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Freud gibt
ein schlagendes Beispiel einer guten Traumdeutung durch den Ratgeber Alexander des Großen. Am Vorabend
einer Schlacht um die Stadt Tyros erscheint in Alexanders Traum die obszöne Gestalt eines wild
tanzenden Satyrn. Der Ratgeber ignorierte die Gestalt und konzentrierte sich stattdessen auf das Wort
satyros, das er als "sa Tyros" "Tyros wird dein" entzifferte. Vielleicht
sollten wir heute, während die israelische Armee versucht, eben diese Stadt Tyros zu
"befrieden", uns dagegen auf die Gestalt des Satyrn konzentrieren. Welche Orgie der Gewalt wird
entfesselt, wenn die israelische Armee Tyros erobert?
Das Mysterium des israelisch-
palästinensischen Konflikts, von dem der Krieg im Libanon ein weiteres schreckliches Symptom ist,
lautet: Wieso existiert dieser Konflikt seit einem halben Jahrhundert, wo doch alle Welt die einzig
gangbare Lösung kennt der Rückzug Israels aus der Westbank und endgültig aus Gaza,
die Errichtung eines lebensfähigen Palästinenserstaats und, als Teil dieses Prozesses, ein
Kompromiss bezüglich des Status von Jerusalem. Wie oft schien der Friede möglich, um nur
plötzlich wieder zusammenzubrechen und so die Zerbrechlichkeit des ausgehandelten Kompromisses zu
demonstrieren? Es gibt tatsächlich etwas Neurotisches im Nahostkonflikt: Jeder sieht, wie man das
Hindernis loswerden kann, doch niemand möchte es beseitigen, als wenn ein pathologischer
libidinöser Vorteil mit dem Festhalten an der Pattsituation zu erlangen wäre.
Wenn es jemals eine leidenschaftliche
Bindung an das verlorene Objekt gab, eine Weigerung, mit seinem Verlust klarzukommen, ist es die Bindung
der Israelis und vieler Juden der Diaspora an das "Heilige Land" und vor allem an Jerusalem. Die
gegenwärtigen Konflikte sind der beste Beweis für die Folgen einer solch radikalen Treue, wenn
sie wörtlich genommen wird. Fast 2000 Jahre lang, als die Juden im Grunde eine Nation ohne Land waren,
die im Exil lebte, war ihr Bezug auf Jerusalem ein negativer, ein Verbot gegen die "Vorstellung von
einem Zuhause" oder tatsächlich gegen das Gefühl, überall auf der Erde zu Hause zu
sein. Sobald vor einem Jahrhundert die Rückkehr nach Palästina begann, wurde der metaphysische
Andere Ort mit einem spezifischen Ort auf der Landkarte identifiziert und zum Objekt einer positiven
Identifikation, zum Ort, wo die für die menschliche Existenz charakteristische Wanderung endet. Die
Identifikation, nacheinander negativ und positiv, war stets mit einem Traum von Besiedlung verbunden. Wenn
ein 2000 Jahre alter Traum schließlich nahe vor seiner Verwirklichung steht, muss sich eine solche
Verwirklichung in einen Albtraum verwandeln.
Bei Brechts Scherz anlässlich des
Ostberliner Arbeiteraufstands 1953 "das Volk [hat] das Vertrauen der Regierung verscherzt ...
wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein
anderes?" kommt einem die Art und Weise in den Sinn, wie die Israelis die Bewohner der Westbank
und Gazas betrachten. Dass Israelis, Nachkommen von exemplarischen Opfern, eine vollständige ethnische
Säuberung in Betracht ziehen oder den "Transfer" der Palästinenser aus der Westbank,
ist die äußerste Ironie der Geschichte.
Was wäre heute im Nahen Osten ein
angemessene fantasievolle Handlung? Für Israelis und Araber würde dazu die Aufgabe der
politischen Kontrolle über Jerusalem gehören, die Übereinkunft, dass die Altstadt eine Stadt
ohne Staat ist, eine Kultstätte, weder ein Teil Israels noch eines mutmaßlichen Palästina,
vorläufig verwaltet durch eine internationale Kraft. Indem sie auf die politische Kontrolle über
Jerusalem verzichten, würden beide Seiten gewinnen, denn sie stellten fest, dass Jerusalem ein
wahrhaft außer-politischer, geheiligter Ort würde. Was sie verlören, verdient nur, verloren
zu werden: die Reduzierung der Religion auf eine Parade in einem Spiel um politische Macht. Jede Seite
müsste erkennen, dass dieser Verzicht eine Befreiung für sich darstellt, nicht bloß ein
Opfer, das man für den anderen bringt.
Zurück zu Brecht und den
Kaukasischen Kreidekreis, wo eine leibliche Mutter und eine Stiefmutter um ein Kind streiten und den Fall
vor einen Richter bringen. Der Richter zeichnet mit Kreide einen Kreis, stellt das Kind in die Mitte und
sagt den Frauen, dass diejenige, die als erste das Kind aus dem Kreis zieht, es erhalten wird. Als die
Stiefmutter sieht, dass das Kind dabei verletzt wird, lässt sie es los, und natürlich gibt der
Richter ihr das Sorgerecht für das Kind, denn sie war es, die wahre Mutterliebe gezeigt hat. So sollte
man es auch mit Jerusalem halten: Wer Jerusalem wirklich liebt, lässt es lieber los, als zuzusehen,
wie es zerrissen wird.
(Übersetzung: Hans-Günter Mull)
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