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Am 1.Mai 2006 unterzeichnete Boliviens Staatspräsident Evo Morales das
Dekret zur Verstaatlichung der Öl- und Gasvorkommen des Landes. Venezuela und Bolivien jeweils
das Land mit den größten Öl- und Erdgasvorkommen des südamerikanischen Kontinents
sind damit in der Lage, die regionalen Allianzen im Süden neu zu ordnen. Die bislang
dominierenden Regionalmächte werden damit zurückgedrängt.
Evo Morales hatte keine andere Wahl. Er hätte sonst seine Regierung geradewegs in eine ernste
politische Krise geführt wie vor ihm seine Vorgänger Gonzalo Sánchez de Lozada und
Carlos Mesa. Die Bevölkerung des ärmsten Landes Südamerikas hat verstanden, dass die
natürlichen Ressourcen das letzte strategische Mittel darstellen, ein nationales Projekt zu retten.
Nun bilden sich neuen regionale Allianzen
heraus, frühere regionale Integrationsprojekte kommen unter Druck: der Mercosur ist in der Krise, die
FTAA kommt aus der Sackgasse nicht heraus, die Andengemeinschaft zerbricht und die Südamerikanische
Staatengemeinschaft kommt nicht voran. Die neue Regionalordnung, die sich abzeichnet, sieht ziemlich anders
aus als frühere und stellt einen scharen Bruch mit dem Washington Konsens dar.
Das panamerikanische Freihandelsabkommen FTAA scheiterte auf dem Gipfeltreffen der 34 Staats- und
Regierungschefs in Mar del Plata im November 2005. Die vier Mitgliedstaaten des Mercosur und Venezuela
lehnten den Vorschlag von George W. Bush gemeinsam ab. Andere Desintegrationsprozesse wurden dadurch
beschleunigt. Mercosur leidet unter Spannungen zwischen den langjährigen Rivalen Argentinien und
Brasilien, die Integration des Neulings Venezuela, das in 2005 dazugekommen ist, gestaltet sich schwierig.
Brasilien hatte deshalb 2004 die Südamerikanische Staatengemeinschaft ins Leben gerufen.
Nach dem gescheiterten Gipfel von Mar de la
Plata verstärkten die USA den Druck auf Kolumbien und Peru, dem Andenpakt beizutreten die
Parlamente dieser Staaten müssen den Schritt aber noch ratifizieren. Als Evo Morales im Januar die
Präsidentschaft Boliviens übernahm, begann er einen Reformprozess, dem sich die
Regionalmächte Brasilien, Argentinien und Venezuela angeschlossen haben. Ecuadors Handelsabkommen mit
den USA wurde durch die Volkserhebung vom April 2005 ausgebremst. Der Aufstand erreichte sein wesentliches
Ziel, die Ablehnung des Freihandelsabkommens, während die politische Situation instabil bleibt und bis
zu den nächsten Präsidentschaftswahlen eine Übergangsregierung im Amt ist.
Im Dezember ist die Situation im Mercosur
kritisch geworden. Während Argentinien und Brasilien bestrebt sind, ihre tiefen wirtschaftlichen und
kommerziellen Ungleichgewichte im Verhältnis zueinander zu überwinden, belastet der Bau von zwei
großen Papierfabriken auf der Ostseite des Uruguay-Flusses die Beziehungen zwischen Nestor Kirchner
und dem Staatschef Uruguays, Tabaré Velázquez. Auf argentinischer Seite haben
Massenmobilisierungen die internationale Brücke blockiert und den Verkehr behindert, wodurch Uruguay
im Mercosur isoliert wurde.
Während sich die Beziehungen zwischen
Brasília und Buenos Aires sichtbar verbessern, wachsen die Spannungen mit den kleineren Ländern
Uruguay und Paraguay, die über eine Geringschätzung der kleineren Partner klagen. Hier hat Hugo
Chávez mit einem eigenen regionalen Großprojekt eingegriffen. Er hat den Bau einer riesigen
Gaspipeline von Venezuela durch Brasilien nach Argentinien vorgeschlagen. Sie wäre über 10000 km
lang und würde 23 Milliarden Dollar kosten. Das Projekt würde ein neues Bündnis zwischen
Argentinien, Brasilien und Venezuela besiegeln, deren Regierungen der neu aufgekommenen Lehre eines
eigenständigen Entwicklungswegs nahestehen.
Im April dieses Jahres beschloss
Chávez zudem, den Andenpakt zu verlassen, wegen der Handelsbeziehungen Perus und Kolumbiens zu den
USA. Chávez unterstützte aktiv den Wahlkampf des Kandidaten der nationalistischen Opposition in
Peru, Ollanta Humala.
In dieser Situation entschloss sich Chávez zu einem riskanten Manöver: Am 19.April nahm er an
einem Treffen mit den Staatschefs von Bolivien, Paraguay und Uruguay in Asunción teil und schlug auf
Bitten Uruguays einen alternativen Verlauf der Pipeline vor, der an Argentinien vorbeiführte. Die
Reaktion aus Argentinien und Brasilien folgte auf dem Fuße: die Staatschefs luden Chávez zu einem
Treffen am 26.April in São Paulo.
Wenige Tage zuvor hatten Venezuela,
Bolivien und Kuba ein Handelsabkommen der Völker unterzeichnet, das eine neue regionale Allianz
besiegelte. Auf dem Treffen in São Paulo wurde Chávez vorgeworfen, er mische sich in die
Angelegenheiten des Cono Sur ein, hetze Bolivien gegen die brasilianische Erdölgesellschaft Petrobras
auf und die kleinen Länder gegen die großen. Das Treffen endete mit einem bedeutenden Fortschritt
im Zeitplan für den Bau der Pipeline, und jeder ging zufrieden nach Hause. Nach der Verstaatlichung
der Gasvorkommen in Bolivien am 1.Mai lud Lula Kirchner, Chávez und Morales drei Tage später nach
Puerto Iguazu ein, um über Energiesicherheit in Südamerika zu reden.
Die größeren Länder des
Kontinents haben ernsthafte Energieprobleme. Bis vor kurzem war Argentinien noch Eigenversorger und
exportierte Öl und Gas. Durch die Privatisierung der staatlichen Energiegesellschaft in den
frühen 90er Jahren wurden jedoch nur noch wenige neue Öl- und Gasfelder erschlossen, sodass die
Reserven drastisch sanken. Als die Privatisierung auf diesem Sektor 1989 begann, wurden die Ölreserven
auf 14 Jahre, die Erdgasreserven auf 37 Jahre geschätzt. 2004 waren sie auf 9 bzw. 10 Jahre
zurückgegangen, dabei werden nach wie vor 25% bzw. 15% der jährlichen Förderung von
Erdöl bzw. Erdgas exportiert. Die Folge ist, dass Argentinien in naher Zukunft anfangen muss, fossile
Brennstoffe einzuführen es sinkt also auch in dieser Hinsicht zu einem abhängigen Staat
herab.
Brasilien ist in jüngster Zeit zu
einem Eigenversorger mit Erdöl geworden, aber es importiert die Hälfte seines Erdgases aus
Bolivien. Der größere Teil davon hält die Industrie in der Region São Paulo im Gang
hier werden 40% des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. Aber Eigenversorgung mit Öl ist allein noch
keine Sicherheit. Unter neoliberalen Regierungen wurde ein Großteil der staatlichen
Ölgesellschaft privatisiert, sodass Petrobras heute zu 60% privatem Kapital aus den USA gehört.
In Brasilien ist jetzt eine intensive Debatte darüber entbrannt, ob Submissionsverkäufe an
Erdölreserven an ausländische Konzerne, die sie exportieren, weiter zugelassen werden sollen,
oder ob diese Reserven für schwere Zeiten gesichert werden sollen, wie die USA und China das auch tun.
So hängen die großen Länder
des Kontinents in ihrer Energieversorgung von armen und mittleren Ländern wie Bolivien und Venezuela
ab. Das Verrückte an der Teilprivatisierung von Petrobras ist, dass die Gesellschaft in einen Wettlauf
um den Aufkauf der fossilen Vorkommen des Kontinents eingestiegen ist, mit besonderem Augenmerk auf
Bolivien (wo sie 20% des BIP kontrolliert), Argentinien (wo sie 15% des Brennstoffmarkts kontrolliert) und
Ecuador (wo sie heftige Probleme mit den Gemeinden der einheimischen Bevölkerung bekommt). Die
Aktivitäten von Petrobras bereiten Brasilien auf dem Kontinent Schwierigkeiten und wirken einer
regionalen Integration entgegen, da sie die Konkurrenz statt Kooperation unter den Ländern
fördern.
Die Reaktion Brasiliens und Argentiniens auf die Verstaatlichung des Erdgasvorkommens in Bolivien
beweist ihre Abhängigkeit. Kurzfristig wird der Preis für Erdgas steigen, das betrifft vor allem
Argentinien, das die neue Pipeline auch braucht, um seine Abhängigkeit von ausländischem Öl
zu verringern.
Brasilien ist in einer anderen Lage.
Petrobras wird die Kontrolle über Reserven in den Andenländern verlieren. Die mächtigen
Industriellen in São Paulo haben sich gesträubt, einen höheren Preis für bolivianisches
Erdgas zu bezahlen, und nun stehen die Aktionäre von Petrobras als die Verlierer da, wenn die
höheren Kosten aufgefangen werden müssen, wie Lula angekündigt hat.
Brasilien sieht den Aufstieg von Hugo
Chávez zu einer Führungsrolle auf dem Kontinent mit Unbehagen. Lula hat daraus keinen Hehl
gemacht und Außenminister Celso Amorim hat gedroht, Chávez Haltung könne das
Pipelineprojekt gefährden. Nach Aussagen von Analysten ist Chávez zur Schlüsselfigur in
Bolivien geworden, er hat Brasilien in die Position gebracht, dass es auf der internationalen Arena hinter
Evo Morales zurückstehen muss, während die veröffentlichte Meinung zu Hause darauf
drängt, gegen Bolivien eine härtere Gangart einzuschlagen.
Morales hingegen hat Petrobras scharf
angegriffen, als er behauptete, der Konzern operiere "illegal" und "erpresse" sein
Land. Petrobras will die Interessen seiner privaten Investoren schützen und droht, in New York damit
vor Gericht zu gehen und seine Investitionen in Bolivien einzustellen.
All dies ist geeignet, die
Interessenkonflikte zwischen Ländern, die einst zusammengearbeitet haben, um gegen die FTAA eine
gemeinsamen regionalen Markt zu schaffen, zu schüren. In dieser Hinsicht ist Petrobras das Auge des
Hurrikans. Es ist der zweitgrößte Konzern des Kontinents und macht enorme Gewinne: Im ersten
Quartal dieses Jahres waren es 3 Milliarden US-Dollar nach Steuern 33% mehr als 2005. Er führt
sich auf wie jeder andere multinationale Ölkonzern. Da der brasilianische Staat nur partiell Kontrolle
über seine Entscheidungen hat, sind größere Interessenkonflikte zwischen Petrobras (die
letzten Endes an der New Yorker Börse definiert werden) und dem brasilianischen Staat vorprogrammiert.
Raúl Zibechi
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