SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2006, Seite 07

Großbritannien

Gewerkschaften in der Krise

Die britische Gewerkschaftsbewegung erlebt seit Jahrzehnten einen dramatischen Verlust an Mitgliedern, an Verhandlungsposition und an politischem Einfluss. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad betrug 2004 28,8%, 1979 waren es noch 55%.

Doch es reicht schon lange nicht mehr aus, den Niedergang nur zu beklagen und ansonsten die Labour Party wieder an die Regierung zu bringen. Es braucht Strategien, die die Gewerkschaftsbewegung aus ihrer Dauerkrise herausführen. Das erfordert auch die Benennung der gesellschaftlichen Kräfte, die solche Strategien durchsetzen können.
Es gibt viel zu viele wohlwollende Kommentatoren, die gute Ratschläge geben, was die Gewerkschaften tun sollten in Bezug auf die Sozialpartnerschaft, die Organisierung von Mitgliedern, das Arbeitsrecht, den gewerkschaftlichen Widerstand, den Klassenkampf oder Wiedergewinnung der Labour Party für die Bewegung. Die Gewerkschaften sind keine einheitliche Formation, der man befehlen kann, dies oder jenes zu tun. Sie sind eine Summe aus Mitgliedern, Aktiven und Funktionären, die auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen ideologischen Einstellungen agieren.
Den vorgeschlagenen Strategien fehlt es oft an Glaubwürdigkeit, weil ihre Verfechter nicht über die sozialen Kräfte verfügen, die fähig wären, Arbeiter, Gewerkschaften, Parteien, Unternehmer, die Regierung, den Staat zu zwingen so zu handeln, wie sie es wünschen. Im Wesentlichen fordern sie andere zum Handeln auf.
Damit kommen wir zur Frage der Aktiven in den Gewerkschaften selbst. Vor zwanzig oder dreißig Jahren gab es etwa 500000 Shop Stewards und Vertrauensleute, die eine aktive Präsenz der Gewerkschaft an den meisten Arbeitsplätzen garantierten. Bezirkskomitees waren relativ verbreitete und lebendige Einrichtungen. Dadurch konnten Beschäftigte aus verschiedenen Gewerkschaften miteinander in einen lebendigen Kontakt treten. Mittlerweile gibt es nur noch 230000 ehrenamtlich Aktive. An vielen Arbeitsplätzen gibt es keine aktiven Gewerkschaftsvertreter mehr. Die Grundlagen der Gewerkschaftsbewegung sind brüchig geworden. Oft ist es schwierig, noch von einer lokalen Gewerkschaftsbewegung zu sprechen, wenn die früheren funktionierenden Netzwerke verkümmert sind.
Dieser Zustand ist nicht nur eine Frage der Quantität, d.h. der Zahl der Aktiven und ihres Aktivitätsgrads. Es gibt auch noch einen qualitativen Aspekt. Er betrifft im wesentlichen ihre Motivation und die Ziele, die sie verfolgen. Alle Gewerkschaftsaktiven werden vom Kampf gegen Ungerechtigkeit am Arbeitsplatz motiviert, manche auch vom Bestreben nach sozialer Gerechtigkeit außerhalb des Arbeitsplatzes. Und manche haben eine Weltsicht von sozialer Demokratie und Sozialismus. Das wirft ein paar wichtige Fragen auf.
Erstens sind nicht alle Gewerkschaftsmitglieder, die am Arbeitsplatz oder darüber hinaus soziale Gerechtigkeit anstreben, auch aktiv. Auf der niedrigsten Ebene der ideologischen Selbstmotivierung und Aktivität von Gewerkschaftsmitgliedern steht die Suche nach Vertretung und Schutz. Die kollektive Versorgung erkaufen sie sich im Wesentlichen individuell. In der Vergangenheit führte ein stärkeres Kollektiv- und Solidaritätsbewusstsein unter den Beschäftigten dazu, dass mehr Gewerkschafter kollektiv dachten und handelten.
Zweitens ist es zunehmend so, dass die meisten gewerkschaftlich Aktiven eben nur dies sind. Früher waren sie typischerweise auch in der Labour Party, der KP oder verschiedenen trotzkistischen Gruppen organisiert. Und wer von ihnen nicht Mitglied einer solchen Organisation war, befand sich zumeist in deren Umfeld. Durch die mittlerweile geringere ideologische Bindekraft finden gewerkschaftliche Aktivitäten von Nichthauptamtlichen zunehmend isolierter und auf individuellerer Ebene statt. Darüber hinaus hat sich die Konzentration der Gewerkschaftsbewegung auf den Arbeitsplatz gerade zu einer Zeit verschärft, als ihre nachlassende betriebliche Verankerung eine stärkere Orientierung nach außen auf andere soziale Bewegungen nahegelegt hätte.
Drittens hat auch das linke Milieu (Labour, KP, Trotzkisten) deutlich abgenommen, was unter den nach wie vor politisch motivierten Gewerkschaftsaktiven Demoralisierung und Desillusionierung nach sich gezogen hat. Das ist ein Hindernis auch für diejenigen, die potenziell Zugang zu diesem Milieu finden könnten.
Viertens bedeutete der Niedergang politisch motivierter gewerkschaftlicher Aktivität auch, dass die Verbindungen zwischen verschiedenen Beschäftigten, Gewerkschaften oder Kampagnen nun deutlich schwächer sind. In manchen Gebieten gibt es sie gar nicht mehr.
Aus der Sicht der (hauptamtlichen) Gewerkschaftsführung ist die Rekrutierung von Mitgliedern für die Gewerkschaft ein rationaler, dennoch notwendigerweise begrenzter und technokratischer Versuch, ein drängendes Problem zu lösen. Das Problem geht aber in Umfang und Komplexität über die reine Mitgliedergewinnung hinaus. Die Shop Stewards und die ehrenamtlich Aktiven des vergangenen Goldenen Zeitalters repräsentierten Kader einer aufsteigenden sozialen Bewegung. Solch eine soziale Bewegung kann nicht auf bürokratische Weise — von oben — aufgebaut werden. Woher aber können die neuen Kräfte kommen?

Neue soziale Bewegungen

Könnte eine Wiederbelebung der Sozialdemokratie dem politisch inspirierten Engagement in den Gewerkschaften neue Kräfte zuführen? Dafür bestehen derzeit keine Aussichten — trotz der anhaltenden Schwäche von New Labour vor und nach den Parlamentswahlen von 2005 und dem fortgesetzten Niedergang der Sozialdemokratie. Vor einigen Jahren wurde das Labour Representation Committee (LRC) lanciert, doch nach der Beteiligung an seinen jährlichen Konferenzen und der Anzahl der ihm angeschlossenen Organisationen und Ortsgruppen zu urteilen, scheint es damit nicht recht voranzugehen. Es existiert real nur als jährliche Konferenz und als Netzwerk linker Parlamentsabgeordneter und Gewerkschaftsfunktionäre.
Wären Gewerkschafter in der Lage, sich die Strukturen der Sozialdemokratie wirksam wieder anzueignen, weil sie begreifen, dass die Gewerkschaftsbewegung auch eine effiziente politische Kraft werden muss, könnte dies die Anzahl der politisierten gewerkschaftlich Aktiven erhöhen.
Auf diesem Weg gibt es jedoch so viele Wenn und Aber und sein Verlauf hängt von so vielen anderen Ereignissen ab, dass er eher unwahrscheinlich erscheint. Die wenigen Anzeichen eines politischen Wiedererwachens der Sozialdemokratie in den Gewerkschaften, wie bspw. das LRC, müssen noch durch ein effektives intellektuelles Projekt und ein soziales Gewicht verstärkt werden. Keiner der neuen Generalsekretäre hat eine politische Vision um eine alternative ökonomische Strategie entwickelt, um seine progressiven Positionen in verschiedenen Fragen zu stützen. Die Positionen der TGWU und die Beiträge von Tony Woodley in Guardian, Morning Star und Tribune sind keine glaubwürdige linke Vision. Diese Aufgabe obliegt Bob Crowe, Mark Serwotka und Matt Wrack als Linke außerhalb der Labour Party.
Eine potenzielle Quelle sind die Aktiven der Antiglobalisierungsbewegung, die hoch motiviert und erfahren in neuen Formen kollektiven Handelns sind. Eine sich damit zum Teil überschneidende weitere Quelle sind die progressiven Bestrebungen, die in Stadtteilkomitees, Mieterorganisationen usw. zum Ausdruck kommen.
Können solche Aktivisten für die Gewerkschaftsbewegung rekrutiert werden? Nicht ohne große Schwierigkeit, lautet die einfache Antwort. Erstens ist es unwahrscheinlich, dass sie für die Gewerkschaften bei deren gegenwärtigem Zustand rekrutiert werden können. Das Problem ist dabei nicht nur, dass die Gewerkschaften "zu weiß, zu männlich und verbraucht" sind, sondern dass es einen Mangel an Autonomie der örtlichen Gewerkschaftsstrukturen gibt, in denen diese neuen Aktivisten agieren würden, und eine Orientierung der Gewerkschaften auf breitere, kommunale Belange fehlt. Die Gewerkschaften müssten diesen Aktivisten deshalb auf halbem Wege entgegenkommen.
Bislang haben sich die Gewerkschaften nur sehr begrenzt auf die neuen sozialen Bewegungen eingelassen. Im Allgemeinen sind Ziele und Schwerpunkte von Gewerkschaften und neuen Bewegungen verschieden. Letztere verfechten sowohl ehrgeizigere als auch bescheidenere Ziele als die Gewerkschaften. Aber es gibt eine gewisse Überlappung, wenn die Gewerkschaftsbewegung es schafft, sich wieder als soziale Befreiungsbewegung neu zu formieren. Die kollektiven Interessen der Mitglieder als Produzenten, Konsumenten und Bürger würden somit breiter bestimmt und ihnen mit Gleichheit, Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und Freiheit ein umfassendes Wertesystem unterlegt.
Gregor Gall

Der Autor ist Dozent an der University of Hertfordshire und Mitglied der Scottish Socialist Party in Edinburgh. (Übersetzung: Hans-Günter Mull.)



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