SoZ - Sozialistische Zeitung |
Freud entwarf eine Therapie zur "Befreiung von unnötigem innerem
Zwang" (S.Ferenczi). Im Alltagsleben, zu dem auch das Traumerleben gehört, ist der Witz, der uns
vermöge freien Assoziierens einfällt und uns nötigt, ihn weiterzuerzählen, das Vorbild
einer solchen Therapie. Er ist die kleinste der uns möglichen Emanzipationen.
Im Jahre 1898 war eine Abhandlung des Psychologen und Kunsttheoretikers Theodor Lipps über
"Komik und Humor" erschienen, von der Freud später, in seiner 1905 erschienenen Abhandlung
Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, schrieb, er verdanke ihr "den Mut und die
Möglichkeit", nach der Deutung der Träume und der psychischen Fehlleistungen auch die Genese
und die Funktion von Witzen aufzuklären. 1899 veröffentlichte dann Henri Bergson drei Essays
"über das durch die Komik erzeugte Lachen", die im folgenden Jahr unter dem Titel Le rire
als Buch erschienen. 1904 steuerte Franz Jahn eine literaturhistorische Untersuchung über das Komische
bei. Und im darauf folgenden Jahr schloss Freud sich an mit seiner sozialpsychologischen Studie über
den Witz, die das eigentliche Gegenstück zu seinen elf Jahre zuvor veröffentlichten
Aufsätzen über die Zwangsneurose darstellt. Im selben Jahr 1905 eroberte eine ganze Truppe von
traurigen Gauklern, Akrobaten, Komödianten und Harlekinen die Zeichenblätter und Leinwände
Pablo Picassos.
Das (vorläufig) letzte Wort in diesem (erneuerten) Diskurs über das Komische und Groteske, das
Witzige und das Subversive gehörte aber einem Poeten, dem Lyriker Christian Morgenstern, der
gleichzeitig mit Freuds Buch über den Witz und ein gutes Jahrzehnt vor der Geburt des
"Dadaismus" im Zürcher "Cabaret Voltaire" einen ganzen Band voll von
"befreitem Unsinn" (Freud), närrischen Versen und Lautgedichten, unter dem Titel
Galgenlieder veröffentlichte.
Im Vorwort zu dieser Sammlung von
Nonsensreimereien ist von "acht lustigen Königen" die Rede, "die lebten" und
"das Neue" suchten. Bald kamen sie zu dem Schluss, der einzige "Weg dazu" führe
über den Galgen. "Und die acht lustigen Könige rafften ihre Gewänder und ließen
sich von ihrem Narren hängen. Den Narren aber verschlang allsogleich der Geist der
Vergessenheit." Auf diese prophetische Fabel folgt bei Morgenstern, ohne weiteren Kommentar, eine
kurzgefasste Poetik: "Betrachten wir den Galgenberg als ein Lug aus der Phantasie ins Rings. Im
Rings befindet sich noch viel Stummes. Die Galgenpoesie ist ein Stück Weltanschauung. Es ist die
skrupellose Freiheit des Ausgeschalteten, Entmaterialisierten, die sich in ihr ausspricht."
Im Galgenlieder-Jahr 1905 endete der
russisch-japanische Krieg mit einer vernichtenden Niederlage der See- und Landstreitkräfte des Zaren
(bei Port Arthur, Tsushima und Mukden). Zum ersten Mal wurde eine europäische Großmacht von einer
nichteuropäischen, modernisierten Armee zum Rückzug aus den von ihr beanspruchten
Kolonialgebieten (Korea, der Mandschurei und Süd-Sachalin) gezwungen. Im Gefolge des verlorenen
Krieges brachten Massenstreiks, an denen sich (im Frühjahr und im Herbst) etwa drei Millionen Menschen
beteiligten, und Aufstandsversuche, deren Niederschlagung Tausende das Leben kostete, die Romanow-Dynastie
ins Wanken ein Menetekel für das europäische Ancien régime der Vorkriegszeit.
Das Jahr 1905 war ein Jahr der Rebellionen
und des Gelächters. Die Regime der Zaren, Kaiser und Sultane hatten sich überlebt, ihr Personal
wurde allmählich komisch, und Lächerlichkeit tötet. Vor allem denen, die aus ihr keinen
Vorteil zogen, erschien die Vorkriegsgesellschaft mehr und mehr als eine "verkehrte Welt". Die
spielerisch-episodische Umstülpung der verkehrten Welt ist der Karneval, die ernsthafte, auf Dauer
gestellte ist die Revolution. Die Vorkriegszeit war die große Zeit der Komödien, Satiren und
Karikaturen, der "tendenziösen" Witze, avantgardistischen Manifeste und revolutionären
Traktate. Künstler und Revolutionäre attackierten die politische (und die sexuelle) Unordnung,
die sich noch immer als Ordnung aufspielte. "Die Angriffsobjekte des Witzes", schrieb Freud,
"können … Institutionen sein, Personen, insoferne sie Träger derselben sind, Satzungen
der Moral oder der Religion, Lebensanschauungen, die ein solches Ansehen genießen, dass der Einspruch
gegen sie nicht anders als in der Maske eines Witzes auftreten kann." Der Witz dient der
"Auflehnung gegen den Denk- und Realitätszwang", er hilft gegen Unterdrückung,
verschafft "Aufhebungslust" und führt, einmal vergesellschaftet, zu einer
"allgemeine[n] Erleichterung".
Witze, "die sozialste[n] aller auf Lustgewinn zielenden seelischen Leistungen" (Freud), sind
an ihre "Zeit", an bestimmte Situationen gebunden und an ein bestimmtes Publikum adressiert. Sie
sind "eigentlich nie tendenzlos", denn der Witz-Erzähler sucht Bundesgenossen. Indem er
seinen Partner "durch Mitteilung seines Lustgewinns besticht", "verwandelt er den
anfänglich indifferenten Zuhörer … in einen Mithasser oder Mitverächter und schafft
dem Feind ein Heer von Gegnern, wo erst nur ein einziger war". Progressive wie reaktionäre Witze
stärken den Zusammenhalt der Gruppen, die solche Witze als Witze akzeptieren, sie belachen und
weitererzählen; sie sollen Proselyten machen.
Texte entstehen in bestimmten lebens- und
sozialgeschichtlichen Kontexten, formulieren sie und setzen sich damit auch von ihnen ab. Die Bedingungen,
unter denen er geschrieben wurde, vergehen, der Text bleibt. Er wird sozusagen "zeitlos",
trägt aber an verborgener Stelle ein Mal oder einen "Nabel", der an den vergessenen
Entstehungszusammenhang gemahnt. Eine solche "Zeitmarke" findet sich im Kapitel III des ersten,
analytischen Teils von Freuds Buch über den Witz, das dessen "Tendenzen" gewidmet ist. Am
Beispiel von Heiratsvermittlergeschichten spricht Freud da über "zynische" Witze, in denen
mit "fehlerhafter Begründung" eine "versteckte Darstellung der Wahrheit" gegeben
wird, also über "epikureisch"-unmoralische Geschichten. Dann zitiert er aus Horaz
"Ode an Leuconoe": "Carpe diem" genieße das Heute ! Danach wird der Ton
tiefernst, und Freud formuliert eine moralisch-politische Konfession, wie man sie in seinen Schriften sonst
kaum findet:
"Es lässt sich laut sagen, was
diese Witze flüstern, dass die Wünsche und Begierden des Menschen ein Recht haben, sich
vernehmbar zu machen neben der anspruchsvollen und rücksichtlosen Moral, und es ist in unseren Tagen
in nachdrücklichen und packenden Sätzen gesagt worden, dass diese Moral nur die eigennützige
Vorschrift der wenigen Reichen und Mächtigen ist, welche jederzeit ohne Aufschub ihre Wünsche
befriedigen können. Solange die Heilkunst es nicht weiter gebracht hat, unser Leben zu sichern, und
solange die sozialen Einrichtungen nicht mehr dazu tun, es erfreulicher zu gestalten, so lange kann die
Stimme in uns, die sich gegen die Moralanforderungen auflehnt, nicht erstickt werden. Jeder ehrliche Mensch
wird wenigstens bei sich dieses Zugeständnis endlich machen."
Obwohl eine "allgemein- und
endgültige Lösung des Konflikts" zwischen Wunsch und Moral nicht zu haben sei, heißt es
weiter in diesem Text, könne doch "eine neue Einsicht" weiterhelfen. Diese "neue
Einsicht" aber ist die Maxime eines Sozialrevolutionärs, der das "Allgemeine" zu seinem
besonderen Interesse macht: "Man muss sein Leben so an das anderer knüpfen, sich so innig mit
anderen identifizieren können, dass die Verkürzung der eigenen Lebensdauer überwindbar wird,
und man darf die Forderungen der eigenen Bedürfnisse nicht unrechtmäßig erfüllen,
sondern muss sie unerfüllt lassen, weil nur der Fortbestand so vieler unerfüllter Forderungen die
Macht entwickeln kann, die gesellschaftliche Ordnung abzuändern." (Hervorhebungen: H.D.)
Die "neue Einsicht"
erschließt sich einem "Unglaubensgenossen", der den repressiven Charakter der Verzichtmoral
durchschaut und ihr gegenüber die relative Wahrheit des Hedonismus anerkannt hat. Er identifiziert
sich mit der Menschheit, mit denen, die nach ihm kommen, und kann sich deshalb aus freien Stücken auch
die Erfüllung gewisser eigener Bedürfnisse versagen, sofern sie ihm als eine
"unrechtmäßige" erscheint. Unrechtmäßig ist sie nicht etwa, weil sie, im
Sinne des Strafrechts, ein Verbrechen wäre. Illegitim ist sie, sofern sie sich über das Elend der
vielen hinwegsetzt, genauer: sofern sie als privilegierte Erfüllung die Nichterfüllung der
Bedürfnisse der Mehrheit voraussetzt. Freud rät zu einer Art von solidarischer Askese. Nur, wenn
auch eine Fraktion der Privilegierten sich zu Teilhabern des Unglücks der "Erniedrigten und
Beleidigten" macht, wird aus den "unerfüllten Forderungen" eine "Macht", die
dazu hinreicht, "die gesellschaftliche Ordnung abzuändern".
Der Witz ist die Rebellion in nuce und der Karneval (samt den Witzen der Büttenredner) ein Ritual,
bei dem die Menge sich alte, längst verpönte Freiheiten wieder herausnimmt und für Stunden
oder Tage eine Verkehrung der bestehenden (Un-)Ordnung inszeniert. In beiden Fällen handelt sich um
eine "Regression im Dienste des Ichs" (Ernst Kris): Der von vielen geteilte Wunsch, der in der
lebens- und sozialgeschichtlichen Gegenwart keine Erfüllung findet, setzt sich (halluzinativ)
zunächst über die Grenze hinweg, die das Aktuelle vom Vergangenen scheidet. Die Sehnsucht sucht
Zuflucht in erinnerten und ausfantasierten Vergangenheiten.
Doch auch die Evokation der Vergangenheit
gewährt dem Wunsch keine Erfüllung; alles Vergangene bleibt vieldeutig und schimärisch,
nichts davon lässt sich in die Aktualität hinüberretten oder reproduzieren. Gefangen
zwischen den Zeiten einer Gegenwart, von der sie enttäuscht sich abwenden, und einer
Vergangenheit, deren Mythen sie nicht verfallen wachsen manchen Tagträumern Flügel. Sie
möchten gern auch die Schranke überwinden, die ihre Gegenwart von der Zukunft trennt. Aus der
Enttäuschung an Gegenwart und Vergangenheit aber ziehen sie ungeahnte Kräfte die der
Antizipation: "Der Wunsch [benützt] einen Anlass der Gegenwart, um sich nach dem Muster der
Vergangenheit ein Zukunftsbild zu entwerfen" (Freud). Vor dem Grübler zeichnet sich dann
unversehens eine Lösung seines Problems ab, die lange gesuchte Formel für Leben und Welt, und dem
Gefangenen eröffnet sich in auswegloser Situation ein aussichtsreicher Fluchtweg.
Der Witz ist das kleine Fest einer
Befreiung von Hemmungs- (oder Separierungs-)Aufwand, eine gesellige Tabuverletzung. Wird die Spannung
zwischen Zensur und "Gegenwille" unerträglich, entlädt sie sich im Wortwitz-
Gedankenblitz. Der Witz fällt dem Witzigen unerwartet ein und überwältigt seine
Zuhörer. Er kommt für sie so überraschend wie der Volksaufstand für die Regierenden und
(meist auch) für die Revolutionäre, die doch wähnen, sie hätten sich immer schon auf
ihn vorbereitet. Sie alle machen die "überraschende Entdeckung", dass sich von langer Hand
von ihnen aber unbemerkt im "Untergrund" etwas angebahnt hat, das nun jäh und
blendend zutage tritt.
Ob es sich beim Witz wirklich um eine
progressive Regression handelt, ist so ungewiss wie bei den Sozialrevolten, die Anleihen bei der
Vergangenheit machen. Er löst eine soziale Kettenreaktion aus, denn er wird weitererzählt und von
vielen belacht. Die klandestine Gemeinschaft der subversiven Lacher ist unorganisiert und daher schwer zu
fassen. Und in den Tagen des sozialen Aufruhrs kommt die latente Komik unzeitgemäß gewordener
Verhältnisse zum Vorschein: Klassische Herrschaftsgesten bleiben ohne Wirkung, beschwörende
Appelle verhallen, bewährte Rituale wirken nicht mehr ergreifend, sondern nur noch absurd. Das Fest
ist der Antagonist des Alltags, und die Revolution ist der Witz in der Geschichte.
Helmut Dahmer
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