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Seit einiger Zeit ist die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in
der Diskussion. Er soll ein Mittel gegen "Armut trotz Arbeit" darstellen. Die Gewerkschaften
Ver.di und NGG führen unter dieser Parole eine Kampagne für einen gesetzlichen Mindestlohn. Sie
fordern 7,50 Euro die Stunde. Gemessen an den Armutslöhnen, die derzeit in einigen Bereichen gezahlt
werden, und angesichts des Lohndumpings, das in ganz Europa betrieben wird, wäre dies ein Fortschritt.
Dennoch ist fragwürdig, ob damit tatsächlich ein Existenz sicherndes Einkommen erzielt werden
kann.
Der Zweck eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns besteht darin ein Arbeitseinkommen
zu gewährleisten, das in keinem Fall unterhalb des Existenzminimums liegt. Das heißt, es ist dazu
da, staatlicherseits eine untere Grenze ins Lohngefüge einzuziehen und auf diese Weise Lohndumping,
Armut trotz Arbeit und die Ausweitung von Niedrigstlohnsektoren zu verhindern.
"Working Poor", arbeitende Arme,
gibt es nicht nur in den USA zu Zigtausenden. Auch in Deutschland kann ein immer größerer Teil
der Erwerbstätigen vom Lohn nicht leben. Die Bezeichnung "arbeitende Arme" bezieht sich
dabei in erster Linie nicht auf das wachsende Heer der Gelegenheits-, Mini- und 1-Euro-Jobber, deren Lohn
schon definitionsgemäß keinen Bezug zum Lebensunterhalt hat, sondern auf sog.
"reguläre" Beschäftigungsverhältnisse, die trotz 38 oder auch mehr Stunden in der
Woche, also Vollzeitarbeit, ihren Mann bzw. ihre Frau nicht ernähren.
Mittlerweile arbeiten in Deutschland fast
sieben Millionen Beschäftigte zu Niedriglöhnen das sind knapp 21% aller abhängig
Beschäftigten. Als Niedriglohn definiert die OECD einen Lohn, der weniger als zwei Drittel des
durchschnittlichen Stundenlohns einer Volkswirtschaft beträgt. Im Gegensatz dazu bezeichnet man mit
"Armutslohn" einen Lohn, der weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Monatslohns
beträgt. In Westdeutschland lag die Grenze für den Armutslohn im Jahr 2003 bei 1442 Euro. Derzeit
müssen sich 2,5 Millionen Vollzeit arbeitende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem Armutslohn
begnügen.
Laut einer Studie des Instituts für
Arbeit und Technik (IAT) betrug die so berechnete Niedriglohngrenze im Jahre 2004 in Westdeutschland 9,83
Euro und in Ostdeutschland 7,15 Euro. Nach einer anderen Berechnung, die eher den EU-Kriterien entspricht
und die Niedriglohngrenze bei 50% des mittleren Entgelts ansiedelt (Medianeinkommen), liegt die Grenze
für den Niedriglohn noch niedriger: nämlich bei 7,38 Euro in Westdeutschland bzw. 5,37 Euro in
Ostdeutschland. Laut IAT arbeiten 9% oder gut 2,6 Millionen abhängig Beschäftigte in Deutschland
für Stundenlöhne unterhalb dieses Niveaus.
Teilzeitbeschäftigte und Minijobber
sind überdurchschnittlich häufig von niedrigen Stundenlöhnen betroffen. In Minijobs sind
Niedriglöhne fast die Regel. Dies ist weitgehend unabhängig vom Qualifikationsniveau der
Beschäftigten, d.h. in einem Minijob verdienen (fast) alle schlecht.
In einem Musterprozess um Lohndumping
beurteilte das Arbeitsgericht Bremen im Jahr 2000 einen Lohn von 11,50 Mark (5,87 Euro) als
"sittenwidrig". In seiner Begründung verwies das Gericht auf die bestehende
Pfändungsfreigrenze, die für eine Person damals bei 930 Euro lag. Die Pfändungsfreigrenze
bezeichnet die Grenze, unterhalb derer von Gesetz wegen niemandem etwas weggenommen, gepfändet werden
darf, um ihn mittellos zu stellen. Die Pfändungsfreigrenze beschreibt deshalb ebenfalls eine Art
Existenzminimum. Dieser Freigrenze entspräche ein Bruttomonatslohn von 1312,52 Euro bzw. ein
Stundenlohn von 8,92 Euro. Wenn man Existenzminimum und Mindestlohn in eins setzt, müsste man daher
mindestens die Pfändungsgrenze als das derzeit in der BRD anerkannte Mindestlohnniveau bezeichnen.
Tatsächlich aber gibt es ein
Lohnabstandsgebot. Das besagt, dass das unterste Einkommensniveau, das mit Erwerbsarbeit erzielt wird,
höher liegen muss als das Niveau von Transferleistungen wie sie die Sozialhilfe oder das ALG II
darstellen. (Bislang wurde das Lohnabstandsgebot in der BRD immer als Argument bemüht, das Niveau der
Sozialhilfe müsse sinken, damit das untere Lohnniveau gesenkt werden kann.) Bemüht man das
Argument in der umgekehrten Richtung, würde dies bedeuten, ein Mindestlohn darf nicht auf der
Armutsgrenze liegen, sondern muss deutlich höher sein.
Die Sozialhilfe gilt in der BRD als die
faktische Armutsgrenze. Wie sieht es nun damit aus?
Die EU kennt eine genaue Definition für Armut. Danach gilt als arm, wer weniger als 60% des
Äquivalenzeinkommens zur Verfügung hat. Nach dem vom Statistischen Bundesamt berechneten
monatlichen "Nettoäquivalenzeinkommen" (Vergleichseinkommen) lag die Armutsgrenze in
Deutschland laut dem Zweiten Armuts- und Reichtumsberichts (März 2005) im Jahr 2003 bei 938 Euro netto
das entspricht der Höhe der damaligen Pfändungsfreigrenze.
Die EU-offizielle Armutsgrenze liegt damit
deutlich über dem Arbeitslosengeld II für eine Einzelperson. Nach dem Sozialgesetzbuch II
erhält eine Alleinstehende eine Regelleistung von 345 Euro zuzüglich Unterkunfts- und Heizkosten,
soweit diese angemessen sind. Als Durchschnittswert für bundesweit angemessene Kosten der Unterkunft
wurden für 2004 in der Literatur 277 Euro angesetzt. Selbst wenn man wohlmeinend davon ausgeht, dass
Bezieher von Arbeitslosengeld II in den ersten sechs Monaten in jedem Fall die tatsächlichen
Unterkunfts- und Heizkosten ersetzt werden und wenn man von einem großzügigen Durchschnittswert
von 340 Euro Warmmiete ausgeht, läge das zustehende Arbeitslosengeld II von 685 Euro (West) immer noch
deutlich unter der oben genannten Armutsgrenze.
Eine (Mindest-)Bedarfsbemessung ist immer
normativ. In die Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Berechnungssystem gehen immer politische
Überlegungen mit ein. Der Regelsatz der Sozialhilfe (er entspricht in Höhe und Berechnung dem ALG
II) wird seit Mitte der 90er Jahre nach dem Statistikmodell berechnet. Dieses zieht als
Vergleichsmaßstab nicht das allgemeine Durchschnittseinkommen heran, sondern das Verbraucherverhalten
der Vergleichsgruppe das ist die Gruppe mit einem Einkommen knapp oberhalb der Sozialhilfe. Die
durchschnittlichen Ausgaben zur laufenden Lebensführung dieser Einkommensgruppe werden in Bedarfsarten
aufgeteilt, dann wird nach normativen, politischen oder fiskalischen Vorgaben festgelegt (und im Idealfall
wissenschaftlich nachvollziehbar begründet), welchen Anteil an der jeweiligen Bedarfsart man
Sozialhilfeberechtigten zugesteht.
Sozialhilfe- und Erwerbslosengruppen
stellen diesen Maßstab seit Jahren in Frage. Denn er geht von der Annahme aus, dass das
Verbraucherverhalten der Vergleichsgruppe dem notwendigen und menschenwürdigen Bedarf entspricht.
Diese Annahme übersieht aber, dass diese Gruppe bereits weitgehend in Armut abgerutscht ist. Soll ein
soziokulturelles Einkommen definiert werden, das dem gesellschaftlichen Durchschnitt entspricht, dann muss
als Vergleichsmaßstab eine Verbrauchergruppe mit mittlerem Einkommen herangezogen werden sonst
wird über das Statistikmodell regelmäßig ein Betrag berechnet, der für das
soziokulturelle Einkommen nicht ausreicht.
In den letzten Jahren ist die Sozialhilfe
nicht mehr an die reale Preisentwicklung angepasst worden. Deshalb liegt sie heute deutlich unter der
offiziellen Armutsgrenze. Eine Debatte über den Mindestlohn kann deshalb das Niveau der Sozialhilfe
nicht ausblenden. Der Regelsatz der Sozialhilfe muss wieder deutlich angehoben werden, wenn vermieden
werden soll, dass auch der Mindestlohn unter die Armutsgrenze rutscht.
Den Gewerkschaften gelingt es mittlerweile in vielen Bereichen nicht mehr, auskömmliche Löhne
zu erkämpfen. So waren bereits im Jahr 2003 in mehr als 130 Tarifverträgen Stundenlöhne von
unter sechs Euro vereinbart.
Die Gewerkschaften haben Schwierigkeiten,
Tarifverträge auszuhandeln und ausgehandelte Tarifverträge durchzusetzen; selbst Tariflöhne,
die sich faktisch mit dem Sozialhilfesatz vergleichen, werden von den Unternehmern auf breiter Front
unterlaufen. Dies verstärkt der Staat noch mit seiner "Reform" des Arbeitsmarkts: Er zwingt
Erwerbslose dazu, jede Arbeit anzunehmen, und verpflichtet die Arbeitsämter darauf, auch auf Stellen
zu verweisen, die deutlich unter Tarif bezahlt sind.
Eine Ausnahme stellt in Deutschland die
Baubranche dar. Dort wurde bereits 1996 von der im Arbeitnehmerentsendegesetz eingeräumten
Möglichkeit Gebrauch gemacht, einen von den Tarifparteien ausgehandelten Mindestlohntarifvertrag durch
den Bundesarbeitsminister für allgemeinverbindlich zu erklären und auch auf aus dem Ausland
entsandte Arbeitnehmer zu erstrecken. Damit gibt es in dieser Branche einen Mindestlohn auch für
Bereiche, in denen keine Tarifverträge gelten. Seit einigen Jahren gibt es entsprechende Verordnungen
auch für das Dachdeckerhandwerk, für das Maler- und Lackiererhandwerk und für das Abbruch-
und Abwrackgewerbe.
Die Zuverdienstregelungen beim
Arbeitslosengeld II stellen derzeit faktisch einen unbefristeten und allgemeinen Kombilohn dar. Wie weit
dieser schon verbreitet ist, zeigen jüngste Zahlen, nach denen jeder fünfte Bezieher der so
genannten Grundsicherung für Arbeitsuchende nebenbei erwerbstätig ist. Kombilöhne
ermöglichen den Unternehmen, verstärkt nicht Existenz sichernde Arbeitsplätze anzubieten.
Und es gibt deutliche Anzeichen, dass regulär und besser bezahlte Stellen durch Kombilohnjobs
verdrängt werden. Dies lässt sich bei den Mini-Jobs, die von vielen Erwerbslosen als
Zuverdienstmöglichkeit genutzt werden, bereits heute beobachten. Zudem besteht die Gefahr, dass
Arbeitgeber die Lohnkosten mehr und mehr auf den Staat abwälzen (Freitag vom 17.3.2006).
"In 18 der 25 EU-Mitgliedstaaten gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn, der in der Regel als
monatlicher Bruttolohn festgelegt wird und zwischen 40 und 60% des durchschnittlichen Bruttolohns
beträgt. Dieser reicht im Jahr 2005 von 116 Euro in Lettland bis 1467 Euro in Luxemburg. In den
Beitrittskandidatenländern Bulgarien, Rumänien und der Türkei beträgt der Mindestlohn
77, 72 bzw. 240 Euro, in den USA 666 Euro. Mit Ausnahme der USA passen die meisten westlichen Staaten den
Mindestlohn regelmäßig an die gestiegenen Lebenshaltungskosten an. Die Existenz eines
gesetzlichen Mindestlohnes sagt allerdings nur wenig über seine Reichweite aus: In Großbritannien
werden bspw. nur 1,9% der Vollzeitarbeitskräfte nach dem Mindestlohn bezahlt, da das Lohnniveau
allgemein deutlich höher liegt. Bei Frauen ist der Anteil der Mindestlohnbezieher meist höher als
bei Männern. In Dänemark sind hingegen nahezu flächendeckend tarifvertragliche
Mindeststandards festgeschrieben." So ist es nachzulesen es in Wissenschaftliche Dienste des Deutschen
Bundestags, Der Aktuelle Begriff (Nr.64, 2005). Tarifliche Mindestlöhne, an denen Gewerkschaften
beteiligt sind, gibt es nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dort greift die Tarifautonomie
vor der gesetzlichen Regelung.
Die Höhe der Forderung nach einem
gesetzlichen Mindestlohn muss sich zunächst daran orientieren, was eine Arbeitskraft unter den
konkreten Umständen in Deutschland mindestens braucht, um einigermaßen davon leben zu
können. Ein Mindestlohn von 7,50 Euro, wie von Ver.di gefordert, ist auf keinen Fall ausreichend. Ein
Mindestlohn muss mindestens ein Lohn sein, der Existenz sichernd ist und nicht gepfändet werden kann.
Mithin muss er deutlich über der offiziellen Armutsgrenze liegen.
Wer es ernst damit meint, keinen
Niedriglohnsektor haben zu wollen, der muss für einen gesetzlichen Mindestlohn von wenigstens 10 Euro
pro Stunde eintreten. Im Baugewerbe liegt der Mindestlohn für Ungelernte bei 10 Euro. Warum soll ein
solcher Betrag nicht auch für andere Bereiche gelten?
Erika Biehn
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