SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2006, Seite 05

Der ÖGB in der Existenzkrise

Wir müssen uns öffnen

Ortrun Gauper über Möglichkeiten und Wege zu einer Gewerkschaftsreform
Auf dem 3.österreichischen Sozialforum Mitte Juni in Graz stellten sich Vertreter verschiedener Einzelgewerkschaften in mehreren Seminaren der offenen Diskussion über die Krise des ÖGB. Das war eine Premiere — zum erstenmal wurde ein Sozialforum von Gewerkschaftern genutzt, um Auswege aus der Krise der eigenen Organisation zu finden.
ORTRUN GAUPER ist Politische Sekretärin des Vorsitzenden der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA), Wolfgang Katzian. Mit ihr sprach Angela Klein für die SoZ.
Die GPA ist mit 277015 Mitgliedern die größte Einzelgewerkschaft im ÖGB. Sie organisiert die Angestellten in der gesamten Privatwirtschaft, von der Industrie bis zur Dienstleistung.

Der Spekulationsskandal der Bawag hat den ÖGB in seine größte Krise gestürzt. Welche Auswirkungen hat das?

Wir haben nicht nur eine Finanzkrise, wir haben auch eine Glaubwürdigkeitskrise und eine riesige politische Krise. Wenn wir das nicht schnell beheben, werden wir nicht nur bald kein gesellschaftspolitischer Akteur mehr sein, wir werden auch immer weniger Mitglieder haben und dadurch auf den ureigensten Feldern der Gewerkschaftspolitik wie die Kollektivverhandlungen immer weniger Gewicht haben.

Wirken sich die beiden Faktoren jetzt schon aus?

Ja. In den letzten Wochen spüren wir deutlich, dass die Unternehmer mehr Druck auf die Beschäftigten ausüben. Wir hatten vor kurzem in einigen Branchen — Elektro und Elektronik, Versicherungen, Chemie, neue soziale und Gesundheitsberufe — die sog. einjährigen Kollektivverhandlungen. Da haben sie versucht, uns an der Nase herum zu führen. Wir haben dennoch eine dreiprozentige Gehaltserhöhung durchsetzen können. Aber wie lange wir das durchhalten, ist sehr die Frage. Die Unternehmer wollen die Chance nutzen, Gehaltserhöhungen nur noch in Höhe der Inflationsrate zuzulassen und für den Rest die Einkomensentwicklung an die Gewinnbeteiligung zu koppeln. Das ist ein Witz: wir wissen, dass man Gewinne kaschieren kann. Löhne und Gehälter sollen auch nicht automatisch um den Gewinn steigen, sondern es gäbe jährlich eine einmalige Provisionszahlung, die erfolgen kann oder auch nicht.
Zur Glaubwürdigkeitskrise: 8000 Mitglieder haben den ÖGB innerhalb der letzten zwei Monate verlassen.
Die Mitgliederentwicklung im ÖGB geht seit längerem zurück — wegen der Zunahme prekärer Beschäftigung, der Erwerbslosigkeit, der Privatisierung. Die jetzige Krise hat den negativen Trend erheblich beschleunigt.

Wo liegen deiner Meinung nach die größten Defizite beim ÖGB?

Das größte Defizit ist das autoritäre Klima. Es war fast unmöglich, in Gremien kritische Fragen zu stellen, da wurde man sofort als "illoyal" abgestempelt. Das kann nicht sein. Es muss möglich sein, dass man kritische Solidarität übt, dass es in der Gewerkschaft demokratisch zugeht.
Zwei Männer, der Vorsitzende des ÖGB und der Finanzreferent (gleichzeitig Aufsichtsratsvorsitzender der Bawag) haben, seit sie von den Finanzproblemen wissen, nämlich von 1998 bis 2006, den verschiedenen Gremien nichts darüber berichtet — oder sie haben so berichtet, dass man es nicht verstanden hat. Weder das ÖGB- Präsidium noch der Aufsichtsrat als das zuständige Kontrollgremium für die Bawag haben etwas gewusst. Da gibt es ein riesiges Problem.
Der frühere Vorsitzende meiner Gewerkschaft, Hans Sallmutter, hat Mitte der 90er Jahre mitbekommen, dass da Dinge schief laufen. Er hat immer wieder nachgefragt, ist aber dadurch völlig isoliert worden, er hat am Schluss nichts mehr mitbekommen. Ein anderes Beispiel: Als im Jahr 2001 eine überbetriebliche Mitarbeitervorsorgekasse eingeführt wurde, hat die GPA gefordert, dass ethische Grundsätze für die Anlage dieser Gelder aufgestellt werden. Die einzige, die sich trotz Nachfragen nie dazu gemeldet hat, war die Bawag und deren Vorsorgekasse. Sallmutter hatte damals regelrechte Konflikte mit dem damaligen ÖGB-Chef Verzetnitsch darum, dass die Bawag diese ethischen Grundsätze einführt. Heute wissen wir warum...

Wie kann man denn wirksame Kontrollmechanismen institutionalisieren?

Die Kontrollmechanismen haben versagt, es war keine Kontrolle möglich, das ist einer der springenden Punkte. Aber es darf sich nicht nur strukturell was ändern. Wir müssen uns auch politisch-inhaltlich neu aufstellen.

Wie kann das aussehen?

Wir haben im Jahr 2000 angefangen, uns gegenüber der Zivilgesellschaft zu öffnen — damals mit dem Thema GATS. Das war ein unrühmlicher Prozess im ÖGB durchzusetzen, dass sich der ÖGB und die Einzelgewerkschaften zu einer gemeinsamen Kampagne mit der Zivilgesellschaft zusammenschließen. Ein paar Gewerkschaften haben es dann gemacht — die GPA, die GdE, die GdG —, weil sie sich besonders betroffen fühlten. Nach der Kampagne hat man versucht, die Türen wieder zuzumachen, angeblich gab es da "viel zu viel Linke". Anderes Beispiel: die Kampagne gegen die Pensionsreform 2003. Einige NGOs hätten sich ihr gern angeschlossen. Da hieß es Nein, das ist ein rein gewerkschaftspolitisches Thema — während es eigentlich ein politischer Streik war.

Welche Maßnahmen würdest du ganz oben auf die Liste setzen, damit sich im ÖGB was ändert?

Sicher brauchen wir personelle Veränderungen. Aber das kann nur ein erster Schritt sein. Was ich mir wünschen würde, wäre ein Verjüngung und Feminisierung. Bisher war der ÖGB ein Verein alter Männer. Es gibt zwar seit 1995 die Frauenquote auf dem Papier, aber die ist nie gelebt worden, auch nicht in Spitzenfunktionen. Ich würde mir mehr politische Verantwortung insbesondere für jüngere Frauen wünschen und eine stärkere internationale Ausrichtung — wir sind eine kleine offene Volkswirtschaft, wir können nicht nur auf Linz oder Graz oder Österreich schauen, wir müssen uns mehr öffnen.
Das heißt nicht nur mehr Lobbyarbeit gegenüber der EU-Gesetzgebung, sondern auch: Wie können wir neue gesellschaftspolitische Debatte anstoßen — zu Themen wie: mehr öffentliches Eigentum oder Arbeitszeitverkürzung in Europa? Wie können wir gemeinsam gegen schlechte Arbeitsbedingungen im Betrieb angehen — bei Schlecker, Kik, Rewe — oder soziale Standards bei Fusionen und Übernahmen sicherstellen? In Deutschland hat es das gegeben — z.B. in Hamburg das Volksbegehren zur Wiederherstellung des kommunalen Eigentums an der Wasserversorgung, das war eine gemeinsame Kampagne der Gewerkschaften mit Organisationen der Zivilgesellschaft.

Nun ändert die Öffnung gegenüber der Zivilgesellschaft zunächst noch nicht viel an der Struktur der Willensbildung oder den Kontrollmöglichkeiten innerhalb der Gewerkschaften.

Wir sagen, es muss auch Urabstimmungen innerhalb der Gewerkschaft geben — z.B. eine Direktwahl der ÖGB-Spitze, oder auch Mitgliederentscheide über Themen wie die Einführung eines Grundeinkommens...

Warum meinst du, dass das ein besseres Instrument wäre als die Diskussion und Abstimmung auf Delegiertenversammlungen?

Nehmen wir das Thema bedarfsorientierte Mindestsicherung oder Grundeinkommen. In unserer Gewerkschaft spielt das ein große Rolle, weil wir die Beschäftigten im Sozial- und Gesundheitswesen, aber auch flexible Beschäftigungsverhältnisse organisieren. Die Arbeitergewerkschaften (Chemie, Metall, Bau-Holz) sind aber eher traditionell ausgerichtet und haben Angst, dass daraus eine neue Sozialschmarotzerdebatte entsteht. Sie meinen, wir kümmern uns um die Beschäftigten, Erwerbslose gehen uns nichts an. Dasselbe gilt für die Vertretung ausländischer Beschäftigter — die müssen nicht nur Mitglieder sein können, sondern auch Betriebsräte. Das passive Wahlrecht für sie ist vor allem von den Bauarbeitern immer blockiert worden.

Fühlen sich die Dienstleistungsgewerkschaften denn auf dem ÖGB-Bundeskongress unterrepräsentiert?

Nein. Unser Problem ist eher, dass es Betriebe gibt, wo drei Gewerkschaften miteinander um Mitglieder konkurrieren, oder dass es bei Auslagerungen aus dem öffentlichen Dienst (Privatisierungen) nicht auch einen Wechsel zur GPA gibt.

Gibt es Ansätze, das zu überwinden?

Wir werden in jedem Fall allein aus finanziellen Gründen unsere Kräfte bündeln müssen, also Gewerkschaften fusionieren. Unser Vorschlag ist jedoch, dass wir nicht einfach bestehende Gewerkschaftsblöcke miteinander fusionieren, sondern einen allgemeinen starken ÖGB schaffen, mit verschiedenen Branchen und politischen Bereichen. Wir führen seit Jahren Auseinandersetzungen mit den Metallern, die würden am liebsten die GPA zerschlagen und uns die Angestellten in der Industrie wegnehmen — aber die Angestellten lassen sich nicht so leicht von den Arbeitergewerkschaften organisieren, das hat auch kulturelle Gründe. Es wäre deshalb leichter, wenn wir alle zusammen in einen starken ÖGB fusionieren würden. Dieser ÖGB müsste auch eine starke gesellschaftspolitische Kraft sein, ein starker Sozialpartner mit der Fähigkeit zu einer starken Betriebspolitik.

Wie lässt sich denn die Kartellisierung im ÖGB überwinden? Ist die starke Stellung der parteipolitischen Plattformen (Fraktionen) nicht ein Hindernis?

Das hat mit der Geschichte Österreichs zu tun. Bevor Hitler Österreich annektiert hat, war das Land ein Ständestaat, tief von Bürgerkriegen zerrissen. Als nach dem Krieg Österreich die Chance bekommen hat, eine Republik zu werden, haben sich die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte zusammengesetzt und eine Sozialpartnerschaft vereinbart. Entsprechend sollte gewährleistet werden, dass auch innerhalb der Gewerkschaft Probleme ausdiskutiert werden, dabei nach außen Einheit gewahrt wird. Die Bildung von Plattformen liegt in der Natur der Sache. Die Leute finden sich ja, und wenn es kein formelles Netzwerk gibt, gibt es ein informelles.
Ich verspreche mir mehr von einem anderen Weg: Der letzte ÖGB-Vorsitzende (Friedrich Verzetnitsch) war fast 20 Jahre an der Spitze, das ist zuviel. Acht Jahre reichen.
Wir verstehen uns als gesellschaftspolitische Kraft. Uns wäre es zuwenig, wenn wir uns wie in England auf betriebliche Politik und Kollektivverhandlungen beschränken würden. Das ist jetzt eine zentrale Auseinandersetzung im ÖGB, weil der derzeitige SPÖ-Vorsitzende Alfred Gusenbauer uns hat ausrichten lassen, wir sollen uns künftig auf unser Kerngeschäft beschränken. Er will auch keine gewerkschaftlichen Spitzenfunktionäre mehr im Parlament sehen. Meine Gewerkschaft will sich das aber nicht verbieten lassen. Wir werden versuchen, mehr außerparlamentarisch wirken, und uns noch stärker gesellschaftspolitisch engagieren.

In Graz gab es den Vorschlag, im Herbst eine Konferenz der Linken im ÖGB durchzuführen. Wie steht ihr dazu?

In den Gremien haben wir darüber noch nicht gesprochen. Aber gerade unter den Jüngeren gibt es einige, die Interesse haben, sich in einen solchen Prozess einzuklinken. Wir müssen uns öffnen. Wir können uns nicht nur Gedanken hinter verschlossenen Türen machen. Es kann nicht sein, dass wir die Zivilgesellschaft nur für unsere Zwecke ausnutzen, wenn wir es brauchen. Wie sich der ÖGB künftig aufstellt, ist eine gesellschaftspolitische Frage. Da müssen wir sehen, dass wir einen Reformdialog mit Menschen aus der Zivilgesellschaft zustande bringen — und wenn sie kritisch sind, aber wir müssen das zulassen.

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