SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2006, Seite 12

"Unsere nationale Existenz steht auf dem Spiel"

Michel Warschawski über Israels Rolle im endlosen Präventivkrieg

Die ultimative Logik des globalen Kriegs ist die vollständige Ethnisierung der Konflikte.
"Wir müssen die Dörfer des Südens zu Staub machen ... Ich verstehe gar nicht, wieso es hier immer noch Elektrizität gibt." In diese Worten fasste der israelische Justizminister und frühere Führer der Arbeitspartei, Haim Ramon, seinen Vorschlag zur Fortsetzung der militärischen Offensive im Libanon nach dem Scheitern der Invasion von Bint Jbail. Israels militärisches Oberkommando, das im Kabinett von Arbeitsminister Ben Eliezer unterstützt wird, will nach der Zerstörung aller Ortschaften einen Teil des südlichen Libanon besetzen. Nach diesem Plan wird Israel die lokale Bevölkerung mit Hilfe von SMS-Botschaften "bitten", die Ortschaften vor der Zerstörung zu verlassen. Diejenigen, die sich entscheiden zu bleiben oder einfach keine "humanitäre" SMS erhalten, werden als Terroristen betrachtet.
Schrecklich? In der Tat, aber nicht unerwartet. Der israelische Krieg im Libanon ist das Paradigma des Krieges im 21.Jahrhundert — Kriege der Rekolonialisierung und der Unterjochung der Völker der Erde durch das Empire.
In diesen Kriegen ist das Leben von Zivilpersonen — wie in allen Kriegen — von sehr begrenztem Wert. Darüber hinaus gelten sie aber als legitimes Ziel, da sie aktiv oder passiv der Unterstützung des Terrorismus schuldig sind, der ureigener Teil ihrer Kultur ist. In den vergangenen zehn Jahren waren wir Zeugen einer schleichenden Entwicklung im herrschenden Diskurs: von terroristischen Gruppen über terroristische Staaten zu terroristischen Völkern. Die ultimative Logik des globalen Krieges ist die vollständige Ethnisierung der Konflikte, in denen nicht mehr eine Politik, eine Regierung oder spezifische Ziele bekämpft werden, sondern eine "Bedrohung" mit einer Gemeinschaft identifiziert wird. Furcht ist der Ausgangspunkt der neuen Ära, Hass ihr Endresultat. Aus diesem Grund sprechen die Neocons der US-Administration von einem "endlosen Krieg".
Die Gefangennahme zweier israelischer Soldaten hat die israelische Regierung zum Anlass genommen, eine neue Front in dem globalen, endlosen und präventiven Krieg der Rekolonialisierung zu eröffnen. Dabei ist sie auch bereit, dieser neuen Art des ethnischen Krieges die eigene Bevölkerung als kollaterales Opfer darzubringen. Dies kommt deutlich in einer teuren Anzeige zum Ausdruck, die die israelischen Neocons auf der Titelseite von Haaretz platzierten: "Israel steht an vorderster Front des Krieges gegen den weltweiten Jihad. Wir haben zwei Optionen: entweder die Fanatiker zu stärken, durch Rückzug und Separation, durch einseitigen Abzug, wodurch Israel zur Bühne des Hauptkampfes zwischen dem fanatischen Islam und der aufgeklärten Welt würde, oder die Gemäßigten zu stärken ... und Israel in das Weltzentrum von Gerechtigkeit und gegenseitigem Verständnis verschiedener Glaubensrichtungen [sic] zu verwandeln. Im Nahen Osten gibt es keine Abkürzungen." Am Ende der Anzeige steht eine kurze Schlussbemerkung: "Bedenkt: Eine verzerrte philosophische Sensibilität [sic] für menschliches Leben wird dazu führen, dass wir den realen Preis mit dem Leben vieler und mit dem Blut unserer Söhne zahlen."
Während mehr und mehr Stimmen in der israelischen Öffentlichkeit wenn nicht die Legitimität, so doch das Ausmaß der gegenwärtigen Militäroperation in Frage stellen, verlangt die US-Administration, dass Israel dem Druck derer, die sich für eine Feuerpause einsetzen, nicht nachgibt: "Die US-Außenministerin Condoleezza Rice ist die führende Gestalt bei der Strategie, die auf eine Veränderung der Lage im Libanon zielt, nicht Ministerpräsident Olmert und nicht Verteidigungsminister Peretz. Sie ist diejenige, die bislang dem internationalen Druck für eine Feuerpause standgehalten hat... Um erfolgreich zu sein, benötigt sie militärische Trümpfe, die Israel leider noch nicht liefern konnte. Außer der Bestrafung der Hizbollah und des Libanon [sic] durch die Bombardierungen haben sich Israels militärische Trümpfe bislang auf die Eroberung zweier grenznaher libanesischer Dörfer beschränkt. Wenn Israel seine militärischen Trümpfe im Verlauf des Kampfes nicht aufbessert, werden wir das Ergebnis bei der politischen Lösung zu spüren bekommen." (Haaretz, 30.7.2006.) So der führende Politik- und Militäranalyst Zeev Schiff über den Besuch der US-Außenministerin in Jerusalem Ende Juli.
Früher oder später wird die US- Regierung jedoch eine politische Lösung akzeptieren müssen — das heißt bis zur nächsten Runde in diesem endlosen Präventivkrieg, in dem Israel die Rolle der bewaffneten Vorhut der sog. zivilisierten Welt spielt.
Was die israelische Öffentlichkeit nicht versteht, sind die dramatischen Implikationen, die diese Politik für die bloße Existenz des Staates inmitten der arabischen und muslimischen Welt hat. Durch ihre grenzenlose Brutalität und ihre Zivilisationsrhetorik demonstriert der Staat Israel den Völkern der Region, dass er ein feindlicher Fremdkörper im Nahen Osten ist und dies auch bleiben will: der bewaffnete lange Arm der USA und ihres antimuslimischen Kreuzzugs des 21.Jahrhunderts.
Das Schicksal der Kreuzfahrer vor zehn Jahrhunderten ist allen bekannt.
Der Hass, den die Bombardierung Beiruts in der muslimischen Welt hervorgebracht hat — die Zerstörung der Infrastruktur des Libanon, Hunderte von toten Zivilisten, Hunderttausende von Flüchtlingen, die Politik der verbrannten Erde im Süden — ist gewaltig. Er kann sogar die muslimischen Gemeinschaften in den Ländern Europas und Amerikas vergiften. Anders als in früheren, scheinbar ähnlichen Krisen wie der Invasion des Libanon 1982 entwickelt er sich auf dem fruchtbaren Boden des Zivilisationsdiskurses und der Ethnisierung des Konflikts. Es wird deshalb sehr schwer sein, die Wut wieder zu löschen, wenn die Schlachtwolken sich verzogen haben und die Toten begraben sind.
Olmert, Peretz und Halutz sind die gefährlichsten und unverantwortlichsten Führer, die Israel je hatte, sie spielen mit einem Feuer, das unsere bloße nationale Existenz im Nahen Osten vernichten kann.
Auf den schwachen Schultern der kleinen israelischen Antikriegsbewegung lastet nicht nur das moralische Ansehen unserer Gesellschaft, sondern auch die Frage, ob unsere Kinder in diesem Teil der Welt eine Zukunft haben.
"Wir weigern uns, Feinde zu sein!", lautet eine der Losungen unserer Demonstrationen. Nie zuvor war eine solche Losung so wichtig, so dringend und so existenziell.

Michael Warschawski, 30.7.2006

(Übersetzung: Hans-Günter Mull)



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