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SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2006, Seite 19

Ein Politikum

Zwei Tagungen zum 100.Geburtstag von Wolfgang Abendroth

Kaum eine linke Zeitung, die um den 2.Mai herum nicht an den 100.Geburtstag des 1985 verstorbenen Wolfgang Abendroth erinnert hätte. Und leider, so Arno Klönne im Freitag, gäbe es einen politisch-intellektuellen Charakter wie den Abendroths heute nicht mehr: Abendroth sei ein linker Politikanalytiker in der Tradition der klassischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung gewesen, der die Entschiedenheit in der (antikapitalistisch- sozialistischen) Sache mit einem freundlichen Umgang ebenso mischte wie die Schärfe des politischen Geistes mit der Ablehnung jeder Effekthascherei; der Theorie und Praxis nicht auseinander gerissen hat und politische Wirksamkeit in Gewerkschaften, Parteien und sozialen Bewegungen mit der Mitarbeit in publizistischen Projekten und linken Kleingruppen verband; der beschränkte Sichtweisen ebenso kritisierte wie Scheinradikalismen; der die Bürokratisierung linker Organisationsformen ebenso überwinden wollte wie die rechthaberische Isolation im gesellschaftlichen Gegen-Ghetto.
Dass Klönne mit seiner Verehrung des "Mannes der sozialistischen Einheit" (Georg Fülberth) nicht allein steht und dass sich in die Erinnerung an Wolfgang Abendroth eine Form linker Sehnsucht mischt, wurde auch auf zwei Großveranstaltungen in der Universitätsstadt Marburg an der Lahn und bei der IG Metall in Frankfurt am Main deutlich, auf der jeweils bis zu 250 Interessierte die Aktualität von Leben und Werk des westdeutschen Linkssozialisten diskutierten.

Gewerkschaften als Gegenmacht

Wolfgang Abendroth war einfach "ein schöner, inspirierender, guter Charakter", so Norman Birnbaum (USA) in Marburg am 2.Mai, ein Mensch mit "enormer moralischer Ausstrahlung" (Theo Schiller). "Es fällt schwer", so auch Jürgen Peters, "ohne Hochachtung auf dieses Leben zurückzublicken". Die tiefe Verneigung, die der IG-Metall-Vorsitzende mit seiner ausführlichen Grußbotschaft zur Eröffnung der IGM- Veranstaltung am 6.Mai ableistete, war schon ein Politikum. Angemessen würdigen könne man Abendroth dabei nur, so Peters, wenn man ihn und seine Herangehensweise in die Gegenwart hinein aktualisiere. Und das heiße für die Gewerkschaften ganz eindeutig, dass diese "aktiver werden müssen".
Darin, dass sich in der stärkeren Wahrnehmung gewerkschaftlicher Aufgaben auch und gerade die Zukunft unserer Gesellschaft mitentscheiden werde, darin waren sich alle Anwesenden in Frankfurt wie in Marburg gleichermaßen einig. Detlef Hensche aktualisierte den Gewerkschaftsjuristen Abendroth und vermisste dessen strategischen Ansatz einer permanenten Verteidigung des demokratischen und sozialen Rechtsstaats bei den heutigen Gewerkschaften, denn noch immer gelte, dass soziale Kämpfe immer auch Kämpfe um Verfassungspositionen seien.
Der Kritische Theoretiker Alex Demirovic räumte sogar ein, dass Abendroths konzeptionelle Betonung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung als zentraler Vermittlerin der Theorie/
Praxis-Beziehung der Praxisabstinenz von Horkheimer und Adorno demokratietheoretisch überlegen sei.
Als "konstruktive Veto-Spieler mit fester Betriebs- und zivilgesellschaftlicher Verankerung", so schließlich Hans-Jürgen Urban (IG Metall) in direkter Exegese Abendroths, spielen die Gewerkschaften nicht nur eine zentrale Rolle bei der Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft im neoliberalen Finanzkapitalismus.
Mehr noch müsse es ihnen auch um eine Demokratisierung der Gewerkschaften selbst gehen, um eine Demokratie ermöglichende und aktivierende Gewerkschaftsorganisation, die sich als antibürokratische Schule der Demokratie gegen vorherrschende Konzepte einer Dienstleistungsgewerkschaft wende.
Michael Buckmiller, einer der Mitherausgeber der Gesammelten Schriften Abendroths, deren erster Band in Frankfurt druckfrisch zu erwerben war, zeigte auf, dass und wie "der Einheitsfrontblick" auch politisch-theoretisch den roten Faden des abendrothschen Lebens und Werkes bildete.
In der politischen Praxis, immer wieder vermittelt auch durch Bildungs- und Schulungsarbeit, käme es darauf an, einen gemeinsamen Aktionsrahmen der heterogenen Arbeiterbewegung mit anderen sozialen Bewegungen herzustellen, in dem die solcherart Aktiven gemeinsame politische Erfahrungen machen und verarbeiten können und diese in ein Programm von Übergangsforderungen einfließen lassen. Als solcherart praktische Lerntheorie sei die Einheitsfrontstrategie ein Mittel auch zur Erneuerung der Arbeiterbewegung als Hüterin der sozialen und Geburtshelferin einer sozialistischen Demokratie.

Sozialstaatsillusion?

Im Zentrum all dieser eng miteinander verwobenen Fragen politischer Theoriebildung steht natürlich Abendroths schulenbildende Interpretation der für sozialistische Transformationen offenen BRD-Verfassung als eines demokratischen und sozialen Rechtsstaats. Für Joachim Perels verkörpert sich im Grundgesetz (GG) der unbedingt zu verteidigende Grundgedanke, dass die liberalkapitalistische Gesellschaftsformation nicht immanent zum Guten, Sozialen, Gerechten tendiere, sondern dass es auch verfassungspolitisch des Demos, des demokratischen Willens der aktiven, um Selbstbestimmung kämpfenden Mehrheit der Bevölkerung bedürfe, um dem herrschenden Kapitalismus Würde und Emanzipation abzuzwingen. Und Hans See plädierte für eine weitere Dynamisierung des Sozialstaatskonzepts und prangerte Privatisierung und Sozialstaatsabbau als Enteignung sozialen Eigentums an.
Zur Kontroverse kam es in Marburg, als Karl Hermann Tjaden mit der Frage provozierte, ob sich nicht auch bei Abendroth ein Quentchen Sozialstaatsillusion finde. Dem wurde jedoch heftig widersprochen — unter anderem von Peter Römer, der darauf hinwies, dass Abendroth immer peinlichst auf die Unterscheidung von Recht und Politik geachtet habe. Gerhard Stuby schien dagegen Tjaden zuzuneigen und betonte, dass die emanzipatorischen Ansätze des Grundgesetzes weitgehend ausgehöhlt worden seien und dasselbe "nur noch eine Normenhülse" sei, mit der es sich herrschaftlich gut leben lasse. Abendroths Tochter Elisabeth setzte dagegen und betonte, dass man gerade dieser Normen für die Orientierung des eigenen Kampfes bedürfe.
Fakt bleibt, dass der dem GG zugrunde liegende fordistische Klassenkompromiss längst aufgekündigt wurde (Frank Deppe), ohne dass bereits eine erfolgversprechende Gegenstrategie entwickelt wurde. Doch welches Licht wirft dies auf die abendrothsche Verfassungsinterpretation und sein Postulat eines transformatorischen Charakters des GG?
Mit Fragen wie dieser endete die Diskussion gerade dort, wo sie hätte beginnen müssen. Das machte auch die Moderatorin Verena Metze-Mangold am Ende der Marburger Veranstaltung deutlich. Die politischen Kräfte, die eine solche Diskussion führen müssten — nicht nur, aber vor allem die neue linke Sozialstaatspartei in ihren beiden Flügeln —, waren allerdings auffallend abwesend sowohl in Marburg wie in Frankfurt — personell wie diskursiv. Ebenso abwesend war die junge Generation, die in den Unihörsälen Marburgs wenigstens reingeschnuppert hatte, aber nicht lange geblieben ist. Sie hat andere Probleme — scheinbar.

Christoph Jünke

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