SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2006, Seite 04

Krieg

Lasst Jerusalem los

von SLAVOJ ZIZEK


Freud gibt ein schlagendes Beispiel einer guten Traumdeutung durch den Ratgeber Alexander des Großen. Am Vorabend einer Schlacht um die Stadt Tyros erscheint in Alexanders Traum die obszöne Gestalt eines wild tanzenden Satyrn. Der Ratgeber ignorierte die Gestalt und konzentrierte sich stattdessen auf das Wort satyros, das er als "sa Tyros" — "Tyros wird dein" — entzifferte. Vielleicht sollten wir heute, während die israelische Armee versucht, eben diese Stadt Tyros zu "befrieden", uns dagegen auf die Gestalt des Satyrn konzentrieren. Welche Orgie der Gewalt wird entfesselt, wenn die israelische Armee Tyros erobert?
Das Mysterium des israelisch- palästinensischen Konflikts, von dem der Krieg im Libanon ein weiteres schreckliches Symptom ist, lautet: Wieso existiert dieser Konflikt seit einem halben Jahrhundert, wo doch alle Welt die einzig gangbare Lösung kennt — der Rückzug Israels aus der Westbank und endgültig aus Gaza, die Errichtung eines lebensfähigen Palästinenserstaats und, als Teil dieses Prozesses, ein Kompromiss bezüglich des Status von Jerusalem. Wie oft schien der Friede möglich, um nur plötzlich wieder zusammenzubrechen und so die Zerbrechlichkeit des ausgehandelten Kompromisses zu demonstrieren? Es gibt tatsächlich etwas Neurotisches im Nahostkonflikt: Jeder sieht, wie man das Hindernis loswerden kann, doch niemand möchte es beseitigen, als wenn ein pathologischer libidinöser Vorteil mit dem Festhalten an der Pattsituation zu erlangen wäre.
Wenn es jemals eine leidenschaftliche Bindung an das verlorene Objekt gab, eine Weigerung, mit seinem Verlust klarzukommen, ist es die Bindung der Israelis und vieler Juden der Diaspora an das "Heilige Land" und vor allem an Jerusalem. Die gegenwärtigen Konflikte sind der beste Beweis für die Folgen einer solch radikalen Treue, wenn sie wörtlich genommen wird. Fast 2000 Jahre lang, als die Juden im Grunde eine Nation ohne Land waren, die im Exil lebte, war ihr Bezug auf Jerusalem ein negativer, ein Verbot gegen die "Vorstellung von einem Zuhause" oder tatsächlich gegen das Gefühl, überall auf der Erde zu Hause zu sein. Sobald vor einem Jahrhundert die Rückkehr nach Palästina begann, wurde der metaphysische Andere Ort mit einem spezifischen Ort auf der Landkarte identifiziert und zum Objekt einer positiven Identifikation, zum Ort, wo die für die menschliche Existenz charakteristische Wanderung endet. Die Identifikation, nacheinander negativ und positiv, war stets mit einem Traum von Besiedlung verbunden. Wenn ein 2000 Jahre alter Traum schließlich nahe vor seiner Verwirklichung steht, muss sich eine solche Verwirklichung in einen Albtraum verwandeln.
Bei Brechts Scherz anlässlich des Ostberliner Arbeiteraufstands 1953 — "das Volk [hat] das Vertrauen der Regierung verscherzt ... wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?" — kommt einem die Art und Weise in den Sinn, wie die Israelis die Bewohner der Westbank und Gazas betrachten. Dass Israelis, Nachkommen von exemplarischen Opfern, eine vollständige ethnische Säuberung in Betracht ziehen oder den "Transfer" der Palästinenser aus der Westbank, ist die äußerste Ironie der Geschichte.
Was wäre heute im Nahen Osten ein angemessene fantasievolle Handlung? Für Israelis und Araber würde dazu die Aufgabe der politischen Kontrolle über Jerusalem gehören, die Übereinkunft, dass die Altstadt eine Stadt ohne Staat ist, eine Kultstätte, weder ein Teil Israels noch eines mutmaßlichen Palästina, vorläufig verwaltet durch eine internationale Kraft. Indem sie auf die politische Kontrolle über Jerusalem verzichten, würden beide Seiten gewinnen, denn sie stellten fest, dass Jerusalem ein wahrhaft außer-politischer, geheiligter Ort würde. Was sie verlören, verdient nur, verloren zu werden: die Reduzierung der Religion auf eine Parade in einem Spiel um politische Macht. Jede Seite müsste erkennen, dass dieser Verzicht eine Befreiung für sich darstellt, nicht bloß ein Opfer, das man für den anderen bringt.
Zurück zu Brecht — und den Kaukasischen Kreidekreis, wo eine leibliche Mutter und eine Stiefmutter um ein Kind streiten und den Fall vor einen Richter bringen. Der Richter zeichnet mit Kreide einen Kreis, stellt das Kind in die Mitte und sagt den Frauen, dass diejenige, die als erste das Kind aus dem Kreis zieht, es erhalten wird. Als die Stiefmutter sieht, dass das Kind dabei verletzt wird, lässt sie es los, und natürlich gibt der Richter ihr das Sorgerecht für das Kind, denn sie war es, die wahre Mutterliebe gezeigt hat. So sollte man es auch mit Jerusalem halten: Wer Jerusalem wirklich liebt, lässt es lieber los, als zuzusehen, wie es zerrissen wird.

(Übersetzung: Hans-Günter Mull)

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