SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2006, Seite 17

Venezuela

Die Regeln von Cecosesola - Eine Kooperative der besonderen Art

In Südamerika gibt es eine ausgeprägte Kooperativkultur. In Venezuela erhält die Bildung und Entwicklung von Kooperativen in den letzten Jahren eine besondere staatliche Unterstützung. "Konsens", "Rotation" und "ohne Chef und ohne Hierarchie" (consenso, rotación, sin jefe y sin jerarquía) zu arbeiten, sind allerdings als Arbeitsgrundlage auch in Venezuela nur bei der Dachkooperative Cecosesola und den ihr angeschlossenen Kooperativen anzutreffen.

Mein Interesse an Cecosesola (Central Cooperativa de Servicios Sociales del Estado Lara) wurde vor rund zehn Jahren bei einem Besuch zweier "Cooperativistas" in Köln geweckt: "Wir entscheiden alle unsere Angelegenheiten im Konsens." "Es gibt keinen Chef und keine Mehrheitsabstimmungen." "Wir arbeiten seit Anfang der 80er Jahre ohne Hierarchie." Das war für uns bestenfalls in kleinen Gruppen vorstellbar, aber nicht für eine komplexe Organisation mit Tausenden von Mitgliedern.

Basisentscheidung, Rotation & Konsens

Cecosesola wurde 1967 als Dachorganisation mehrerer Landkooperativen im Bundesstaat Lara und einiger Stadtteilbasisgruppen in Barquisimeto gegründet. Eine prägende Erfahrung war für die Kooperative der Zusammenbruch des von ihr 1979 gegründeten kooperativen Transportunternehmens mit mehreren Millionen Bolivares Konkursschulden. Damals stand die ganze Organisation vor dem Ruin. Das gab einen Anstoß zum Umdenken in ihren Organisations- und Arbeitsgrundsätzen.
Heute erhalten in 45 Produktions- und Versorgungskooperativen und 22 Stadtteilbasiskooperativen 2000 Menschen ihren Lebensunterhalt, arbeiten 40000 aktive Cooperativistas und über 140000 assoziierte Mitglieder miteinander, ohne dass ein Vorstand sie führt und eine Mehrheit die Abstimmungen entscheidet. Wo ich auch hinkam, wurde hervorgehoben: Basisentscheidung, Rotation und Konsens sind Kernelemente aller Einheiten von Cecosesola.
Was da passiert, ist nicht so einfach zu verstehen: Da entwickeln ziemlich viele Menschen viele Jahre in einem ohne Zweifel ziemlich kapitalistischen Land Arbeits-, Organisations- und Umgangsformen, die — meiner Kenntnis nach — noch kein anderes, auch kein wie immer auch geartetes "sozialistisches" Gemeinwesen hervorgebracht hat.
Sie entwickeln untereinander Gesprächs- und Umgangsformen, die sich bei uns viele Menschen in sozialen, politischen, radikalen oder sonstigen linken Projekten wünschen würden, von politischen Parteien gar nicht zu sprechen.

Das Spektrum der Aktivitäten

In den Produktionskooperativen von Cecosesola arbeiten jeweils zwischen 6 und 160 Campesinos und Campesinas. Die Produktionsstätten liegen im Umkreis von 160 Kilometern um Barquisimeto. Die Genossinnen und Genossen beliefern die Märkte mit wöchentlich rund 700 Tonnen Früchten und Gemüse. Aus den eigenen Produkten werden von anderen Kooperativen Brot, Pasta, Honig, Salsa und Marmeladen gefertigt. Verkauft wird in eigenen Läden in den Dörfern, den Städten der Umgebung, hauptsächlich aber auf den vier großen Märkten, der Feria popular de consumo familiar in Barquisimeto. Rund 50000 Familien in Barquisimeto, also etwa ein Viertel der Bevölkerung der 840000 Einwohner zählenden Stadt, werden von den Märkten Cecosesolas mit Obst, Gemüse und Lebensmitteln versorgt.
Eigene Labors sorgen auf dem Land für biologische Schädlingsbekämpfung und eine Regenwurmzuchtstation für Verbesserung und Verbreitung biologischer Anbauweisen. Die Lehrgänge in der Escuela Central in Barquisimeto, besonders aber die regelmäßigen Versammlungen in den Kooperativen vermitteln den Austausch dieses Wissens zwischen der Stadt und den ländlichen Gebieten.
Gesundheitsstationen in einigen Zentren der 21 Stadtteilbasiskooperativen und, seit 1994, ein eigenes zentrales Gesundheitszentrum, versorgen monatlich 10000 Menschen medizinisch und betreiben Gesundheitsvorsorge. Die Geldmittel werden durch ein kooperatives Krankenversicherungssystem aufgebracht, in das alle Assoziierten wöchentlich einen Betrag einzahlen.
Der wöchentliche Beitrag für Sparen, Sterbekasse, Gesundheitsvorsorge, Sprechstunde und ambulante Behandlung beträgt 2000 Bolivares: 2500 entsprechen derzeit etwa einem Euro. Ein Termin in der Internmedizin kostet derzeit 12000 Bolivares (4,75 Euro). für Kooperativenmitglieder und für Nichtmitglieder 18000 Bolivares (7,25 Euro). Zusätzlich hat jede Feria einen Gesundheitsfonds, in den Compaņeros und Compaņeras wöchentlich einzahlen. Dadurch ist — z.B. für kostspielige Operationen eines Compaņero — ein größerer Fonds zwischen den Ferias entstanden. Dieser "Topf" markierte vor zehn Jahren den Beginn des internen Gesundheitssystems. Zusammen mit den kostendeckenden Tarifen für Sprechstunden und medizinische Behandlung ist dies der "Dreifuß" mit dem Cecosesola seinen Gesundheitsdienst finanziert.
Ähnlich ist es mit dem genossenschaftlichen Beerdigungsunternehmen: 140000 Menschen zahlen in eine Art Sterbefamilienversicherung ein. Sie bekommen dadurch die Möglichkeit, zu erschwinglichen Preisen einen würdigen Rahmen für die Beerdigung ihrer Angehörigen (derzeit etwa 90 Bolivares im Monat) in den Räumen und mit den Fahrzeugen von Cecosesola zu erhalten. Durch die enge Verbindung der Sterbeversicherung mit den Stadtteilbasisgruppen ist auch eine Sterbebegleitung möglich.
Es wird in Gesprächen immer darauf gedrungen, dass Mitgliedschaft in Cecosesola nicht "Taufscheinchristentum" bedeutet. Für diejenige Person oder Familie, die nicht aktiv in der Kooperative dabei sein will, besteht seit einem Jahr die Möglichkeit, nur "Kunde" zu sein, deshalb aber auch einen doppelt hohen Beitrag zu zahlen.
Angeschlossen an die Stadtteilbasisgruppen sind schließlich noch ein Spar- und Kreditwesen und eine günstige Einkaufmöglichkeit von Küchengeräten und Möbeln.
Dieses Spektrum von Aktivitäten macht auch ein weiteres wichtiges Prinzip von Cecosesola deutlich: Alle Unternehmungen sind mit den elementaren Bedürfnissen der Menschen in Barquisimeto und den umgebenden Regionen verbunden.

Zwei Frauenkooperativen

Die Kooperative "8 de Marzo" in Palo Verde liegt 60 Kilometer von Barquisimeto entfernt und wurde 1976 von einer Gruppe von Frauen gegründet. Das gemeinsame Produzieren und Verkaufen verbesserte ihre eigene Lebenssituation und regte andere Familien aus der Gemeinde an, ihren eigenen Obst- und Gemüseanbau ebenfalls zu verbessern. Die Frauen der Kooperative experimentierten in den ersten Jahren, lernten die Auswahl der Produkte und die Anbaumethoden zu optimieren und weiteten ihre Aktivitäten durch die Herstellung von Marmelade und gemeinsames Brotbacken aus.
1983 begann die inzwischen auf acht Frauen angewachsene Gruppe gemeinsam Pasta herzustellen, angeregt durch "Francisco", einen durchreisenden Italiener einer lateinamerikanischen Freiwilligenorganisation. Durch Zusammenarbeit mit dem Gesundheitskomitee von Cecosesola wurde die Idee der "Pasta integral" geboren: Verschiedene Sorten Pasta versetzt mit dem unterschiedlichsten Gemüse der eigenen Produktion: Tomaten, Spinat, rote Beete, Möhren, Kartoffeln usw. Diese Produkte erfreuen sich steigender Nachfrage. Dadurch konnte die Herstellung von 5 auf heute 340 Pakete am Tag gesteigert werden. Verkauft wird weiter noch im eigenen "Dorfladen", hauptsächlich aber auf den vier großen Märkten Cecosesolas, den "Ferias de consumo familiar" in Barquisimeto.
Die Kooperative "La Campesina" in Bojo wurde 1984 von zwei Frauen gegründet, die begannen, gemeinsam catalinas, eine Art Lebkuchen, herzustellen und in einem kleinen Laden in ihrem Heimatort Bojo zu verkaufen. In der Folgezeit bekamen sie Kontakt zur Kooperative "Alianza", die Mitglied von Cecosesola war, und ihre Erzeugnisse auf deren Märkten in Barquisimeto verkauften.
Dadurch angeregt vergrößerten sie 1989 ihren Kreis auf acht Frauen. Produziert wurde immer noch in den heimischen Küchen, aber verkauft wurde bereits auf den 60 Kilometer entfernten Märkten von Barquisimeto. Fünf Jahre später konnten sie ihr erstes Haus beziehen, in dem gebacken, verpackt und in begrenztem Maß auch gelagert werden konnte.
Ähnlich der Kooperative "8 de Marzo" führen sie in einem Bericht 1998 die Gründe an, aus denen sie sich zusammengetan haben: um gemeinsam zu arbeiten; um mit den Einkünften zum gemeinsamen Haushalt beizutragen; um zu lernen, besser mit Personen und Gruppen zusammenzuarbeiten; um sich zu organisieren und zu entwickeln; um sich selbst und ihre Familien besser kennenzulernen.
Als ihre "Normen" geben sie an: Verantwortlichkeit; Pünktlichkeit; sich zweiwöchentlich zu treffen; an weiter entfernten Versammlungen teilzunehmen; alle Entscheidungen gemeinsam zu treffen; sich gegenseitig zu respektieren. Als Probleme nannten sie: fehlendes Interesse an den Angelegenheiten der Gruppe; fehlender Raum zu arbeiten; Fehlen von Antworten auf Fragen; Fehlen eines eigenen Fahrzeuges.
Die Probleme scheinen "La Campesina" nicht überwältigt zu haben. Nach 30 bzw. 22 Jahren sind daraus respektable Betriebe geworden, die sich im Verbund von Cecosesola beständig wirtschaftlich weiter verbessert haben, aber auch durch die Art der Produktion, der Organisation und des Umgangs miteinander die Aktions- und Kooperationsfähigkeit ihrer Mitglieder entwickelt und in den Gemeinden zur Nachahmung angeregt haben. Heute produzieren 23 Cooperativistas täglich 1300 Brote aus neun verschiedenen integrierten Sorten, Gebäck und natürlich die leckeren catalinas. Sie werden weiter im dörflichen Laden verkauft, in der 3 Kilometer entfernten Kleinstadt Sanare, hauptsächlich aber auf den Märkten von Barquisimeto. Sie geben die Regeln von Cecosesola — keine Hierarchie, alle Entscheidungen im Konsens und Rotation — als ihr zentrales Erfolgsrezept an und als Grundlage ihrer guten Arbeitsbeziehungen.

Die Märkte

Die Wiederaufnahme der lateinamerikanischen Tradition der Märkte spielt für die Zusammenführung von Stadt und Land eine wichtige Rolle. Markt nicht als "Kalkül", als Ankauf-Verkauf-Beziehung, sondern eben auch als Treffpunkt von Beziehungen, Gesprächen, als Tummelplatz von Stimmen, Tönen und Farben, als Austausch von Erfahrungen.
Die vier Märkte (Ferias) sind das Herz von Cecosesola. Hierhin werden alle in der Woche produzierten Güter gebracht. Ab Donnerstagmorgen um 6 Uhr rollen die Lkw und Lieferwagen aus den Kooperativen an. Der Markt wird aufgefüllt und die Produkte eingeräumt. Hier ist der große Treffpunkt aller Akteure und natürlich der Austausch ihrer Aktivitäten in Waren und Worten mit der Bevölkerung von Barquisimeto. "Gemeinsam agieren, sorgen und versorgen" führt dann ab Freitagmorgen 5.30 Uhr Tausende Akteure in einer riesigen Aktion diesseits und jenseits der Verkaufsstände zusammen.
Das Gros der landwirtschaftlichen Produkte wird zu einem einheitlichen Kilopreis abgegeben. An diesem, dem vierten Wochenende des Jahres 2006, betrug er 1300 Bolivares (0,52 Euro) in der Feria Grande und 1000 Bolivares in der Mini-Feria, in der es Produkte mit leichten Mängeln gibt.
Besondere Umstände führen schon mal dazu, dass Produkte im Spezialmarkt mit höheren Preisen zusammen mit den Gütern aus biologischem Anbau angeboten werden, weil sonst die Gefahr besteht, dass sie freitags nach kurzer Zeit komplett verkauft sind. 700 Tonnen sind eine beachtliche Menge Obst und Gemüse, die wöchentlich in den vier Märkten umgesetzt werden. Übriggebliebene Ware wird montags in Spezialbussen in Stadtteile gefahren, wo sie noch günstiger verkauft werden.
80 Milliarden Bolivares (32 Millionen Euro) werden jährlich in den vier Ferias umgesetzt, das finanzielle Rückgrat von Cecosesola. Davon werden die Produktions-, Pacht-, Miet- und Transportkosten und die — überall im Wesentlichen einheitlichen — Gehälter bezahlt. Kein Spitzenverdienst, im Vergleich zu vielen anderen Verdienstmöglichkeiten jedoch eine verlässliche Einkommensquelle: Pünktlich werden jedem Cooperativista wöchentlich bar um die 200000 Bolivares ausbezahlt, also etwa 85 Euro.
Cecosesola war für mich eine neue Erfahrung: Welche Arbeit den Männern und Frauen dort wichtig ist, wie sie miteinander arbeiten, wie respektvoll sie miteinander umgehen und auf welch geduldige und gute Weise sie in all den Jahren zu einvernehmlichen Lösungen ihrer alltäglichen Probleme kommen, zeigt mir eine neue Lebensqualität.

Peter Bach

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