SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2006, Seite 17

Flucht, Vertreibung, Integration

Zwei Ausstellungen, die nichts erklären

Bis zum 27.August waren in Berlin zwei Ausstellungen zum selben Thema zu sehen: die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Ost- und Mitteleuropa am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die eine, im Kronprinzenpalais, vom Bund der Vertriebenen (BdV); die andere, regierungsoffizielle, vom Deutschen Historischen Museum (DHM) ausgerichtet und als Konkurrenzveranstaltung gedacht, im Zeughaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Der Fall der Mauer und die EU-Osterweiterung in ihrem Gefolge haben die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen aus der Zwangsjacke des Kalten Krieges gelöst. Viele Aspekte und Erinnerungen, die bis dahin tabuisiert schienen, kamen wieder an die Oberfläche, die Verbrechen des Nationalsozialismus wurden (wenn auch nicht alle) unumwundener zugegeben, das Leiden der Völker Mittel- und Osteuropas unter der deutschen Besatzung rückte stärker in den Vordergrund; gleichzeitig wurden die Nachkriegsgrenzen als endgültige bestätigt und sämtliche Restitutionsansprüche von Deutschen abgelehnt. Der Blickwinkel auf die Ereignisse hat sich etwas europäisiert — das schafft neue Bruchstellen und Widersprüche.
Im Jahr 2000 preschte die 1998 neu gewählte BdV-Vorsitzende Erika Steinbach mit dem Projekt vor, in Berlin ein "Zentrum gegen Vertreibungen" zu errichten. Von vornherein stand dieses unter dem Verdacht, die Deutschen hauptsächlich in der Opferrolle darstellen zu wollen und somit durch die Hintertür doch noch Restitutionsansprüche geltend zu machen — was die Preußische Treuhand GmbH, eine Organisation, die von den Landsmannschaften Schlesien und Ostpreußen getragen wird, auch betreibt.
Vor allem in der polnischen Öffentlichkeit stieß das Projekt deshalb auf massiven Widerstand, sodass die Regierung Schröder sich dem nicht entziehen konnte und beschloss, etwas eigenes entgegenzusetzen. So kamen nicht nur die beiden Ausstellungen zustande, hinter ihnen stehen auch zwei verschiedene Projekte: Erika Steinbach will ein (von der CDU/CSU unterstütztes) "Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen", die Organisatoren der DHM-Ausstellung haben mit Unterstützung der Schröder-Regierung im März 2004 ein europäisches Netzwerk zum Thema "Zwangsmigration und Vertreibungen im 20.Jahrhundert" angestoßen.
Die Ausstellungen zeigen die Unterschiede beider Ansätze, aber auch die ideologische Fragwürdigkeit beider.

Recht auf Heimat

Die BdV-Ausstellung zeigt die üblichen Requisiten von Vertriebenen und Lagerinsassen — Fluchtwagen, wenige Habseligkeiten, die man mitnehmen durfte, Gebrauchsgüter, die aus dem Nichts unterwegs hergestellt wurden, aber auch Briefpapier und sogar eine Violine aus Brettchen und Suppenknochen — sie dokumentieren, dass den Menschen sein Bedürfnis nach Poesie auch unter solchen Umständen nicht verlässt. Die Zuordnung der Gegenstände jeweils zu konkret benannten Personen täuscht eine Unmittelbarkeit vor, die es nicht gibt: Da sie nicht weiter vorgestellt werden und ihre persönliche Geschichte im Dunkeln bleibt, führen ihre Namen aus der Anonymität nicht heraus.
Vielleicht ist das auch ganz gut so, wer weiss, was da ans Tageslicht käme — mindestens an einer Stelle ist von einem Mann die Rede, welcher der lettischen Division angehörte, das war eine SS-Einheit. An anderer Stelle beschreibt eine Frau, wie rührend ihr auch SS-Leute auf ein Fluchtschiff geholfen haben. Mindestens sind hier auch Zeugnisse von Menschen untergebracht, die sich zu Recht den Zorn der Vertreiber zugezogen haben.
Eines der Probleme, wenn von "den Vertriebenen" die Rede ist, besteht ja darin, dass ihr eigenes Zutun zu ihrem Schicksal außen vor bleibt. Zwar gehört der Verweis auf Rassenideologie, Vernichtungsprogramm und Kriegsschuld der Deutschen inzwischen zum Standard, daran kommt auch die BdV-Ausstellung nicht vorbei. Aber eines ist es, den obligaten historischen Verweis zu zitieren, ein anderes, den Lebensweg Einzelner zwischen Sieg-Heil- Rufen, Freiwilligenmeldung und Vertreibung nachzuzeichnen. "Die" Vertriebenen gibt es nicht — es gibt solche und solche. Lebendig wird so eine Ausstellung erst, wenn diese Vielfalt erscheint. Davon sind wir noch weit entfernt.
Die Ausstellung ist klein und mündet, bevor sie die Geschichte der Vertreibungen im 20.Jahrhundert in Form von Texten darstellt — in zwei Trachten: das Recht auf Heimat. Für die Nachgeborenen mag es Folklore sein, für die Damaligen ein Stück Trauer über Verlorenes — es bleibt ein Blick zurück. Und das macht dieses Recht ungewollt so fragwürdig. Sind es nicht viele Völker, die sich gegenseitig das Heimatrecht streitig machen würden? Und würde — einmal ganz abgesehen von der Diskussion über die Kriegsursachen — das Beharren darauf von einer Seite nicht erneut zu schweren Zerwürfnissen und neuen Feldseligkeiten führen? Die Ausstellung verwahrt sich gegen den Vorwurf, sie würde revanchistische Ressentiments nähren und neuen Nationalismus entfachen. Doch das "Recht auf Heimat" widerspricht dem, denn es impliziert das Recht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Die Vertriebenen von damals aber leben heute nicht mehr in Lagern, sie haben sich eine neue Existenz aufgebaut — eine andere Grundlage kann es für zukunftsgerichtete Politik nicht geben.

Deutsches Leid als Paradigma für Europa

Fragwürdig ist auch der Rahmen, in den die Vertreibung der Deutschen gestellt wird. Beide Ausstellungen beginnen nämlich nicht mit dieser, sondern mit dem Völkermord an den Armeniern und der Vertreibung der Griechen aus der Türkei. Bei ersterem ist die "gute Seite" eindeutig — umso fragwürdig ist die Parallele. Denn anders als bei den Deutschen war die Vertreibung der Armenier nicht die Folge ihrer eigenen Großmachtpolitik. Die Einebnung des Unterschieds verzerrt die Perspektive.
Im zweiten Beispiel wird die Geschichte auf den Kopf gestellt. Nichts informiert darüber, dass Griechenland 1920 den Krieg gegen die Türkei anzettelte, weil es den Versailler Vertrag so auslegte, dass er die Bildung eines "großgriechischen Nationalstaats" unter Einverleibung großer Teile der Türkei erlaubte; der Versailler Vertrag wollte die Türkei damals zwischen Griechenland, Armenien, Kurdistan, Italien sowie französischen und britischen Protektoraten aufteilen; für einen eigenständigen türkischen Staat sollte wenig mehr als eine kleine Region um Ankara bleiben. Es gibt auch nirgends einen Hinweis darauf, dass damals ebenso Türken aus Griechenland vertrieben wurden, wenn auch nicht so viele wie umgekehrt.
Die Verantwortung des Kolonialismus der Großmächte für Flucht und Vertreibung ist gewaltig, doch beide Ausstellungen verschweigen sie schamhaft. Am ehesten springt die Doppelzüngigkeit noch bei der BdV-Ausstellung ins Auge — denn diese endet u.a. mit dem Ausblick auf den Jugoslawienkrieg. Der Auslöser dieses Kriegs aber war die Zerlegung Jugoslawiens in verschiedene Nationalstaaten — und dies geschah unter dem Schlachtruf des "Selbstbestimmungsrechts der Völker" und maßgeblich auf deutsche Initiative. Anderes fehlt gänzlich, wie die Tausende Republikaner, die nach der Niederschlagung der spanischen Republik auf der Flucht vor der Franco-Diktatur ins Exil mussten. Die französische und britische Regierung waren daran nicht weniger schuld als die deutsche und italienische — und es war der Auftakt zum Zweiten Weltkrieg. Wie kann so ein Ereignis fehlen in Ausstellungen, die sich an eine "europäische" Geschichte der Vertreibungen heranwagen?
Es liegt auf der Hand, dass eine europäische Geschichte der Vertreibungen nicht anders zu schreiben ist denn als europäische Geschichte des Imperialismus und der Kriege seit der Gründung des Deutschen Reiches und der Berliner Konferenz von 1878. Das aber vermeiden beide Ausstellungen peinlich und picken sich "ihre Opfer" aus dem Zusammenhang. Der europäische Bezug überwindet deswegen auch an keiner Stelle die deutsch(national)e Sichtweise, im Gegenteil: beide Ausstellungen bleiben in ihr befangen und addieren die anderen Vertreibungen nur wie Fremdköper, ohne inneren Bezug zueinander.

Der zerbrochene Spiegel

Die Ausstellungen zu besuchen, ist frustrierend: Sie erzählen nichts, was durchschnittlich Gebildete nicht schon wüssten, sie erklären nichts und sie haben kaum eine Botschaft. Das Recht auf Heimat in der BdV-Ausstellung ist nur noch ein Trachtenkleid; in der DHM-Ausstellung fehlt die Message gänzlich, sie entlässt den Besucher verwirrter als er hineingegangen ist.
Anders als beim BdV kommen Zeitzeugen hier ausführlich zu Wort und der zeitgeschichtliche Hintergrund wird parallel dazu aufgearbeitet. Aber die verschiedenen Phasen und Aspekte sind nicht miteinander verbunden; der NS-Propagandafilm steht beziehungslos neben späteren Dokumenten. Am deutlichsten wird dies an der Darstellung des BdV selbst. Dessen revanchistische Propaganda steht ungerührt neben Willi Brandts Ostpolitik, als sei beides zusammen möglich gewesen, und am Schluss spürt man zwar eine gewisse Erleichterung darüber, dass die Geschichte auf der Seite Brandts stand und nicht auf der Seite von Hupka (oder Strauß), aber irgendwie ist es vom Himmel gefallen, ohne so recht eigenes Zutun, und der BdV wird dennoch geehrt, dass er das Recht auf Heimat hochgehalten hat, obwohl es ein Rohrkrepierer der Geschichte war, und die DDR wird eingestampft, weil sie mit dem Görlitzer Vertrag die Oder-Neiße-Grenze schon 1950 anerkannt hat.
Die DHM-Ausstellung versucht, an allen Existenzlügen der (West-)BRD festzuhalten und sie gleichzeitig hinter sich zu lassen, weil die Geschichte nun mal anders ausgegangen ist. Den Vorwurf des heimlichen Revanchismus kann man ihr nicht machen, wohl aber den Vorwurf, ein hoffnungslos fragmentiertes Geschichtsbild zu übermitteln, das nur deshalb wahrscheinlich wenig Schaden anrichtet, weil es niemand versteht.
Der Begleitband zur Ausstellung ist deutlich besser und durchaus lesenswert, aber er verfängt sich in denselben Widersprüchen.
Auch in diesem Fall könnte eine wirklich europäische Perspektive helfen, die Dinge gerade zu rücken. Wie wäre es damit: Man findet aus ein- und demselben Dorf in Polen einen antifaschistischen Volksdeutschen, einen aus dem Reich umgesiedelten Nazi-Anhänger, einen Rotarmisten, einen umgesiedelten Ostpolen und einen Vertreter der neuen polnischen Verwaltung — lässt sie erzählen und bringt ihre Geschichten in einen Zusammenhang? Da prallen Welten aufeinander. Wenn wir das dargestellt kriegen, können einige Wunden, die das 20.Jahrhundert geschlagen hat, wieder heilen.

Angela Klein

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