen treffen die Reformen im Namen
der "Generationengerechtigkeit" gerade den Großteil der Jungen mit voller Härte, und
dabei Frauen zuerst. Meist ohne Chance, am deregulierten Arbeitsmarkt eine Karriere hinzulegen, die zu
dauerhafter Vermögensbildung befähigt, gehen sie der neuen Altersarmut entgegen. Bis dahin
müssen sie versuchen, zu den anhaltend hohen Beiträgen für ihre "beitragsfinanzierte
Alterssozialhilfe" noch die Privatvorsorgeprämien aufzubringen. Ihre reellste Chance bleibt der
Kampf für eine andere Verteilungs- und Sozialpolitik.
6Als Rettung vor dem demografisch bedingten Untergang der
Sozialversicherung gilt der Umstieg vom Umlageverfahren, bei dem die laufenden Beitragseinnahmen die
laufenden Ausgaben decken, auf das Kapitaldeckungsverfahren, bei dem im Voraus für zukünftige
Ausgaben "angespart" wird. Jetzt will die Große Koalition eine "kapitalgedeckte
Demografierücklage" in die Pflegeversicherung einführen.
Ex-DIW-Chef Heiner Flassbeck (um nur einen
namhaften Ökonomen zu nennen) hat darauf hingewiesen, dass die Vorkämpfer der Kapitaldeckung die
elementare, als Mackenrothsches Gesetz bekannte Erkenntnis der Volkswirtschaftslehre ignorieren:
aller Sozialaufwand einer Gesellschaft muss immer aus der laufenden Wertschöpfung erbracht werden.
Eine Gesellschaft als Ganze kann nicht "sparen". Über den realen Wert angesparter
Vermögen zu dem Zeitpunkt, wo sie verbraucht werden müssen, entscheiden die dann bestehenden
ökonomischen Gegebenheiten.
Tatsächlich stehen die meisten
namhaften Kapitaldeckungspropheten im Solde der Banken- und Versicherungsbranche. Die Kapitaldeckung ist
nicht nur nicht "demografiefester", sondern zusätzlich den Risiken der spekulativen
Finanzmärkte ausgesetzt.
7Die demografische Debatte dramatisiert besonders den
Geburtenrückgang. Parteienübergreifend schallt der Ruf "Mehr Kinder!" durchs Land.
Dabei wird übersehen, dass die Schrumpfung der jüngeren Generationen die verteilungspolitische
Herausforderung der längeren Lebenserwartung erheblich mindert. Aus der Wertschöpfung der jeweils
erwerbstätigen Generation muss nicht nur der Aufwand für die nicht mehr erwerbstätigen
Alten, sondern der für sämtliche nicht Erwerbstätigen (Kinder, Erwerbslose, jüngere
Erwerbsunfähige) bestritten werden. Würden die Frauen die Kinder-Forderungen erhören,
käme es zu einer Verschärfung der Verteilungsfragen und zu mehr Nachschub für Hartz
IV. Umgekehrt erleichtert eine Schrumpfung der jüngeren Generationen die Deckung des steigenden
Altersaufwands, weil der Aufwand für Kinder und Erwerbslose (relativ) abnimmt.
8Wer ist "zuständig" für Geburtenraten und
damit "Schuld" am drohenden Ruin der Sozialversicherung? Vor allem die Frauen. Sie haben sich die
selbstbestimmte Kontrolle ihrer Gebärfähigkeit erkämpft und nehmen zu Recht in Anspruch,
über Ob und Wieviel ihres Nachwuchses nach ganz persönlichen Gesichtspunkten zu entscheiden. Die
demografische Debatte stilisiert indes die Kinderfrage wieder zur "Schicksalsfrage der Nation".
Was gestern noch Gegenstand von
Frauenpolitik und vielleicht noch von Familienpolitik war, ist Gegenstand einer neuen
Bevölkerungspolitik geworden. Themen wie die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit, das Angebot
an Kinderbetreuungseinrichtungen oder die Ganztagsschule, die der Politik gestern noch als
"Gedöns" galten, sind plötzlich in aller Munde. Doch zielt die Debatte nicht mehr auf
die Überwindung geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung und die Gleichstellung von Frauen, sondern
auf "mehr Kinder". Frauen sollen zu einem anderen Reproduktionsverhalten bewegt werden.
Bevölkerungspolitik, die wegen ihrer
Rolle im deutschen Faschismus lange kaum salonfähig war, feiert fröhliche Urständ, um
sogleich zur Spitze der herrschenden politischen Agenda aufzusteigen. Sie erzeugt ein Meinungsklima, das
sich wieder einmischt in die höchst private Frauenfrage nach dem Kinderkriegen.
Vor Illusionen, die neue
Bevölkerungspolitik zur Durchsetzung langjähriger Frauenforderungen nutzen zu können, ist zu
warnen. Dass Bevölkerungspolitik mit der Verbesserung der alltäglichen Lebensverhältnisse
von Frauen, Müttern und Kindern nichts im Sinn hat, zeigen die mit
"Generationengerechtigkeit" legitimierten Sparhaushalte im Kinder- und Jugendbereich und in der
Frauenpolitik ebenso wie Hartz IV.
Der Abbau der sozialen Sicherung und die
Prekarisierung der Erwerbsarbeit weisen dem Großteil der Frauen eher einen Weg in die Vergangenheit.
Erwerbslosigkeit, Dienstbotinnenjobs in wohlhabenden Haushalten oder Teilzeitjobs ermöglichen weder
existenzsichernde Einkommen noch ausreichende soziale Sicherung. Längere und marktflexible
Arbeitszeiten sowie höhere Mobilitätsanforderungen bauen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
ab. Da wird es wieder wichtiger, "eine gute Partie zu machen" und zu behalten. So kann die
Renaissance der Bevölkerungspolitik zu einer Renaissance überkommener Geschlechterrollen geraten,
die zugleich die alten Klassenfragen unter Frauen wieder schärfer hervortreten lässt.
Daniel Kreutz
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04