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Befragt nach den "wahren" Ursprüngen des Fußballs
beginnen heute so manchem Fan die Augen zu leuchten. Ja früher, da war der Fußball noch ein Spiel
der Straße, wild und ungezähmt. Und natürlich "ein Spiel des kleinen Mannes".
Diese romantisch verklärte Sicht auf
den Fußball lässt sich mit einem etwas genaueren Blick in seine Geschichte leicht widerlegen. So
wurde Fußball, wie wir ihn heute kennen, erstmals an den elitären britischen "Public
Schools", gegen Mitte des 19.Jahrhunderts gespielt. Dort formte das mit der Industrialisierung
aufstrebende Bürgertum seinen Nachwuchs ganz im Geist der neuen Zeit. Die populäre Idee des
Sozialdarwinismus entsprach der sich verschärfenden Konkurrenz im Kapitalismus und fand sich in der
Idee des reglementierten Wettbewerbs im Fußball wieder. Beim Fußballspielen sollten die Jungen
auf das "echte" Leben vorbereitet werden. Und da waren Härte, gestählte, kontrollierte
Körper und potente Männlichkeit gefragt. All das versprach der Fußball. Im Spiel ließ
sich lernen, Niederlagen einzustecken, Hierarchien zu akzeptieren oder Führungsqualitäten zu
entwickeln. "Fair Play" lautete die entsprechende Losung. Ein Gentleman spielt emotionslos,
hält sich strikt an die Regeln und lässt sich nicht fürs Spielen bezahlen.
Die neu entstandene gesellschaftliche Elite
nutzte den Fußball auf diese Weise zur Abgrenzung gegen untere soziale Schichten, denen die
angestrebte rationale Kontrolle von Körper und Gefühlen als Fähigkeit gänzlich
abgesprochen wurde genau wie Frauen, Juden, Homosexuellen oder der Bevölkerung in den Kolonien.
Der Fußball wurde zum Vehikel für die Konstruktion einer bürgerlichen weißen
heterosexuellen Männlichkeit und zur Legitimation ihrer Vorherrschaft. Diese manifestierte sich in
Ausschlusspraxen wie der "Gentleman-Klausel" von 1866, die Mechanikern, Handwerkern und
Industriearbeitern die Teilnahme an Wettkämpfen untersagte. Und auch die Gegenwehr gegen die Bezahlung
von Spielern diente der Ausgrenzung derjenigen, die sich einen Verdienstausfall aufgrund eines Wettkampfs
nicht leisten konnten.
Als mit den neu erkämpften
kürzeren Arbeitszeiten und der geregelten Fabrikarbeit ein klar abgrenzbarer Freizeitbereich entstand,
ließ sich eine Entwicklung des Fußballs zum Massensport nicht länger aufhalten. Während
das männliche Industrieproletariat in den rasant entstehenden Großstädten im Fußball
einen billigen Sport der Straßen und Hinterhöfe fand, den Wetten und lokale Wettkämpfe
attraktiv machten, entdeckten Kirchen und große Unternehmen im neuen Massensport
Disziplinierungspotenzial. Sie förderten die Gründung von Fußballvereinen, die für die
Arbeiter einerseits sinn- und identitätsstiftend wirkten, andererseits ihr Freizeitverhalten in
geordnete Bahnen lenken sollten und die Identifizierung mit dem Unternehmen über den eigenen Verein
voran trieben.
Der Fußball trat gegen Ende des
19.Jahrhunderts seinen Siegeszug auch in Kontinentaleuropa an, in Deutschland ebenfalls zunächst
über die Höheren Schulen. Die dortigen Lehrkräfte hofften, so den Saufgelagen in den
Schülerverbindungen Einhalt gebieten zu können. Auch hier stand die Erziehung zur Selbstdisziplin
im Vordergrund. Mit der Initiierung einer massenhaften Spielbewegung hoffte man außerdem, den
sozialdemokratischen Arbeitersportvereinen das Wasser abgraben zu können. Die starke nationalistische
Turnerbewegung behinderte zunächst die schnelle Durchsetzung des Fußballs als Volkssport. Die an
der militärischen Erziehung der Jugend orientierten Turnvereine geißelten das Bolzen gar als
"englische Krankheit".
Mit der Gründung des Deutschen
Fußballbunds (DFB) 1900 und der ersten deutschen Fußballmeisterschaft 1902/03 war der Durchbruch
schließlich gelungen. Als sich im DFB spätestens mit dem Beitritt zum paramilitärischen
Jugenddeutschlandbund 1911 der nationalistische Flügel durchsetzte, wurde aus dem Fußball
hierzulande "deutsche Arbeit". Für den sich abzeichnenden Weltkrieg wollte auch der DFB
kriegstaugliche junge Männer ausbilden. Belohnt wurde er mit einer breiten Anerkennung des
Fußballs. Selbst der preußische Kriegsminister lobte das Mannschaftsspiel als Erziehung "zur
selbstlosen Opferwilligkeit des Einzelnen und zur Zurückstellung persönlichen Ehrgeizes im
Interesse des gemeinschaftlichen Erfolgs".
Die Parallelen zum Militärischen sind
nicht nur sprachlicher Natur. 2005 nannte auch Michael Ballack "Leidenschaft, Siegeswille,
Aggressivität" "deutsche Tugenden", die er bei der WM "ins Spiel werfen"
wolle.
Diese Eigenschaften erweisen sich auch im
tagtäglichen kapitalistischen Konkurrenzkampf als nützlich. Das Spiel, die Vereine und der
mediale Rummel, der bei einem Wettkampf von 22 Männern Millionen Menschen mitreißt, sorgen
für gesellschaftliche Integration. Die Frage von Auf- oder Abstieg wird zum zentralen Thema. Und alles
bleibt, wie es ist.
Katja Grote
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