SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2006, Seite 11

Wer ist die Hizbollah?

Ihre Geschichte und ihre Wandlungen

In dem verkürzten Diskurs, der die öffentliche Meinung auf die Rechtfertigung der israelischen Angriffe gegen den Libanon festlegen will, erscheint die Hizbollah als reine Terrororganisation, die mit Al Qaeda auf eine Stufe zu stellen sei. Eine nähere Betrachtung widerlegt diese Sicht.
In den USA wird die Hizbollah im Allgemeinen mit den Bombenangriffen 1983 auf die US-Botschaft, die Marinekasernen und das Hauptquartier der von Frankreich geführten multinationalen Streitkräfte in Beirut in Verbindung gebracht. Der zweite Bombenangriff führte unmittelbar zum Rückzug des US-Militärs aus dem Libanon. Das US- Außenministerium macht die Hizbollah auch für die Entführung von Ausländern im Libanon und für das Geiseldrama verantwortlich, das zur Iran-Contra-Affäre führte, sowie für die Entführung eines TWA-Flugzeugs im Jahr 1985 und Angriffe auf die Botschaft und das Kulturzentrum Israels in Buenos Aires in den frühen 90er Jahren.
Das sind die Gründe, die angeführt werden, warum das US-Außenministerium die Hizbollah auf der Liste der terroristischen Organisationen führt. Die Beteiligung der Hizbollah an diesen Angriffen ist umstritten, doch selbst wenn man von einer Beteiligung ausgeht, ist es falsch und auch unklug, die Hizbollah als "terroristisch" abzutun.

Zum Vorwurf des Terrorismus

Die militärische Aktivität der Hizbollah verfolgte zu Anfang das Ziel, die Besetzung des Südlibanon durch Israel zu beenden. Nach dem Rückzug Israels vom Mai 2000 operierte sie weitgehend im Rahmen unausgesprochener, aber von beiden Seiten verstandener "Spielregeln" — mit fortgesetzten Geplänkeln niedriger Intensität entlang der Grenze unter Vermeidung ziviler Opfer.
Seit ihrer Gründung ist die Hizbollah zudem bedeutend gewachsen und hat sich entscheidend verändert. Sie ist zu einer rechtmäßigen politischen Partei im Libanon und zu einer Dachorganisation für eine Unzahl von sozialen Organisationen geworden.
Ein anderer Grund, warum die USA die Hizbollah auf der Terroristenliste führen, hängt mit ihrem Ruf als Anstifterin zu einer Vielzahl von "Selbstmordattentaten" oder "Märtyreroperationen" zusammen. Tatsächlich führten von den Hunderten von militärischen Operationen, die die Gruppe während der israelischen Invasion und Besatzung des Libanon durchführte, nur zwölf zum beabsichtigten Tod eines Hizbollahkämpfers. Mindestens die Hälfte der "Selbstmordattentate" gegen israelische Besatzungstruppen im Libanon geht auf das Konto von Mitgliedern laizistischer oder linker Parteien.
Ein drittes Element, warum die USA darauf bestehen, die Hizbollah als terroristische Gruppe zu bezeichnen, hängt mit der Vorstellung zusammen, die Hizbollah sehe ihre Existenzberechtigung in der Zerstörung Israels. Diese Sicht wird von einem Offenen Brief aus dem Jahr 1985 unterstützt, der Erklärungen enthält wie: "Israels endgültiger Rückzug aus dem Libanon ist der Auftakt zur endgültigen Vernichtung seiner Existenz und der Befreiung Jerusalems aus den Klauen der Besatzung." Man kann an der Durchführbarkeit eines solchen Projekts Zweifel anmelden, insbesondere wenn man sieht, wie ungleichgewichtig Militärmacht und Zerstörungskraft sind, die jetzt zur Schau gestellt werden.
Die umfassenden Raketenangriffe der Hizbollah im Juli 2006 setzen ein, nachdem das israelische Bombardement begonnen hatte (einen kleineren Raketenangriff gab es zur Ablenkung in Galiläa am Morgen des 12.Juli, kurz vor der Entführung der israelischen Soldaten).
Es gibt aber auch Gründe, daran zu zweifeln, dass die Rhetorik des Offenen Briefs die Absichten der Hizbollah korrekt wiedergibt. Bis zum Mai 2000 waren fast alle ihre militärischen Aktivitäten darauf gerichtet gewesen, das libanesische Territorium von der israelischen Besatzung zu befreien. Die Scharmützel an der Grenze zwischen Mai 2000 und Juli 2006 waren kleine Operationen mit taktischen Zielen (viele von ihnen wurden von Israel nicht einmal militärisch beantwortet).
Das Gründungsdokument der Hizbollah sagt auch: "Wir erkennen keinen Vertrag mit [Israel] an, keinen Waffenstillstand und keine Friedensvereinbarungen, weder separat noch umfassend." Diese Sprache stammt aus der Zeit der israelischen Invasion und des Aufstiegs der Hizbollahmiliz. Die indirekten Gespräche der Hizbollah mit Israel in den Jahren 1996 und 2004 und ihre bekundete Bereitschaft, jetzt einen Gefangenenaustausch vorzunehmen, weisen alle auf Realismus in der Parteiführung hin.

Widerstand und Politik

Bei den ersten Wahlen nach dem Krieg im Jahr 1992 kehrten viele Milizen, die oftmals aus politischen Parteien hervorgegangen waren, wieder zu ihrem Status als politische Parteien zurück. Auch die Hizbollah entschied sich, an den Wahlen teilzunehmen, womit sie ihre Bereitschaft erklärte, im Rahmen des existierenden politischen Systems zu arbeiten. Zugleich behielt sie ihre Waffen, um den Guerillakrieg gegen die israelische Besatzung im Süden fortzuführen. Bei diesen ersten Wahlen gewann die Partei acht Sitze, womit sie den größten Block in einem Parlament von 128 Mitgliedern stellte. Von diesem Zeitpunkt an erlangte die Hizbollah — auch bei denjenigen, die ihrer Ideologie vehement widersprachen — den Ruf, eine "saubere" und auf nationaler wie auch auf lokaler Ebene fähige politische Partei zu sein.
Die Besetzung des Südlibanon war kostspielig für Israel. Der israelische Premierminister Ehud Barak versprach bei den Wahlen 1999 den Rückzug und kündigte ihn für den Juli 2000 an. Eineinhalb Monate vor diesem Datum, nach Desertierungen in der [mit Israel verbündeten] Südlibanesischen Armee (SLA) und dem Zusammenbruch möglicher Gespräche mit Syrien, ordnete Barak einen chaotischen Rückzug aus dem Libanon an. Am 24.Mai 2000 verließ der letzte israelische Soldat libanesischen Boden. Viele sagten voraus, nun würden Gesetzlosigkeit, religiöse Gewalt und Chaos das Vakuum füllen, das die israelischen Besatzungstruppen hinterlassen hatten. Diese Voraussagen erwiesen sich als falsch, die Hizbollah bewahrte die Ordnung in der Grenzregion.
Die stillschweigend akzeptierte "Spielregel", keine zivilen Ziele anzugreifen, hat den israelisch-libanesischen Grenzstreit seit dem Jahr 2000 bestimmt. Beide Seiten haben diese "Spielregel" bei Gelegenheit verletzt, dabei besagen Berichte von UN-Beobachtern über Grenzverletzungen, dass Israel die Blaue Linie zwischen den Ländern zehnmal häufiger verletzt hat als die Hizbollah. Israelische Streitkräfte haben libanesische Schafhirten und Fischer entführt, die Hizbollah kidnappte im Oktober 2000 einen israelischen Geschäftsmann, von dem sie behauptete, er sei ein Spion.
Im Januar 2004 trafen die Hizbollah und Israel eine Vereinbarung, nach der Israel mehrere hundert libanesische und palästinensische Häftlinge im Austausch gegen den Geschäftsmann und die Leichen von drei israelischen Soldaten freilassen sollte. In der letzten Minute widersetzten sich einige Beamte der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs und weigerten sich, die letzten drei libanesischen Häftlinge freizulassen. Damals versprach die Hizbollah, zu einem späteren Zeitpunkt erneut Verhandlungen aufzunehmen.

Nationalismus

Die Hizbollah hat während der 80er Jahre gute Beziehungen zum Iran unterhalten, dieser half ihr, die Miliz auszubilden und zu bewaffnen. Die Hizbollah berät sich mit iranischen Führern und erhält ökonomische Unterstützung in unbekannter Höhe. Der Iran leistet auch Militärhilfe an den Islamischen Widerstand [den militärischen Arm der Hizbollah]. Diese Beziehung bedeutet jedoch nicht, dass der Iran die Politik oder die Entscheidungen der Hizbollah diktiert oder die Aktionen der Partei kontrollieren kann. Mittlerweile sind iranische Versuche, die libanesischen Schiiten auf eine panschiitische, auf den Iran zentrierte Identität festzulegen, mit der arabischen Identität in Konflikt geraten und haben den libanesischen Nationalismus der Hizbollah gestärkt.
Ähnliches gilt für Syrien. Auch wenn die Partei gute Beziehungen zur syrischen Regierung pflegt, so kann Syrien die Entscheidungen und Aktionen der Partei doch nicht kontrollieren oder diktieren. Entscheidungen werden unabhängig getroffen, in Übereinstimmung mit der Sicht der Hizbollah auf libanesische Interessen und ihr Eigeninteresse als Partei im Rahmen der libanesischen Politik.
Die nationalistischen Züge der Partei haben sich in der Zeit ihrer Wandlung von einer militärischen Widerstandsgruppe zu einer politischen Partei verstärkt. Nach dem syrischen Rückzug wurde deutlich, dass die Partei eine bedeutendere Rolle in der libanesischen Regierung spielen würde. Tatsächlich erhöhte die Hizbollah in den Wahlen 2005 die Zahl ihrer Parlamentssitze auf 14 und befindet sich in einem Block mit anderen Parteien, die auf 35 Sitze kommen. 2005 beschloss die Partei zum ersten Mal, einen Kabinettsposten anzunehmen, sie besetzt derzeit das Ministerium für Energie.

Sozialpolitik

Zu den Folgen des libanesischen Bürgerkriegs gehörten wirtschaftliche Stagnation, Regierungskorruption und eine sich vergrößernde Kluft zwischen der immer stärker schrumpfenden Mittelschicht und der immer stärker wachsenden Zahl der Armen. Die schiitischen Wohnbezirke Beiruts mussten außerdem mit der Zuwanderung von Vertriebenen aus dem Süden und von der Bekaa-Ebene fertig werden. In diesem Klima wurde religiöser Klientelismus zu einem notwendigen Instrument des Überlebens.
In den 70er und 80er Jahren hatten die Schiiten ein soziales Netzwerk gebildet. Heute funktioniert die Hizbollah als Organisation, unter deren Dach viele Wohlfahrtsinstitutionen betrieben werden. Manche dieser Organisationen leisten monatliche Unterstützungszahlungen und ergänzende Hilfe für die Armen bei Nahrung, Erziehung, Wohnung und Gesundheit. Andere konzentrieren sich auf die Unterstützung von Waisen oder auf den Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Gebiete. Die Hizbollah betreibt auch Schulen, Kliniken und preiswerte Krankenhäuser.
Diese Wohlfahrtsinstitutionen verteilen sich über den gesamten Libanon und können von der lokalen Bevölkerung unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit in Anspruch genommen werden. Betrieben werden diese Institutionen fast ausschließlich von Freiwilligen, zumeist Frauen. Die Finanzmittel kommen aus Spenden, Stiftungen für elternlose Kinder und Steuern der Religionsgemeinschaft.
Eines der erklärten Ziele Israels im gegenwärtigen Krieg ist die "Beseitigung" der Hizbollah im Süden. Dabei ist zu beachten, dass die Partei im Süden und im ganzen Land eine breite Unterstützerbasis hat, die nicht notwendigerweise mit der Religionszugehörigkeit zusammenhängt. Die Popularität der Hizbollah basiert auf einer Kombination von Ideologie, Widerstand und ihrem Herangehen an die politisch- ökonomische Entwicklung. Die Ideologie der Hizbollah wird als eine gangbare Alternative zu der von den USA unterstützten Regierung und ihrem neoliberalen ökonomischen Projekt im Libanon und als aktive Opposition zur Rolle der USA im Nahen Osten betrachtet. Viele Hizbollah-Anhänger sind Schiiten, aber es unterstützen auch viele Libanesen mit einem anderen religiösen Hintergrund die Partei und/oder den Islamischen Widerstand.
Im gegenwärtigen Konflikt scheint die libanesische Öffentlichkeit geteilter Meinung zu sein, ob man für die Verwüstung des Landes die Hizbollah oder Israel verantwortlich machen soll. Viele Libanesen, die nicht mit der islamistischen Ideologie oder der politischen Plattform der Hizbollah übereinstimmen, unterstützen den Islamischen Widerstand und sehen Israel als ihren Feind. Diese Positionen schließen einander nicht aus. Eine der Folgen der israelischen Angriffe auf ausgewählte Gebiete von Beirut ist, dass der Widerspruch zwischen den sozialen Klassen sich verschärft. Das wird die Popularität der Hizbollah unter denen stärken, die die Wiederaufbau- und Entwicklungspolitik in der Form, wie sie die jetzige libanesische Regierung betreibt, ablehnen.

Lara Deep

Die Autorin ist Kulturanthropologin und lehrt an der University of California. Stark gekürzt aus Middle East Report Online. Der vollständige Text findet sich unter www.merip.org. (Übersetzung: Harald Etzbach.)



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