SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2006, Seite 13

Latinos in den USA - Einwanderungsgesetz vorläufig gestoppt

"Hier stehen und bleiben wir"

Lateinamerikanische Einwandererinnen und Einwanderer in den USA haben in den letzten Wochen mit spektakulären Streiks und Massendemonstrationen ein rassistisches Einwanderungsgesetz vorläufig stoppen können.

Den Auftakt machte Chicago mit einer Demonstration von über einer halben Million Migranten und ihren Unterstützern am 10.März. Es war die größte Demonstration in der Geschichte dieser Stadt. Von hier aus breitete sich der Protest über das ganze Land aus, kleine und große Städte gleichermaßen.
Millionen folgten am 25.März dem Aufruf zu einem nationalen Aktionstag — allein in Los Angeles gingen 1—2 Millionen Menschen auf die Straße — auch dies die größte Demonstration in der Geschichte der Stadt. Zeitgleich gingen Millionen Menschen in Chicago, New York, Atlanta, Washington D.C., Phoenix, Dallas, Houston, Tucson, Denver und Dutzenden anderen Städten auf die Straße.
Zehn Millionen befolgten einen weiteren Aktionstag am 10.April. Jetzt traten auch Hunderttausende High-School-Studenten vor allem in Los Angeles in den Streik, um ihre Familien und Gemeinden zu unterstützen — trotz Polizeigewalt und rechtlicher Verfolgung. Ihre gemeinsame Parole ist: "Hier stehen wir und bleiben wir."
Diese Proteste sind in der Geschichte der USA ohne Beispiel. Ihr unmittelbarer Anlass war die Verabschiedung eines drakonischen Einwanderungsgesetzes Mitte März durch das Repräsentantenhaus. Das Gesetz HR4437 wurde vom republikanischen Abgeordneten James Sensenbrenner eingebracht, mit breiter Unterstützung der Antieinwanderungslobby. Es kriminalisiert Einwanderer ohne Papiere, indem es den Aufenthalt in den USA ohne Ausweis zu einem Straftatbestand erklärt. Es fordert auch den Bau der ersten 700 Meilen einer militarisierten Grenze/Mauer zwischen Mexiko und den USA und die Verdopplung der Grenzschutztruppe US Border Patrol. Und jeder, der Migranten ohne Papiere Hilfe leistet — auch Kirchen, Menschenrechtsgruppen und soziale Einrichtungen — soll als Straftäter verfolgt werden.
Im Senat fiel das Gesetz HR4437 durch. Der Demokrat Ted Kennedy und der Republikaner John McCain brachten daraufhin gemeinsam einen "Kompromiss" ein, der ohne einen Straftatbestand auskam und für einige Migranten ohne Papiere einen begrenzten Amnestieplan vorsah.
Diejenigen, die nachweisen konnte, dass sie mindestens seit fünf Jahren in den USA leben, hätten die Möglichkeit bekommen, Aufenthaltsrecht und später auch die Einbürgerung zu beantragen. Diejenigen, die nicht länger als zwei Jahre in den USA lebten, wären aufgefordert worden zurückzukehren und über die US-Botschaft ihres Landes einen Antrag auf eine "Gastarbeitererlaubnis" zu stellen. Diejenigen, die nicht nachweisen konnten, länger als zwei Jahre in den USA gelebt zu haben, wären ausgewiesen worden.
Somit wäre auch dieser "Kompromiss" in Massendeportationen und einer drastischen Kontrolle über alle Einwanderer gemündet. Doch der republikanischen Opposition ging der Entwurf zu weit, und so fiel auch er durch. Ende April war der ganze Gesetzgebungsprozess somit in der Sackgasse. Wahrscheinlich wird er vor den Kongresswahlen im November 2006 auch nicht wieder aufgenommen werden.
Der Protest bezieht sich aber längst nicht mehr nur auf das Gesetz. Er ist zum Ventil lange aufgestauter Wut über die zunehmende Ausbeutung der Migranten bei gleichzeitiger Verschärfung der Repressalien gegen Einwanderer und einer Zunahme von Rassismus geworden.
Zweimal hat der Staat Kalifornien den Migranten das Recht verweigert, eine Fahrerlaubnis zu erlangen. Das bedeutet, dass sie auf völlig ungenügend oder gar nicht existente öffentliche Verkehrsmittel zurückgreifen oder das Risiko eingehen müssen, ohne Führerschein zu fahren. Die Fahrerlaubnis ist oft die einzige Möglichkeit, sich bei so lebenswichtigen Transaktionen wie der Einlösung von Schecks oder der Anmietung einer Wohnung legal auszuweisen.
Die 3000 Kilometer lange Grenze zwischen den USA und Mexiko ist zunahmend militarisiert worden, Tausende von Einwandern haben beim Versuch, die Grenze zu überschreiten, ihr Leben gelassen. Kommandos, die auf eigene Faust Einwanderer jagen, nehmen zu. Offen rassistische Sprüche, die noch vor wenigen Jahren als extrem gegolten hätten, finden Eingang in die Massenmedien und werden von der breiten Öffentlichkeit übernommen.
Die paramilitärische Organisation Minutemen, eine moderne Latinohasserversion des Ku-Klux-Klan, hat sich von ihrem Ursprungsort in den Grenzgebieten Arizonas und Kaliforniens auf andere Teile des Landes ausgebreitet. Diese Organisation behauptet, sie müsse "die Grenze sichern", da die staatlichen Kontrollen nicht ausreichend seien. Ihre Reden sind nicht nur rassistisch, sondern neofaschistisch.
Einige ihrer Mitglieder wurden mit T-Shirts gefilmt, die die Aufschrift trugen: "Heute einen Mexikaner killen?" Andere machen Geschäfte mit "Menschensafaris" in der Wüste. Ihre Klubs werden von wohlhabenden Ranchern, Geschäftsleuten und Politikern gesponsort. Ihre soziale Basis aber haben sie in jenen ehemals privilegierten Teilen der weißen Arbeiterklasse, die durch die ökonomische Umwälzung, die Deregulierung der Arbeit und die globale Kapitalflucht vertrieben wurden. Diese sind es, die mit behördlicher Ermutigung die Einwanderer nun zu Sündenböcken und zu den Urhebern ihrer Existenzunsicherheit und Verarmung machen.
Die Einwanderer und ihre Unterstützer organisieren sich in kirchlichen Netzwerken, Einwandererklubs und Initiativen für die Rechte von Migranten, Gemeindeverbänden, spanischsprachige fortschrittliche Medien, Gewerkschaften und Organisationen für soziale Gerechtigkeit.
Im April wurde bekannt, dass KBR, ein Subunternehmen von Halliburton, der früheren Gesellschaft von Vizepräsident Dick Cheney mit engen Beziehungen zum Pentagon und dicken Aufträgen durch den Irakkrieg, einen 385 Dollar schweren Auftrag zum Aufbau von Konzentrationslagern an Land gezogen hat: sie sollten flächendeckend gebaut werden für den Fall, dass es einen "Notandrang" an Migranten gibt.
Für die herrschende Klasse birgt die Einwanderung einen Widerspruch. Das Kapital braucht die billige und fügsame Arbeitskraft der Latinos (und anderer). Einwanderer aus Lateinamerika haben die unteren Ränge der US-Arbeitskräfte massiv aufgebläht. Sie stellen fast alle Landarbeiter und den großen Teil der Arbeitskräfte in Hotels, Restaurants, auf dem Bau, in Krankenhäusern, als Putzkräfte, Kinderbetreuung, in Gartenarbeit und Landschaftspflege, im Versand, im Einzelhandel, in der Verpackung von Fleisch und Geflügel…
Herrschende Gruppen fürchten deshalb, dass die Zunahme lateinamerikanischer Einwanderung zu einem Verlust an kultureller und politischer Kontrolle führen wird und zu einem Quell von Gegenhegemonie und Instabilität werden wird — wie die Aufstände in den Pariser Vorstädten gegen Rassismus und Marginalisierung im letzten Jahr gezeigt haben.
Die Unternehmer aber mögen auf die lateinamerikanische Einwanderung nicht verzichten. Im Gegenteil, sie möchten einen großen Pool an ausbeutbarer Arbeitskraft unterhalten, der unter prekären Bedingungen lebt, keine sozialen, politischen und Bürgerrechte genießt und fügsam ist, weil jederzeit abgeschoben werden kann. Sie wollen um jeden Preis die Möglichkeit der Abschiebung erhalten, denn dies erlaubt ihnen ungestrafte Superausbeutung (den Verstoß gegen gesetzliche Arbeitsbestimmungen) und auflagenfreie Nutzung (ohne Versicherungsschutz) — sie können sich dieser Arbeitskräfte jederzeit wieder entledigen, wenn sie überflüssig oder aufsässig geworden sind.
Die Bush-Regierung ist gegen das Gesetz HR4437 — nicht weil sie für die Rechte der Migranten eintritt, sondern weil sie eine Balance finden muss zwischen den Forderung der Unternehmer nach stabiler Zufuhr billiger Arbeitskraft und der Notwendigkeit eine stärkeren staatlichen Kontrolle über die Migranten. Die Regierung schlägt daher ein "Gastarbeiterprogramm" vor: Einwanderer ohne Papiere wird die Einbürgerung verweigert, sie werden in ihre Heimatländer abgeschoben und müssen dort um eine zeitlich befristete Arbeitserlaubnis nachsuchen; zugleich werden neue scharfe Grenzkontrollen eingeführt. Das "Gastarbeiter"modell hat eine lange Geschichte in den USA, es lässt sich bis zum Bracero- Programm zurückverfolgen, das im Zweiten Weltkrieg, als Arbeitskräfte knapp waren, Millionen mexikanischer Arbeiter in die USA gebracht hat — um sie wieder auszuweisen, als die US-Soldaten wieder zurückkehrten.
Die Bewegung für die Rechte der Einwanderer fordert volle Rechte für alle Migranten, darunter eine Amnestie, Arbeitsrechte, Maßnahmen der Familienzusammenführung, Schritte zur Einbürgerung oder zu einem ständigen Niederlassungsrecht, die Einstellung aller Angriffe gegen Migranten und der Kriminalisierung ihrer Gemeinden.
Eine besondere Herausforderung für diese Bewegung ist das Verhältnis der Latinos zu den Schwarzen. Historisch gesehen haben zunächst die Afroamerikaner die unteren Ränge im US-Kastensystem gefüllt. Als sie in den 1960er und 1970er Jahren für ihre Bürger- und Menschenrechte kämpften, schufen sie sich Organisationen, politisierten und radikalisierten sich. Schwarze Arbeiter standen an der Spitze kämpferischer Gewerkschaften. All dies machte sie zu einer für das Kapital unerwünschten Arbeitskraft: undiszipliniert und nicht gefügig.
Ab den 80er Jahren begannen Unternehmer, schwarze Arbeiter zu entlassen und an ihrer Stelle Einwanderer aus Lateinamerika einzustellen — das fiel mit der Deindustrialisierung und Umstrukturierung in Lateinamerika selbst zusammen. Aus der überausgebeuteten Arbeitskraft der Schwarzen wurden Marginalisierte: Erwerbslose, aus dem Netz öffentlicher Dienstleistungen Ausgestoßene, Opfer zunehmender staatlicher Repression, Kriminalisierte und Gefängnisinsassen.
Die Lateinamerikaner hingegen stellen die neue superausgebeutete Arbeitskraft. Vor 15 Jahren konnte man in Iowa oder Tennessee noch keinen einzigen Latino sehen, heute sieht man sie überall. Einige Afroamerikaner richten ihre Wut über ihre Marginalisierung deshalb (zu Unrecht) gegen die Latinos. Umgekehrt aber haben schwarze Gemeinden berechtigten Grund zur Klage über den Rassismus vieler Latinos gegenüber Schwarzen und ihren Mangel an Sensibilität gegenüber dem historischen Schicksal und der aktuellen Lage der Schwarzen — sie haben Schwierigkeiten, in ihnen natürliche Verbündete zu erkennen.
Die Zunahme lateinamerikanischer Einwanderung in die USA ist Teil eines weitweiten Aufschwungs transnationaler Migration, bedingt durch die kapitalistische Globalisierung. Die Begleiterscheinung einer integrierten globalen Weltwirtschaft ist ein wirklich globaler, wenn auch hochsegmentierter, Arbeitsmarkt. Zusätzliche Arbeitskraft wird heute in allen Teilen der Welt durch unzählige Mechanismen rekrutiert und dorthin umverteilt, wo das transnationale Kapital sie braucht. Weltweit schätzt die UNO die zugewanderte Arbeitskraft auf 200 Millionen Menschen. Etwa 30 Millionen davon sind in den USA, davon kommen mindestens 20 Millionen aus Lateinamerika. Von diesen 20 Millionen sind 11 Millionen ohne Papiere.
Das National Immigrant Solidarity Network betont, dass die Einwanderer Jahr für Jahr 7 Millionen Dollar in die Sozialversicherung einzahlen. Sie verdienen 240 Milliarden Dollar, und erhalten nur 5 Milliarden Dollar Steuerrückzahlung. Sie zahlen auch 25 Milliarden Dollar mehr in die US-Wirtschaft ein, als sie an Krankenversicherung und Sozialleistungen zurückerhalten. Bei dieser Argumentation bleiben die Billionen Dollar gänzlich unberücksichtigt, die die Einwanderer an Gewinnen und Kapitaleinkommen schaffen — nur ein geringfügiger Teil davon fließt in Form von Löhnen an sie zurück.
Die transnationale Migration der Latinos hat zu enormen Transfers von lateinamerikanischen Migranten in den USA zu ihren Verwandten in Lateinamerika geführt. Die Interamerikanische Entwicklungsbank schätzte diese Transfers für das Jahr 2005 auf 57 Milliarden Dollar. Sie bildeten die oberste Quelle für Deviseneinkünfte in Ländern wie der Dominikanischen Republik, El Salvador, Guatemala, Guyana, Haiti, Honduras, Jamaica und Nikaragua; in Ländern wie Belize, Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Paraguay und Surinam rangierten sie auf dem zweiten Rang.
Die geschätzten 10 Millionen mexikanischen Arbeitskräfte in den USA schickten 2005 20 Milliarden Dollar in ihre Heimat — das war mehr als Mexikos Einnnahmen aus dem Tourismus und wurde nur übertroffen von den Einkünften aus Öl und den Exporten aus den Maquiladoras. Diese Einkünfte sichern Millionen lateinamerikanischer Familien das Überleben.
Die Debatte über die Einwanderung in die USA berührt deshalb die gesamte politische Ökonomie des globalen Kapitalismus in der westlichen Hemisphäre — dieselbe politische Ökonomie, die derzeit in ganz Lateinamerika durch den Aufschwung von Massenprotesten und einer politischen Linkswende in Frage gestellt wird. Der Kampf für die Rechte der Migranten in den USA ist deshalb eng verbunden mit dem allgemeineren Kampf für soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika und weltweit.

William Robinson


William Robinson ist Professor für Soziologie an der Universität von Santa Barbara, Kalifornien.



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