SoZ - Sozialistische Zeitung |
Kaum eine linke Zeitung, die um den 2.Mai herum nicht an den 100.Geburtstag des 1985
verstorbenen Wolfgang Abendroth erinnert hätte. Und leider, so Arno Klönne im Freitag, gäbe es einen
politisch-intellektuellen Charakter wie den Abendroths heute nicht mehr: Abendroth sei ein linker Politikanalytiker in der
Tradition der klassischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung gewesen, der die Entschiedenheit in der (antikapitalistisch-
sozialistischen) Sache mit einem freundlichen Umgang ebenso mischte wie die Schärfe des politischen Geistes mit der
Ablehnung jeder Effekthascherei; der Theorie und Praxis nicht auseinander gerissen hat und politische Wirksamkeit in
Gewerkschaften, Parteien und sozialen Bewegungen mit der Mitarbeit in publizistischen Projekten und linken Kleingruppen
verband; der beschränkte Sichtweisen ebenso kritisierte wie Scheinradikalismen; der die Bürokratisierung linker
Organisationsformen ebenso überwinden wollte wie die rechthaberische Isolation im gesellschaftlichen Gegen-Ghetto.
Dass Klönne mit seiner Verehrung des "Mannes der
sozialistischen Einheit" (Georg Fülberth) nicht allein steht und dass sich in die Erinnerung an Wolfgang Abendroth
eine Form linker Sehnsucht mischt, wurde auch auf zwei Großveranstaltungen in der Universitätsstadt Marburg an der
Lahn und bei der IG Metall in Frankfurt am Main deutlich, auf der jeweils bis zu 250 Interessierte die Aktualität von
Leben und Werk des westdeutschen Linkssozialisten diskutierten.
Wolfgang Abendroth war einfach "ein schöner, inspirierender, guter Charakter", so Norman Birnbaum (USA) in
Marburg am 2.Mai, ein Mensch mit "enormer moralischer Ausstrahlung" (Theo Schiller). "Es fällt
schwer", so auch Jürgen Peters, "ohne Hochachtung auf dieses Leben zurückzublicken". Die tiefe
Verneigung, die der IG-Metall-Vorsitzende mit seiner ausführlichen Grußbotschaft zur Eröffnung der IGM-
Veranstaltung am 6.Mai ableistete, war schon ein Politikum. Angemessen würdigen könne man Abendroth dabei nur, so
Peters, wenn man ihn und seine Herangehensweise in die Gegenwart hinein aktualisiere. Und das heiße für die
Gewerkschaften ganz eindeutig, dass diese "aktiver werden müssen".
Darin, dass sich in der stärkeren Wahrnehmung
gewerkschaftlicher Aufgaben auch und gerade die Zukunft unserer Gesellschaft mitentscheiden werde, darin waren sich alle
Anwesenden in Frankfurt wie in Marburg gleichermaßen einig. Detlef Hensche aktualisierte den Gewerkschaftsjuristen
Abendroth und vermisste dessen strategischen Ansatz einer permanenten Verteidigung des demokratischen und sozialen
Rechtsstaats bei den heutigen Gewerkschaften, denn noch immer gelte, dass soziale Kämpfe immer auch Kämpfe um
Verfassungspositionen seien.
Der Kritische Theoretiker Alex Demirovic räumte sogar
ein, dass Abendroths konzeptionelle Betonung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung als zentraler Vermittlerin der Theorie/
Praxis-Beziehung der Praxisabstinenz von Horkheimer und
Adorno demokratietheoretisch überlegen sei.
Als "konstruktive Veto-Spieler mit fester Betriebs- und
zivilgesellschaftlicher Verankerung", so schließlich Hans-Jürgen Urban (IG Metall) in direkter Exegese
Abendroths, spielen die Gewerkschaften nicht nur eine zentrale Rolle bei der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft
im neoliberalen Finanzkapitalismus.
Mehr noch müsse es ihnen auch um eine Demokratisierung
der Gewerkschaften selbst gehen, um eine Demokratie ermöglichende und aktivierende Gewerkschaftsorganisation, die sich
als antibürokratische Schule der Demokratie gegen vorherrschende Konzepte einer Dienstleistungsgewerkschaft wende.
Michael Buckmiller, einer der Mitherausgeber der Gesammelten
Schriften Abendroths, deren erster Band in Frankfurt druckfrisch zu erwerben war, zeigte auf, dass und wie "der
Einheitsfrontblick" auch politisch-theoretisch den roten Faden des abendrothschen Lebens und Werkes bildete.
In der politischen Praxis, immer wieder vermittelt auch durch
Bildungs- und Schulungsarbeit, käme es darauf an, einen gemeinsamen Aktionsrahmen der heterogenen Arbeiterbewegung mit
anderen sozialen Bewegungen herzustellen, in dem die solcherart Aktiven gemeinsame politische Erfahrungen machen und
verarbeiten können und diese in ein Programm von Übergangsforderungen einfließen lassen. Als solcherart
praktische Lerntheorie sei die Einheitsfrontstrategie ein Mittel auch zur Erneuerung der Arbeiterbewegung als Hüterin
der sozialen und Geburtshelferin einer sozialistischen Demokratie.
Im Zentrum all dieser eng miteinander verwobenen Fragen politischer Theoriebildung steht natürlich Abendroths
schulenbildende Interpretation der für sozialistische Transformationen offenen BRD-Verfassung als eines demokratischen
und sozialen Rechtsstaats. Für Joachim Perels verkörpert sich im Grundgesetz (GG) der unbedingt zu verteidigende
Grundgedanke, dass die liberalkapitalistische Gesellschaftsformation nicht immanent zum Guten, Sozialen, Gerechten tendiere,
sondern dass es auch verfassungspolitisch des Demos, des demokratischen Willens der aktiven, um Selbstbestimmung
kämpfenden Mehrheit der Bevölkerung bedürfe, um dem herrschenden Kapitalismus Würde und Emanzipation
abzuzwingen. Und Hans See plädierte für eine weitere Dynamisierung des Sozialstaatskonzepts und prangerte
Privatisierung und Sozialstaatsabbau als Enteignung sozialen Eigentums an.
Zur Kontroverse kam es in Marburg, als Karl Hermann Tjaden
mit der Frage provozierte, ob sich nicht auch bei Abendroth ein Quentchen Sozialstaatsillusion finde. Dem wurde jedoch heftig
widersprochen unter anderem von Peter Römer, der darauf hinwies, dass Abendroth immer peinlichst auf die
Unterscheidung von Recht und Politik geachtet habe. Gerhard Stuby schien dagegen Tjaden zuzuneigen und betonte, dass die
emanzipatorischen Ansätze des Grundgesetzes weitgehend ausgehöhlt worden seien und dasselbe "nur noch eine
Normenhülse" sei, mit der es sich herrschaftlich gut leben lasse. Abendroths Tochter Elisabeth setzte dagegen und
betonte, dass man gerade dieser Normen für die Orientierung des eigenen Kampfes bedürfe.
Fakt bleibt, dass der dem GG zugrunde liegende fordistische
Klassenkompromiss längst aufgekündigt wurde (Frank Deppe), ohne dass bereits eine erfolgversprechende
Gegenstrategie entwickelt wurde. Doch welches Licht wirft dies auf die abendrothsche Verfassungsinterpretation und sein
Postulat eines transformatorischen Charakters des GG?
Mit Fragen wie dieser endete die Diskussion gerade dort, wo
sie hätte beginnen müssen. Das machte auch die Moderatorin Verena Metze-Mangold am Ende der Marburger Veranstaltung
deutlich. Die politischen Kräfte, die eine solche Diskussion führen müssten nicht nur, aber vor allem
die neue linke Sozialstaatspartei in ihren beiden Flügeln , waren allerdings auffallend abwesend sowohl in Marburg
wie in Frankfurt personell wie diskursiv. Ebenso abwesend war die junge Generation, die in den Unihörsälen
Marburgs wenigstens reingeschnuppert hatte, aber nicht lange geblieben ist. Sie hat andere Probleme scheinbar.
Christoph Jünke
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