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Sie wolle sich ihre politischen Erfolge von "trotzkistischen Sekten" nicht kaputtmachen
lassen, verkündete bspw. Petra Pau auf dem jüngsten LPDS-Parteitag in Anspielung auf die
politischen Auseinandersetzungen um eine eigenständige WASG-Kandidatur in Berlin (vergleichbar auch
Gregor Gysi und andere). Der Begriff scheint sich von selbst zu verstehen jedenfalls hat ihn bisher
niemand erläutert oder gemeint ausführen zu müssen. Derart politisch unausgewiesen ist er
jedoch dehnbar genug und emotional ausreichend negativ besetzt, um ein Klima der Denunziation und
Ausgrenzung zu beschwören, das weder demokratisch noch sozialistisch sein kann. Man fühlt sich
bereits an jenes französische Sprichwort erinnert, dass, wer seinen Hund ersäufen will, ihn der
Tollwut bezichtigt. Es herrscht also Aufklärungs- und Versachlichungsbedarf.
Ist "der Trotzkismus" eine politische Sekte? Das hängt natürlich davon ab, was man
unter einer solchen Sekte versteht. Die Ankläger scheinen zu glauben, dass für ihr Verdikt die
Tatsache ausreiche, dass es sich bei "den Trotzkisten" um eine kleine radikale Minderheit
handelt. Doch mit der Gegenüberstellung von Mehrheit und Minderheit ist hier nichts gewonnen.
Die vorherrschenden Versuche, die
Phänomene "Sekte" und "Sektierertum" historisch, soziologisch und politisch zu
definieren, sind ausgesprochen unterentwickelt und ambivalent. Die lexikalische Annäherung spricht von
religiösen und politischen Gruppen, die sich in Opposition zu einer größeren Gruppe (Kirche
oder Partei) abgespalten haben, sich binnenstrukturell abschotten, an einer "reinen Lehre"
festhalten und sich durch eine hohe Emotionalität und ein radikales Ethos (aktivistisch-
weltverbesserisch oder passiv-leidend) auszeichnen. Doch zum einen werden damit vor allem
Sekundärphänomene bezeichnet und verschiedene Ebenen vermischt. Zum anderen sollte viel
stärker zwischen den religiösen und den politischen "Sekten" unterschieden werden, denn
letztere zielen per se auf gesellschaftspolitische Aktivität und Einflussnahme und können sich
deswegen viel weniger abschotten als jene religiösen Gruppen, die dem historisch-praktischen
Phänomen seine klassische Gestalt gegeben haben.
Was bspw. den Trotzkismus angeht, so hat er
als historisch-politische Strömung programmatisch und von seinem ganzen Selbstverständnis her
wenig mit Sektentum zu tun. Er ist nämlich nicht auf organisatorische Abschottung, sondern auf
Vereinigung, nicht auf politisch-ideologische Verweigerung, sondern auf praktisch-politische
Veränderung aus. Nimmt man die linken Neuformierungsversuche der letzten Jahrzehnte, die
befreiungsnationalistischen Kämpfe der 50er, 60er und 70er Jahre, den Aufstieg der Neuen Linken oder
die Rekonstruktion klassenkämpferischer Flügel innerhalb der europäischen wie
außereuropäischen Arbeiter- und Jugendbewegungen seit Ende der 60er Jahre, so waren
trotzkistische Strömungen durchweg Promotoren des Neuen, Vertreter einer neuen linken Einheit
und wurden deswegen von anderen linksradikalen Strömungen nicht selten des "opportunistischen
Versöhnlertums" bezichtigt.
Auch ganz aktuell kann von "dem
Trotzkismus" kaum die Rede sein, wenn die vier in Deutschland bedeutendsten trotzkistischen
Organisationen gänzlich verschiedene politische Strategien verfolgen und unterschiedliche
Organisationsvorstellungen pflegen. So arbeiten Linksruck, SAV und ISL innerhalb der WASG, der RSB (und
andere) außerhalb. Die einen (Linksruck) sehen in der vereinigten neuen Linkspartei die von allen
"Trotzkisten" ersehnte neue "Arbeiterpartei" und arbeiten loyal und an führender
Stelle in ihr. Die anderen (SAV) arbeiten innerhalb der WASG in strikter Opposition gegen große Teile
der LPDS-Politik und auch Teile der WASG-Führung, um eine "wirkliche Arbeiterpartei" erst
noch aufzubauen. Der RSB meint, die neue Arbeiterpartei jenseits und gegen LPDS und WASG aufbauen zu
müssen. Und die ISL arbeitet überwiegend innerhalb der WASG, hat aber eine breitere und weniger
klassische Organisationsvorstellung und vereinigt in sich die unterschiedlichsten Zugänge zu LPDS,
WASG und Berlin-Frage.
Gerade was die letztere angeht, ist es
angesichts dieser Tatsachen unbegründet und verschleiernd es sei denn man möchte mit
Verschwörungstheorien arbeiten , undifferenziert von "Trotzkismus" oder
"trotzkistischen Sekten" zu reden. Einzig Ressentiments werden damit bedient, Ressentiments, die
in der deutschen Linken anders als in anderen (west-)europäischen Ländern noch
immer Herrschafts- und Repressionstraditionen fortsetzen. Nein, "der Trotzkismus" ist keine
politische Sekte, nicht mehr oder weniger (eher weniger) als viele andere auch. Und von "dem
Trotzkismus" zu sprechen wird zudem immer haltloser.
Ist der Begriff der Sekte also völlig
fehl am Platze, so ist nicht von der Hand zu weisen, dass nicht wenigen Trotzkisten sektiererische
Züge eigen sind. Doch dieses Schicksal teilen sie mit vielen anderen Links- oder
Rechts"abweichlern", die sich allerdings zumeist nicht freiwillig zu solchen entwickelt haben,
sondern dazu gemacht wurden von einer sich bürokratisierenden Arbeiterbewegung, die sich in der
Mitte des vergangenen Jahrhunderts, so oder so, von ihren emanzipativen Zielen abgewandt hatte. Dort wo
Trotzkisten sektiererische Züge aufweisen, haben wir es dann auch zumeist mit den politisch-
psychologischen Folgen einer jahrzehntelangen Ausgrenzung durch andere zu tun. Wohl keine andere
Strömung der Linken kann auf eine solche Geschichte von erlittener Ausgrenzung und Denunziation, von
Infiltration und gewaltsamer Zerschlagung nicht nur durch den bürgerlichen Staat, sondern mehr noch
durch die politischen Apparate herrschender Arbeiterbewegungen zurückblicken.
Verlassen wir also die Trotzkisten und fragen allgemeiner nach dem Wesen des Sektierertums.
Das moderne Sektierertum ist politisch-
theoretisch nicht als eindeutig zu identifizierender, politisch feststehender Typus zu fassen. Es steht
nicht für eine sich in festen Strömungen oder einzelnen Personengruppen verkörpernde
Programmatik. Sektierertum ist weniger eine aparte Person, als vielmehr eine bestimmte Haltung zur
Gesellschaft oder zum Gruppenkollektiv, eine Frage der politischen Psychologie also. Sektiererisch ist, wer
sich in kleinen Gruppen oder Zirkeln abschottet, sozialreformerische oder sozialrevolutionäre
Prinzipien und Strategien rein erhalten und verfolgen möchte, seine Zielideen dabei gegen
Bündnisfähigkeit oder Kompromissbereitschaft ausspielt, und gelegentlich soweit geht,
Realitäten und historische Wahrheiten nicht mehr wahrnehmen zu können, da dies seine
Verhaltenssicherheit im politischen wie individuellen Alltag bedroht.
Doch auch dies ist noch immer reichlich
abstrakt. Konkret lassen sich die einzelnen Formen des Sektierertums nur in ihrem gesellschaftlichen
Kontext verstehen. Denn als gesellschaftspolitische Haltung definiert sich dasselbe überwiegend
negativ, in Abgrenzung gegen andere, und verweist so auf sein antagonistisches Gegenüber, den
gleichfalls schillernden Opportunismus, und jene Gesellschaftsform, aus der beide ihre dialektische Dynamik
beziehen.
Sozialisten vertreten zwar Werte, die mit
der bürgerlichen Gesellschaft das Licht der Welt erblickten (Freiheit, Gleichheit, Solidarität),
wenden diese Werte aber gegen die bürgerliche Realität einer kapitalistischen Konkurrenz- und
Klassengesellschaft. Sie folgen in ihrem Kampf um allgemeinmenschliche Emanzipation einer anderen Logik als
der in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft vorherrschenden und beförderten, wenn sie die
Gebrauchswertlogik gegen die Tauschwert- und Profitlogik setzen.
Zum Konflikt zwischen den sozialistischen
Strömungen kommt es bei der Frage nach den notwendigen und möglichen Mitteln und Wegen zur
Veränderung bestehender Gesellschaftsformationen, bei der Diskussion um die Dialektik von Zielen und
Mitteln. Was können Sozialisten von ihren Werten in der jeweils gegebenen gesellschaftlichen Situation
praktisch verwirklichen, wo liegen die vom herrschenden System gesetzten Schranken dieser Praxis? Wieweit
darf ein Kompromiss mit den dieses System tragenden Institutionen und Verhaltensweisen gehen, ohne dass die
grundlegenden Werte dabei aufgegeben werden? Und wie weit muss man solche Kompromisse eingehen, um sich der
Verwirklichung dieser Werte nähern zu können?
Im Kampf um eine grundlegende
Gesellschaftsveränderung kann sich sozialistisches Handeln auf die Ein- oder Unterordnung in die
bestehenden gesellschaftlichen und ideologischen Verhältnisse nicht beschränken. Und doch ist es
andererseits, wie Peter Cardorff in seinen 1980 veröffentlichten Studien über Irrationalismus und
Rationalismus in der sozialistischen Bewegung aufgezeigt hat, auf den lebendigen Kontakt mit diesen
Verhältnissen angewiesen, "da es weiß, dass es seine Ziele ohne Teilnahme an den
gesellschaftlichen Erfahrungen nicht nur nicht erreichen, sondern noch nicht einmal präzise
formulieren kann". In der verstehenden Teilnahme an der (als solcher abgelehnten) Gesellschaft
arbeitet der Sozialist deswegen an der gleichzeitig praktischen wie theoretischen Herausbildung eigener
Werte und jener innergesellschaftlichen Tendenzen und Elemente, die über die bestehende Gesellschaft
und ihre Logik hinausweisen.
In dieser zwangsläufigen
"Dialektik von Teilnahme und Widerstand" (Cardorff) definiert sich der linke Opportunismus
dadurch, dass er sich dem Bewusstseinsstand, den Verhaltensweisen und Bedürfnisstrukturen der von ihm
anvisierten Klientel weitgehend anpasst und dem ideologischen und institutionellen Status quo unterordnet.
Das Sektierertum dreht dagegen den Spieß einfach um und zieht sich aus der von ihm verabscheuten
Gesellschaft ins Ghetto der Gegengesellschaft oder auf den Standpunkt einer reinen, kritischen Kritik
zurück. Erkennt das Sektierertum nur noch die emanzipative Zielidee an und spielt diese gegen die real
existierende Gesellschaft und die von ihr bestimmten Mittel möglicher Veränderung aus, setzt der
Opportunismus gerade diese Mittel absolut und schleift auf diesem Weg seine ursprünglichen Ziele
Stück für Stück ins ethisch Unverbindliche ab "Der Weg ist das Ziel", so
das berühmte Credo dieser politischen Strategie.
Sektierertum und Opportunismus sind
gleichermaßen falsche wie zwangsläufige Antworten auf Fragen, die sich einem emanzipativen
sozialistischen Handeln täglich aufs Neue stellen, denn die Dialektik von Teilnahme und Widerstand
verändert sich in permanenter Abhängigkeit vom (historisch gewachsenen) Stand der
gesellschaftlichen Verhältnisse und Kämpfe. So sehr man beide Verhaltensweisen (bei anderen wie
bei sich selbst) auch politisch-ideologisch thematisieren muss, so falsch und unproduktiv wäre es
deswegen, sie einfach administrativ ausgrenzen zu wollen.
Auch wenn jedoch Sektierertum und
Opportunismus gleichermaßen falsch wie zwangsläufig sind, so sind sie doch, von einem
sozialistischen Standpunkt aus, nicht gleichermaßen falsch. Denn der Opportunismus trägt auf
seinem Wege seine ursprünglich emanzipativen Ziele Stück für Stück ab, indem er sich
den Sachzwängen kapitalistischer Rationalität zuerst unter- und dann einordnet, um schlussendlich
integraler Teil der einstmals abgelehnten Gesellschaft zu werden. Am Ende seines Weges und dies
lehrt die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie seit den 1950er Jahren wie die der Grünen seit
Ende der 80er Jahre ist er nicht einmal mehr fähig, auch nur Reformen derselben
durchzuführen das haben die sieben verlorenen Jahre von Rot-Grün einmal mehr deutlich
gezeigt. Das Sektierertum dagegen, so ätzend und kontraproduktiv es in der Regel auch ist, bewahrt
sich in gewissen Epochen und Konjunkturen immerhin die emanzipative Zielidee, die Idee eines Anderen,
Besseren.
Wer also vom Sektierertum spricht, darf vom Opportunismus nicht schweigen. Und wer nach den
Möglichkeiten einer Aufhebung ihrer fatalen Dialektik fragt, ist verwiesen auf die gleichermaßen
historische wie politisch-soziologische Analyse jener Gesellschaft, in welcher diese Dialektik wirkt.
Bereits in den klassischen religiösen
Sektenbewegungen des Mittelalters, dies hat bspw. Leo Kofler in seiner Geschichte der bürgerlichen
Gesellschaft sehr schön aufgezeigt, lässt sich diese Dialektik beobachten. In ihrem Innersten
waren sie Strömungen einer auf die Utopie der Klassenlosigkeit setzenden Sozialkritik, deren
revolutionäres Wollen und deren Zielideen an den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen, an der
mangelnden gesellschaftlichen "Reife" zur praktischen Sozialutopie, scheitern mussten. Und doch
waren diese religiösen Sektenbewegungen gleichsam die Hefe in einem historisch-gesellschaftlichen
Teig, den aufstrebende bürgerlich-reformatorische Bewegungen auf ihrem Weg zur bürgerlichen
Revolution gebildet haben.
Mehr noch lässt sich mit dem
historischen Blick sagen, dass sich die geschichtliche Entfaltung sozialreformatorischer oder
sozialrevolutionärer Bewegungen bis zum Durchbruch der modernen Massengesellschaft vorwiegend in
Formen vollzog, die strukturell sektiererische Züge aufweist. Bis zur zweiten Hälfte des
19.Jahrhunderts organisierten sich die Reformer und Revolutionäre vor allem in kleinen Gruppen und
Zirkeln, in Geheimbünden und Kleinstorganisationen, die in ihrer Binnenstruktur und politischen
Psychologie deutliche Parallelen aufweisen zu den religiösen Sekten des Mittelalters. Erst mit dem an
der Schwelle zum 20.Jahrhundert erfolgten Durchbruch zur modernen demokratischen Massengesellschaft,
spezieller: mit dem Durchbruch zur modernen industriellen Arbeitermassenbewegung, verlor das Kleingruppen-
und Zirkelwesen einen Großteil seiner praktisch-politischen Relevanz, als Sozialreformer und
Sozialrevolutionäre weitgehend bedenkenlos im großen Strom der auf emanzipative Veränderung
orientierten Massenbewegung aufgehen konnten.
Kein halbes Jahrhundert später war
dieses "Goldene Zeitalter" einer gleichsam sozialistischen Klassik jedoch wieder vorüber.
Mit der in der Verstaatlichung der Arbeiterbewegung kulminierenden Bürokratisierung der
Arbeiterorganisationen der Integration der sozialdemokratischen in den bürgerlichen Staat und
der Staatswerdung der kommunistischen kam es erneut zu geschichtsmächtigen
"Abspaltungen" von "sektiererischen" Kleingruppen und Individuen, die am Rande oder
außerhalb dieser Massenorganisationen auf die Bewahrung und/oder Erneuerung einer
sozialrevolutionären Perspektive orientierten. Die einstmals revolutionäre Bewegung hatte ihre
Kinder entlassen, und das nicht selten mit repressiven Methoden.
Doch was passiert eigentlich mit jenem
renitenten Unbehagen, das eine bürgerlich-kapitalistische Klassengesellschaft so zwangsläufig wie
alltäglich produziert, wenn jene Bewegungen, die wie Sozialdemokratie und Kommunismus historisch
angetreten waren, den Weg zum Sozialismus zu öffnen, dieser selbstgesteckten Aufgabe nicht mehr
nachkommen? Was passiert, wenn die Zeit der sozialistischen Klassik vorbei ist, sich die sozialistischen
und gewerkschaftlichen Bürokratien als stalinistisch oder reformistisch blockiert erweisen und jene,
die an den alten Lehren festhalten und sie umsetzen wollen, als ewig-gestrige "Sektierer",
"Spinner" und "Spalter" titulieren?
Das waren die Fragen, vor denen nicht
wenige Linke seit den 30er Jahren des 20.Jahrhunderts standen, und die seit den 50er Jahren zum
historischen Aufstieg des ausgesprochen heterogenen Phänomens der Neuen Linken geführt haben. In
Zeiten der abwesenden Revolution im Westen und der unvollkommenen im Osten schlägt, so bspw. Henri
Lefebvre Ende der 50er Jahre, die Stunde des Protests der geprellten oder unterdrückten
Subjektivität gegen alles, was das Individuum entfremdet: "Zwischen dem Ultra-Revisionismus
derer, die das Verlöschen des marxistischen Projekts im modernen Denken behaupten, und dem Ultra-
Dogmatismus jener, die an den Resultaten der Stalinschen Periode festhalten und so tun, als handele es sich
dabei um eine bedauerliche Verzerrung, einen belanglosen Zwischenfall, können wir einen
dritten Weg bestimmen: den der dialektischen Kritik, den der Ironie."
Henri Lefebvres "neuer
Utopismus", Herbert Marcuses "neue Sensibilität" und Randgruppenstrategie, Peter
Brückners "privilegiertes Bewusstsein" oder Leo Koflers "progressive Elite", all
diese und manche andere Versuche, das historisch Neue zu denken, waren Reaktionen darauf, dass abermals die
Stunde der Individuen, Kleingruppen und radikalen Minderheiten geschlagen hatte. Und obwohl sich in diesen
neuen Bewegungen Sektierertum und Opportunismus en masse fanden und die die zur Umwandlung der Gesellschaft
historisch berufene Arbeiterbewegung nicht ersetzen konnten und können, so galten sie bspw. einem Leo
Kofler als "ein unentbehrlicher Gärstoff, der die Gesellschaft vor der Todesstarre bewahrt".
Mehr noch: Die Tatsache, dass selbst neue
bürgerliche Bewegungen wie der (ebenfalls in den 40er/50er Jahren entstandene) Neoliberalismus lange
Zeit in der Form von zivilgesellschaftlichen "Sekten" agieren mussten, bevor sie ihren
intellektuellen und politisch-organisatorischen Siegszug antreten konnten, verweist darauf, dass die
Dialektik von Opportunismus und Sektierertum nicht nur eine linke, sondern eine die gesamte
spätbürgerliche Gesellschaft prägende ist. Die vermeintlich offene und tolerante
bürgerliche Gesellschaft der zweiten Jahrhunderthälfte erweist sich eben darin sind sich
die meisten Gesellschaftstheoretiker seit vielen Jahrzehnten einig bei genauerer Betrachtung als
strukturell intolerant, als technokratisch-korporatistisch und patriarchal-autoritär abgedichtet
Peter Brückner sprach gar von "der Mehrheit als Sekte" (siehe Kasten).
Die heutzutage vorwiegende Form
sektiererischer Verweigerung und Renitenz findet sich unter anderem deswegen gerade nicht im direkt
politischen Bereich, sondern jenseits der politischen Praxis. Zeitgenössisches Sektierertum ist in
seiner quantitativen Mehrheit geradezu antipolitisch, eher eine Form moderner Kulturkritik, die
"Legitimation eines nur noch durch seinen besonderen ideologischen Zuckerguss von anderen Spielarten
des Pessimismus unterschiedenen allgemeinen Negativismus. Die Kritik hat in ihm dann nicht mehr die
Funktion, Mittel der Änderung zu sein; stattdessen gewährleistet sie ihren Trägern das
Überleben im Verharren, indem sie ein Gefühl der Distanz und Überlegenheit gegenüber
dem Schmutz der Welt herstellt." (Cardorff.)
Und die berühmte Moral von der Geschicht? Die vorherrschende Rede von den "Sekten"
und vom "Sektierertum" ist undifferenziert, irreführend und Ausdruck nicht von politischer
Aufklärung, Diskussion und Aktion, sondern von innerlinkem Ressentiment. Einem Ressentiment, dessen
Melodie jene Opportunisten mit Geschick intonieren, die von realen politischen Problemen und ihrer Rolle in
diesen ablenken wollen. Sektierertum wurde immer dann zum politisch-praktischen Problem, wenn Bewegungen
des Aufbruchs und der Revolte im Zerfall begriffen waren. Politisch und kulturell aufsteigende Bewegungen
brauchten dagegen keine administrative Ausgrenzung, um Sektierertum zu entschärfen. Und profitiert
haben von dieser Ausgrenzung immer nur jene, die Bewegungen in Zeiten der Flaute zu verwalten trachteten.
Nun lässt sich abschließend
fragen, ob nicht gerade die Formierung zu einer neuen Linkspartei diese historisch entstandenen und
gewachsenen "Sekten" obsolet mache. Das wäre in der Tat eine der vielen Hoffnungen, die sich
auf das neue Parteiprojekt richten. Ihre sektiererischen Züge können diese Gruppen und Individuen
jedoch nur in dem Maße abstreifen, wie sie als Gleiche und Freie im Neuformierungsprozess willkommen
geheißen werden und aufgehen können. Wer dies (mit entsprechender Schuldzuweisung) zur Aufgabe
der kleinen radikalen Minderheiten und nicht der größeren Bewegungen und Organisationen macht,
verwechselt Ursache und Wirkung.
Der Weg zu einer neuen gesamtdeutschen
sozialistischen Linken wird alles andere als geradlinig und hürdenlos ablaufen. Wir sollten es
deswegen mit Ernest Mandel halten, der immer wieder betonte, dass man zu Sektierern nicht sektiererisch
sein dürfe: "Dont be sectarian to the sectarians"! Den Namen einer Neuen Linken
verdient nur, wer dies zu beherzigen weiß.
Christoph Jünke
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