SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2006, Seite 24

Essay - Lob und Tadel des Sektierertums

Annäherungen an ein Gespenst

Die Lage an der Neuformierungsfront der deutschen Linken scheint blockiert. In der verfahrenen und politisch-emotional aufgeladenen Situation haben führende Vertreter von WASG und LPDS ein neues Hindernis ausgemacht, das nicht zuletzt administrativ zu bekämpfen ist: "das Sektierertum", die "politische Sekte", ja — schlimmer noch — die "trotzkistischen Sekten".

Sie wolle sich ihre politischen Erfolge von "trotzkistischen Sekten" nicht kaputtmachen lassen, verkündete bspw. Petra Pau auf dem jüngsten LPDS-Parteitag in Anspielung auf die politischen Auseinandersetzungen um eine eigenständige WASG-Kandidatur in Berlin (vergleichbar auch Gregor Gysi und andere). Der Begriff scheint sich von selbst zu verstehen — jedenfalls hat ihn bisher niemand erläutert oder gemeint ausführen zu müssen. Derart politisch unausgewiesen ist er jedoch dehnbar genug und emotional ausreichend negativ besetzt, um ein Klima der Denunziation und Ausgrenzung zu beschwören, das weder demokratisch noch sozialistisch sein kann. Man fühlt sich bereits an jenes französische Sprichwort erinnert, dass, wer seinen Hund ersäufen will, ihn der Tollwut bezichtigt. Es herrscht also Aufklärungs- und Versachlichungsbedarf.

Ist der Trotzkismus eine Sekte?

Ist "der Trotzkismus" eine politische Sekte? Das hängt natürlich davon ab, was man unter einer solchen Sekte versteht. Die Ankläger scheinen zu glauben, dass für ihr Verdikt die Tatsache ausreiche, dass es sich bei "den Trotzkisten" um eine kleine radikale Minderheit handelt. Doch mit der Gegenüberstellung von Mehrheit und Minderheit ist hier nichts gewonnen.
Die vorherrschenden Versuche, die Phänomene "Sekte" und "Sektierertum" historisch, soziologisch und politisch zu definieren, sind ausgesprochen unterentwickelt und ambivalent. Die lexikalische Annäherung spricht von religiösen und politischen Gruppen, die sich in Opposition zu einer größeren Gruppe (Kirche oder Partei) abgespalten haben, sich binnenstrukturell abschotten, an einer "reinen Lehre" festhalten und sich durch eine hohe Emotionalität und ein radikales Ethos (aktivistisch- weltverbesserisch oder passiv-leidend) auszeichnen. Doch zum einen werden damit vor allem Sekundärphänomene bezeichnet und verschiedene Ebenen vermischt. Zum anderen sollte viel stärker zwischen den religiösen und den politischen "Sekten" unterschieden werden, denn letztere zielen per se auf gesellschaftspolitische Aktivität und Einflussnahme und können sich deswegen viel weniger abschotten als jene religiösen Gruppen, die dem historisch-praktischen Phänomen seine klassische Gestalt gegeben haben.
Was bspw. den Trotzkismus angeht, so hat er als historisch-politische Strömung programmatisch und von seinem ganzen Selbstverständnis her wenig mit Sektentum zu tun. Er ist nämlich nicht auf organisatorische Abschottung, sondern auf Vereinigung, nicht auf politisch-ideologische Verweigerung, sondern auf praktisch-politische Veränderung aus. Nimmt man die linken Neuformierungsversuche der letzten Jahrzehnte, die befreiungsnationalistischen Kämpfe der 50er, 60er und 70er Jahre, den Aufstieg der Neuen Linken oder die Rekonstruktion klassenkämpferischer Flügel innerhalb der europäischen wie außereuropäischen Arbeiter- und Jugendbewegungen seit Ende der 60er Jahre, so waren trotzkistische Strömungen durchweg Promotoren des Neuen, Vertreter einer neuen linken Einheit — und wurden deswegen von anderen linksradikalen Strömungen nicht selten des "opportunistischen Versöhnlertums" bezichtigt.
Auch ganz aktuell kann von "dem Trotzkismus" kaum die Rede sein, wenn die vier in Deutschland bedeutendsten trotzkistischen Organisationen gänzlich verschiedene politische Strategien verfolgen und unterschiedliche Organisationsvorstellungen pflegen. So arbeiten Linksruck, SAV und ISL innerhalb der WASG, der RSB (und andere) außerhalb. Die einen (Linksruck) sehen in der vereinigten neuen Linkspartei die von allen "Trotzkisten" ersehnte neue "Arbeiterpartei" und arbeiten loyal und an führender Stelle in ihr. Die anderen (SAV) arbeiten innerhalb der WASG in strikter Opposition gegen große Teile der LPDS-Politik und auch Teile der WASG-Führung, um eine "wirkliche Arbeiterpartei" erst noch aufzubauen. Der RSB meint, die neue Arbeiterpartei jenseits und gegen LPDS und WASG aufbauen zu müssen. Und die ISL arbeitet überwiegend innerhalb der WASG, hat aber eine breitere und weniger klassische Organisationsvorstellung und vereinigt in sich die unterschiedlichsten Zugänge zu LPDS, WASG und Berlin-Frage.
Gerade was die letztere angeht, ist es angesichts dieser Tatsachen unbegründet und verschleiernd — es sei denn man möchte mit Verschwörungstheorien arbeiten —, undifferenziert von "Trotzkismus" oder "trotzkistischen Sekten" zu reden. Einzig Ressentiments werden damit bedient, Ressentiments, die in der deutschen Linken — anders als in anderen (west-)europäischen Ländern — noch immer Herrschafts- und Repressionstraditionen fortsetzen. Nein, "der Trotzkismus" ist keine politische Sekte, nicht mehr oder weniger (eher weniger) als viele andere auch. Und von "dem Trotzkismus" zu sprechen wird zudem immer haltloser.
Ist der Begriff der Sekte also völlig fehl am Platze, so ist nicht von der Hand zu weisen, dass nicht wenigen Trotzkisten sektiererische Züge eigen sind. Doch dieses Schicksal teilen sie mit vielen anderen Links- oder Rechts"abweichlern", die sich allerdings zumeist nicht freiwillig zu solchen entwickelt haben, sondern dazu gemacht wurden — von einer sich bürokratisierenden Arbeiterbewegung, die sich in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, so oder so, von ihren emanzipativen Zielen abgewandt hatte. Dort wo Trotzkisten sektiererische Züge aufweisen, haben wir es dann auch zumeist mit den politisch- psychologischen Folgen einer jahrzehntelangen Ausgrenzung durch andere zu tun. Wohl keine andere Strömung der Linken kann auf eine solche Geschichte von erlittener Ausgrenzung und Denunziation, von Infiltration und gewaltsamer Zerschlagung nicht nur durch den bürgerlichen Staat, sondern mehr noch durch die politischen Apparate herrschender Arbeiterbewegungen zurückblicken.

Die Dialektik von Teilnahme und Widerstand

Verlassen wir also die Trotzkisten und fragen allgemeiner nach dem Wesen des Sektierertums.
Das moderne Sektierertum ist politisch- theoretisch nicht als eindeutig zu identifizierender, politisch feststehender Typus zu fassen. Es steht nicht für eine sich in festen Strömungen oder einzelnen Personengruppen verkörpernde Programmatik. Sektierertum ist weniger eine aparte Person, als vielmehr eine bestimmte Haltung zur Gesellschaft oder zum Gruppenkollektiv, eine Frage der politischen Psychologie also. Sektiererisch ist, wer sich in kleinen Gruppen oder Zirkeln abschottet, sozialreformerische oder sozialrevolutionäre Prinzipien und Strategien rein erhalten und verfolgen möchte, seine Zielideen dabei gegen Bündnisfähigkeit oder Kompromissbereitschaft ausspielt, und gelegentlich soweit geht, Realitäten und historische Wahrheiten nicht mehr wahrnehmen zu können, da dies seine Verhaltenssicherheit im politischen wie individuellen Alltag bedroht.
Doch auch dies ist noch immer reichlich abstrakt. Konkret lassen sich die einzelnen Formen des Sektierertums nur in ihrem gesellschaftlichen Kontext verstehen. Denn als gesellschaftspolitische Haltung definiert sich dasselbe überwiegend negativ, in Abgrenzung gegen andere, und verweist so auf sein antagonistisches Gegenüber, den gleichfalls schillernden Opportunismus, und jene Gesellschaftsform, aus der beide ihre dialektische Dynamik beziehen.
Sozialisten vertreten zwar Werte, die mit der bürgerlichen Gesellschaft das Licht der Welt erblickten (Freiheit, Gleichheit, Solidarität), wenden diese Werte aber gegen die bürgerliche Realität einer kapitalistischen Konkurrenz- und Klassengesellschaft. Sie folgen in ihrem Kampf um allgemeinmenschliche Emanzipation einer anderen Logik als der in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft vorherrschenden und beförderten, wenn sie die Gebrauchswertlogik gegen die Tauschwert- und Profitlogik setzen.
Zum Konflikt zwischen den sozialistischen Strömungen kommt es bei der Frage nach den notwendigen und möglichen Mitteln und Wegen zur Veränderung bestehender Gesellschaftsformationen, bei der Diskussion um die Dialektik von Zielen und Mitteln. Was können Sozialisten von ihren Werten in der jeweils gegebenen gesellschaftlichen Situation praktisch verwirklichen, wo liegen die vom herrschenden System gesetzten Schranken dieser Praxis? Wieweit darf ein Kompromiss mit den dieses System tragenden Institutionen und Verhaltensweisen gehen, ohne dass die grundlegenden Werte dabei aufgegeben werden? Und wie weit muss man solche Kompromisse eingehen, um sich der Verwirklichung dieser Werte nähern zu können?
Im Kampf um eine grundlegende Gesellschaftsveränderung kann sich sozialistisches Handeln auf die Ein- oder Unterordnung in die bestehenden gesellschaftlichen und ideologischen Verhältnisse nicht beschränken. Und doch ist es andererseits, wie Peter Cardorff in seinen 1980 veröffentlichten Studien über Irrationalismus und Rationalismus in der sozialistischen Bewegung aufgezeigt hat, auf den lebendigen Kontakt mit diesen Verhältnissen angewiesen, "da es weiß, dass es seine Ziele ohne Teilnahme an den gesellschaftlichen Erfahrungen nicht nur nicht erreichen, sondern noch nicht einmal präzise formulieren kann". In der verstehenden Teilnahme an der (als solcher abgelehnten) Gesellschaft arbeitet der Sozialist deswegen an der gleichzeitig praktischen wie theoretischen Herausbildung eigener Werte und jener innergesellschaftlichen Tendenzen und Elemente, die über die bestehende Gesellschaft und ihre Logik hinausweisen.
In dieser zwangsläufigen "Dialektik von Teilnahme und Widerstand" (Cardorff) definiert sich der linke Opportunismus dadurch, dass er sich dem Bewusstseinsstand, den Verhaltensweisen und Bedürfnisstrukturen der von ihm anvisierten Klientel weitgehend anpasst und dem ideologischen und institutionellen Status quo unterordnet. Das Sektierertum dreht dagegen den Spieß einfach um und zieht sich aus der von ihm verabscheuten Gesellschaft ins Ghetto der Gegengesellschaft oder auf den Standpunkt einer reinen, kritischen Kritik zurück. Erkennt das Sektierertum nur noch die emanzipative Zielidee an und spielt diese gegen die real existierende Gesellschaft und die von ihr bestimmten Mittel möglicher Veränderung aus, setzt der Opportunismus gerade diese Mittel absolut und schleift auf diesem Weg seine ursprünglichen Ziele Stück für Stück ins ethisch Unverbindliche ab — "Der Weg ist das Ziel", so das berühmte Credo dieser politischen Strategie.
Sektierertum und Opportunismus sind gleichermaßen falsche wie zwangsläufige Antworten auf Fragen, die sich einem emanzipativen sozialistischen Handeln täglich aufs Neue stellen, denn die Dialektik von Teilnahme und Widerstand verändert sich in permanenter Abhängigkeit vom (historisch gewachsenen) Stand der gesellschaftlichen Verhältnisse und Kämpfe. So sehr man beide Verhaltensweisen (bei anderen wie bei sich selbst) auch politisch-ideologisch thematisieren muss, so falsch und unproduktiv wäre es deswegen, sie einfach administrativ ausgrenzen zu wollen.
Auch wenn jedoch Sektierertum und Opportunismus gleichermaßen falsch wie zwangsläufig sind, so sind sie doch, von einem sozialistischen Standpunkt aus, nicht gleichermaßen falsch. Denn der Opportunismus trägt auf seinem Wege seine ursprünglich emanzipativen Ziele Stück für Stück ab, indem er sich den Sachzwängen kapitalistischer Rationalität zuerst unter- und dann einordnet, um schlussendlich integraler Teil der einstmals abgelehnten Gesellschaft zu werden. Am Ende seines Weges — und dies lehrt die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie seit den 1950er Jahren wie die der Grünen seit Ende der 80er Jahre — ist er nicht einmal mehr fähig, auch nur Reformen derselben durchzuführen — das haben die sieben verlorenen Jahre von Rot-Grün einmal mehr deutlich gezeigt. Das Sektierertum dagegen, so ätzend und kontraproduktiv es in der Regel auch ist, bewahrt sich in gewissen Epochen und Konjunkturen immerhin die emanzipative Zielidee, die Idee eines Anderen, Besseren.

Die Dialektik der Geschichte

Wer also vom Sektierertum spricht, darf vom Opportunismus nicht schweigen. Und wer nach den Möglichkeiten einer Aufhebung ihrer fatalen Dialektik fragt, ist verwiesen auf die gleichermaßen historische wie politisch-soziologische Analyse jener Gesellschaft, in welcher diese Dialektik wirkt.
Bereits in den klassischen religiösen Sektenbewegungen des Mittelalters, dies hat bspw. Leo Kofler in seiner Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft sehr schön aufgezeigt, lässt sich diese Dialektik beobachten. In ihrem Innersten waren sie Strömungen einer auf die Utopie der Klassenlosigkeit setzenden Sozialkritik, deren revolutionäres Wollen und deren Zielideen an den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen, an der mangelnden gesellschaftlichen "Reife" zur praktischen Sozialutopie, scheitern mussten. Und doch waren diese religiösen Sektenbewegungen gleichsam die Hefe in einem historisch-gesellschaftlichen Teig, den aufstrebende bürgerlich-reformatorische Bewegungen auf ihrem Weg zur bürgerlichen Revolution gebildet haben.
Mehr noch lässt sich mit dem historischen Blick sagen, dass sich die geschichtliche Entfaltung sozialreformatorischer oder sozialrevolutionärer Bewegungen bis zum Durchbruch der modernen Massengesellschaft vorwiegend in Formen vollzog, die strukturell sektiererische Züge aufweist. Bis zur zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts organisierten sich die Reformer und Revolutionäre vor allem in kleinen Gruppen und Zirkeln, in Geheimbünden und Kleinstorganisationen, die in ihrer Binnenstruktur und politischen Psychologie deutliche Parallelen aufweisen zu den religiösen Sekten des Mittelalters. Erst mit dem an der Schwelle zum 20.Jahrhundert erfolgten Durchbruch zur modernen demokratischen Massengesellschaft, spezieller: mit dem Durchbruch zur modernen industriellen Arbeitermassenbewegung, verlor das Kleingruppen- und Zirkelwesen einen Großteil seiner praktisch-politischen Relevanz, als Sozialreformer und Sozialrevolutionäre weitgehend bedenkenlos im großen Strom der auf emanzipative Veränderung orientierten Massenbewegung aufgehen konnten.
Kein halbes Jahrhundert später war dieses "Goldene Zeitalter" einer gleichsam sozialistischen Klassik jedoch wieder vorüber. Mit der in der Verstaatlichung der Arbeiterbewegung kulminierenden Bürokratisierung der Arbeiterorganisationen — der Integration der sozialdemokratischen in den bürgerlichen Staat und der Staatswerdung der kommunistischen — kam es erneut zu geschichtsmächtigen "Abspaltungen" von "sektiererischen" Kleingruppen und Individuen, die am Rande oder außerhalb dieser Massenorganisationen auf die Bewahrung und/oder Erneuerung einer sozialrevolutionären Perspektive orientierten. Die einstmals revolutionäre Bewegung hatte ihre Kinder entlassen, und das nicht selten mit repressiven Methoden.
Doch was passiert eigentlich mit jenem renitenten Unbehagen, das eine bürgerlich-kapitalistische Klassengesellschaft so zwangsläufig wie alltäglich produziert, wenn jene Bewegungen, die wie Sozialdemokratie und Kommunismus historisch angetreten waren, den Weg zum Sozialismus zu öffnen, dieser selbstgesteckten Aufgabe nicht mehr nachkommen? Was passiert, wenn die Zeit der sozialistischen Klassik vorbei ist, sich die sozialistischen und gewerkschaftlichen Bürokratien als stalinistisch oder reformistisch blockiert erweisen und jene, die an den alten Lehren festhalten und sie umsetzen wollen, als ewig-gestrige "Sektierer", "Spinner" und "Spalter" titulieren?
Das waren die Fragen, vor denen nicht wenige Linke seit den 30er Jahren des 20.Jahrhunderts standen, und die seit den 50er Jahren zum historischen Aufstieg des ausgesprochen heterogenen Phänomens der Neuen Linken geführt haben. In Zeiten der abwesenden Revolution im Westen und der unvollkommenen im Osten schlägt, so bspw. Henri Lefebvre Ende der 50er Jahre, die Stunde des Protests der geprellten oder unterdrückten Subjektivität gegen alles, was das Individuum entfremdet: "Zwischen dem Ultra-Revisionismus derer, die das Verlöschen des marxistischen Projekts im modernen Denken behaupten, und dem Ultra- Dogmatismus jener, die an den Resultaten der Stalinschen Periode festhalten und so tun, als handele es sich dabei um eine bedauerliche Verzerrung, einen belanglosen ‘Zwischenfall‘, können wir einen dritten Weg bestimmen: den der dialektischen Kritik, den der Ironie."
Henri Lefebvres "neuer Utopismus", Herbert Marcuses "neue Sensibilität" und Randgruppenstrategie, Peter Brückners "privilegiertes Bewusstsein" oder Leo Koflers "progressive Elite", all diese und manche andere Versuche, das historisch Neue zu denken, waren Reaktionen darauf, dass abermals die Stunde der Individuen, Kleingruppen und radikalen Minderheiten geschlagen hatte. Und obwohl sich in diesen neuen Bewegungen Sektierertum und Opportunismus en masse fanden und die die zur Umwandlung der Gesellschaft historisch berufene Arbeiterbewegung nicht ersetzen konnten und können, so galten sie bspw. einem Leo Kofler als "ein unentbehrlicher Gärstoff, der die Gesellschaft vor der Todesstarre bewahrt".
Mehr noch: Die Tatsache, dass selbst neue bürgerliche Bewegungen wie der (ebenfalls in den 40er/50er Jahren entstandene) Neoliberalismus lange Zeit in der Form von zivilgesellschaftlichen "Sekten" agieren mussten, bevor sie ihren intellektuellen und politisch-organisatorischen Siegszug antreten konnten, verweist darauf, dass die Dialektik von Opportunismus und Sektierertum nicht nur eine linke, sondern eine die gesamte spätbürgerliche Gesellschaft prägende ist. Die vermeintlich offene und tolerante bürgerliche Gesellschaft der zweiten Jahrhunderthälfte erweist sich eben — darin sind sich die meisten Gesellschaftstheoretiker seit vielen Jahrzehnten einig — bei genauerer Betrachtung als strukturell intolerant, als technokratisch-korporatistisch und patriarchal-autoritär abgedichtet — Peter Brückner sprach gar von "der Mehrheit als Sekte" (siehe Kasten).
Die heutzutage vorwiegende Form sektiererischer Verweigerung und Renitenz findet sich unter anderem deswegen gerade nicht im direkt politischen Bereich, sondern jenseits der politischen Praxis. Zeitgenössisches Sektierertum ist in seiner quantitativen Mehrheit geradezu antipolitisch, eher eine Form moderner Kulturkritik, die "Legitimation eines nur noch durch seinen besonderen ideologischen Zuckerguss von anderen Spielarten des Pessimismus unterschiedenen allgemeinen Negativismus. Die Kritik hat in ihm dann nicht mehr die Funktion, Mittel der Änderung zu sein; stattdessen gewährleistet sie ihren Trägern das Überleben im Verharren, indem sie ein Gefühl der Distanz und Überlegenheit gegenüber dem Schmutz der Welt herstellt." (Cardorff.)

Die Moral von der Geschicht‘

Und die berühmte Moral von der Geschicht‘? Die vorherrschende Rede von den "Sekten" und vom "Sektierertum" ist undifferenziert, irreführend und Ausdruck nicht von politischer Aufklärung, Diskussion und Aktion, sondern von innerlinkem Ressentiment. Einem Ressentiment, dessen Melodie jene Opportunisten mit Geschick intonieren, die von realen politischen Problemen und ihrer Rolle in diesen ablenken wollen. Sektierertum wurde immer dann zum politisch-praktischen Problem, wenn Bewegungen des Aufbruchs und der Revolte im Zerfall begriffen waren. Politisch und kulturell aufsteigende Bewegungen brauchten dagegen keine administrative Ausgrenzung, um Sektierertum zu entschärfen. Und profitiert haben von dieser Ausgrenzung immer nur jene, die Bewegungen in Zeiten der Flaute zu verwalten trachteten.
Nun lässt sich abschließend fragen, ob nicht gerade die Formierung zu einer neuen Linkspartei diese historisch entstandenen und gewachsenen "Sekten" obsolet mache. Das wäre in der Tat eine der vielen Hoffnungen, die sich auf das neue Parteiprojekt richten. Ihre sektiererischen Züge können diese Gruppen und Individuen jedoch nur in dem Maße abstreifen, wie sie als Gleiche und Freie im Neuformierungsprozess willkommen geheißen werden und aufgehen können. Wer dies (mit entsprechender Schuldzuweisung) zur Aufgabe der kleinen radikalen Minderheiten und nicht der größeren Bewegungen und Organisationen macht, verwechselt Ursache und Wirkung.
Der Weg zu einer neuen gesamtdeutschen sozialistischen Linken wird alles andere als geradlinig und hürdenlos ablaufen. Wir sollten es deswegen mit Ernest Mandel halten, der immer wieder betonte, dass man zu Sektierern nicht sektiererisch sein dürfe: "Don‘t be sectarian to the sectarians"! Den Namen einer Neuen Linken verdient nur, wer dies zu beherzigen weiß.

Christoph Jünke

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