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Im Mai jährt sich zum hundertsten Mal der Geburtstag des italienischen
Filmregisseurs Roberto Rossellini.
Zu Beginn des Faschismus ist Rossellini 16 Jahre alt. Wie alle Filmemacher seiner Generation
beginnt er seine Karriere unter Mussolini. Er dreht eine bissige antifaschistische Burleske, Il tacchino
prepotente (1939), und dann leider drei Propagandafilme, Un pilota ritorna (1942), La nave bianca (1942)
und Luomo dalla croce (1943). Weit entfernt von der Ästhetik des faschistischen Pomps
enthüllen diese Filme simpler ideologischer Machart bereits seine Neigung zum dokumentarischen Stil.
Nach dem Krieg drücken Roma,
città aperta (Rom, offene Stadt) und Paisà dem internationalen Kino bereits ihren Stempel auf
durch ihre emotionale Wucht und ihre Fähigkeit, in einer natürlichen Szenerie den Menschen
auf der Straße das von den Schrecken des Krieges, dem Schwarzmarkt und der Armut heimgesuchte Italien
nahe zu bringen. Rossellini bahnt auf diese Weise dem Neorealismus den Weg. Für den Kritiker
André Bazin "ist der Neorealismus eine globale Beschreibung der Realität mittels eines
globalen Bewusstseins … Er wendet sich gegen die realistischen Ästhetiken, die ihm vorausgingen,
insbesondere gegen den Naturalismus und den Verismus, sein Realismus liegt nicht so sehr in der Auswahl der
Sujets, sondern in der Bewusstwerdung." Für Rossellini ist der Neorealismus vor allem ein
moralischer Standpunkt gegenüber der Welt, diese Sichtweise bestimmt und schafft seine Ästhetik.
Die Kargheit seiner materiellen Mittel
beantwortet Rossellini mit einer großzügigen Sicht und einer revolutionären Handschrift:
eine rätselhafte und synthetische Kunst der Darstellung von Ereignissen.
Die Trilogie Roma, città aperta
(1945), Paisà (1946), Germania anno zero (Deutschland im Jahre Null, 1948) stellt Personen und Kontext
auf dieselbe Ebene. In den Gesichtern der Menschen wie in den in Trümmern liegenden Städten
spiegelt sich die Zeit exakt wider.
In Roma, città aperta treten Mussolini
und der italienische Faschismus, obwohl noch gegenwärtig, zugunsten des Widerstands und Leidens des
italienischen Volkes gegen die Nazibesatzer in den Hintergrund. Dennoch erweckt Rossellini den Eindruck,
einen Film der Gegenwart zu drehen, so intensiv und aufrührend ist er. Noch nie wurden bis dato der
Krieg und seine Schrecken so brutal und wahrhaftig geschildert (außer vielleicht bei Dowshenko).
Diese Intensität steht nicht im
Gegensatz zum Lyrismus seiner Filme, der seinen Ausdruck in der schönen, von seinem Bruder Renzo
Rossellini komponierten Musik findet. So führen Bewegung und Musik in Paisà, einem prachtvollen
Fresko über die Befreiung Italiens, am Ende in die Tragödie.
Edgar Morin inspiriert Rossellini zu
Germania anno zero, der in den Trümmern Berlins gedreht wird. Der Film zeigt ein Kind, das in einer
Gesellschaft ohne moralische Maßstäbe seinen Vater tötet: Edmund begeht Selbstmord, als er
sich des Chaos der Welt und des Horrors seiner eigenen Taten bewusst wird. Dieses kraftvolle Werk
beschreibt die schrecklichen Wirkungen des Krieges auf die Kindheit.
Der schöne Film von 1960, Era notte a
Roma (Es war Nacht in Rom), behandelt das faschistische Italien; ebenso das verstörende Werk Il
Generale della Rovere (Der falsche General, 1959) mit einem großartigen Vittorio De Sica in der
Titelrolle.
Rossellini heiratet Ingrid Bergman, die
daraufhin mit Hollywood bricht. Sie dreht sechs Spielfilme mit ihm, darunter großartige Werke wie
Stromboli (1950), Europa 51 (1952), Viaggio in Italia (Reise in Italien, 1954), La Paura (Angst,
1954).
Diese Filme erlauben dem Regisseur, komplexe Themen zu vertiefen und neue Wege zu gehen. Weit davon
entfernt, die Darstellung der Welt zugunsten des Porträts von Individuen aufzugeben, erweitert
Rossellini seine Suche. Er spürt der inneren Wahrheit nach, die er vor unseren Augen als etwas
Greifbares, Bewegendes und Tiefgründiges entstehen lässt. Darin entsteht das Drama für das
Individuum im Konflikt mit der äußeren Welt aus seinem Streben nach Harmonie und
Selbstverwirklichung.
Unter dem Einfluss der Schriften Herbert
Marcuses (Der eindimensionale Mensch) und Simone Weils (La Condition ouvrière) interessiert sich
Rossellini für außergewöhnliche Gestalten, deklassierte Individuen am Rande, die ihren Weg
suchen. In Europa 51 nimmt Irène, eine Frau aus dem Großbürgertum, aus Trauer um ihr
Kind Kontakt zur Außenwelt auf und bricht mit ihrer Klasse. Sie wird nach und nach frei und kommt zu
innerer Ruhe, während Familie, Psychiater, Gerichte und Polizei sie für verrückt
erklären und einsperren lassen.
Mit Francesco, giullare di Dio (Die Blumen
des Hl.Franziskus, 1950), einem pantheistischen, aber historisch strengen Film, sowie mit Giovanna
dArco al rogo nach dem Oratorium von Paul Claudel und Arthur Honegger bekräftigt
Rossellini seinen Lyrismus. Der Regisseur wendet sich auch großartigen satirischen Komödien zu
wie La macchina ammazzacattivi (1952) und Dovè la libertà (Wo ist die Freiheit?, 1954).
In den 60er Jahren macht Rossellini eine
Krise durch, in der er zum Schluss kommt, dass allein eine moralische Position der Wahrheit nahe kommen
könne. Er erklärt deshalb das Kino für tot und betrachtet das Fernsehen als das Werkzeug,
Erkenntnis zu fördern. Er entscheidet sich für die Wissenschaft und beginnt ein
enzyklopädisches Projekt über die "Vorstellung von der Welt".
Er realisiert allgemeinbildende Filme, die
für alle verständlich sein sollen und in denen er Didaktik mit ungewöhnlichem Lyrismus
verbindet. Er dreht insgesamt mehrere hundert Stunden, darunter Letà del ferro (1964), La prise
de pouvoir par Louis XIV (1966), La lotta delluomo per la sua sopravvivenza (1970), Socrate (1970),
Blaise Pascal (1971), Cartesius (1974) und Il Messia (Der Messias, 1976) (letzteren mit einer eher
historischen als religiösen Interpretation).
Ausgehend von Essays, Anekdoten und Texten
schafft er eine neue Technik, Geschichte zu erzählen. Rossellini realisiert Porträts
berühmter Persönlichkeiten. Er interviewt Allende in Chile (La forza e la ragione, 1971) und
nimmt Kontakt mit Mao Zedong auf, um mit Mao selbst ein "Leben Maos" zu drehen. Das Projekt
scheitert an der RAI.
Rossellini arbeitet mehrere Monate an
seinem letzten großen Projekt: einem Film über das Leben von Karl Marx, von seiner Jugend bis zum
Kommunistischen Manifest. Der Regisseur stirbt, bevor er das Werk drehen kann.
Rossellini hat zahlreiche Filmemacher
beeinflusst: Olmi, Lizzani, Pasolini. Federico Fellini, sein früherer Assistent, sah in ihm einen
Meister, ebenso Truffaut, Rouch und Godard.
Rossellini, besessen von Neugier, nahm die
Atmosphäre seiner Zeit ohne vorgefasste Theorie, aber mit Leidenschaft auf. Mit Intelligenz und einer
lebhaften Sensibilität versuchte er beim Zuschauer ein Bewusstsein von den Problemen der Gegenwart zu
fördern.
Laura Laufer
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