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Ist multikulturelle Autonomie eine Voraussetzung für nachhaltige
Entwicklung? Mit dieser sperrigen Frage beschäftigte sich vier Jahre lang das von der EU gesponserte
und vom Wiener Ludwig-Boltzmann-Institut für zeitgenössische Lateinamerikaforschung koordinierte
Forschungsprojekt Latautonomy (Autonomías indígenas en América Latina: Nuevas formas de
convivencia política: www.latautonomy. org).
Untersucht wurden zwölf verschiedene
Regionen in acht Ländern: Oaxaca und Chiapas in Mexiko, die Regionen Atlantikküste Nord und
Süd in Nikaragua, der Landkreis Kuna Yala in Panama, die Region Alto Rio Negro in Brasilien, die
andinen Zonen Otavalo und Cotopaxi sowie das Amazonastiefland in Ecuador, der Trópico de Cochabamba in
Bolivien, Katalonien im Spanischen Staat, Tschetschenien und Dagestan in der Russischen Föderation.
Das Buch präsentiert die Ergebnisse
der Feldforschungen und weitergehende Analysen und bietet einen schematischen Vergleich der untersuchten
Regionen und der Forschungsergebnisse, eine ausführliche Präsentation der Methodologie, eine
vergleichende Analyse der Forschungsergebnisse im Lichte der Projekthypothesen und schließlich die
Falluntersuchungen Dagestan/ Tschetschenien und Baskenland als Testfälle für eine
Übertragbarkeit der lateinamerikanischen Erfahrungen. Im Zentrum stehen dabei Netzwerke von Gemeinden,
deren politische Entscheidungsfindung auf dem Konsensprinzip beruht, bei deren wirtschaftlichem Handeln das
Solidaritätsprinzip vor dem Marktprinzip kommt, und wo eine mediative Justiz herrscht, die mehr den
Ausgleich sucht als Strafe und Nullsummenspiele.
Die Lektüre des 440 Seiten starken
Buches ist eine Herausforderung, zumal die einzelnen Beiträge nicht immer perfekt aufeinander
abgestimmt sind, was die Suche nach dem roten Faden erschwert. Doch es lohnt sich, die facettenreichen
Antworten kennenzulernen, die die Forscher rund um die Ausgangsfrage des Projekts geben. Die Geschichte
wird zeigen, so ihre These, ob die multikulturellen Autonomien nachhaltig sind. Und dies wird vor allem
davon abhängen, ob sich ihre Gegner durchsetzen.
Ist multikulturelle Autonomie eine
Voraussetzung für Nachhaltigkeit? Die Antwort auf diese Frage bleibt den Leserinnen und Lesern
überlassen. Doch nur scheinbar ist dies ein dünnes Ergebnis, denn nach der ausführlichen
Analyse der autonomen Regionen steht fest, "dass in jedem Fall die Unterbindung der
eigenständigen Entwicklung im Sinne einer multikulturellen Autonomie eine nachhaltige Entwicklung
verunmöglicht". Erarbeitet wurde so ein Strukturkonzept von Autonomie, das nicht Modell sein kann
und will, sondern "ein Vorschlag Lateinamerikas für andere Weltregionen", wie Leo Gabriel in
seinem Vorwort schreibt.
Latautonomy versteht sich als Beginn. Als
Beginn der Auslotung eines neuen politischen Paradigmas, das tief in den alten Kulturen unseres Planeten
verwurzelt ist: Der Kampf der Völker nicht für unabhängige Nationalstaaten, sondern für
ein würdiges und selbstbestimmtes Leben innerhalb von regionalen Autonomieprozessen. Samuel
Huntingtons These vom "Zusammenstoß der Kulturen" stellt Latautonomy einen "Dialog der
Kulturen" entgegen.
Robert Lessmann
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