SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2006, Seite 18

Die Linke verändern

Daniel Bensaïd diskutiert linke Bewegungen und Strategien

Daniel Bensaïd: Eine Welt zu verändern. Bewegungen und Strategien, Münster: Unrast, 2006, 182 Seiten, 13 Euro

Seit sich die Globalisierung in der zweiten Hälfte der 90er Jahre militärisch bewaffnet hat, um reale und eingebildete Gegner ihrer Politik in Schranken zu halten, um die Gewinne des neoliberalen Marktregimes zu privatisieren und dessen Kosten zu sozialisieren, seit sich also die Konturen des neuen weltweiten Kapitalismus zunehmend deutlicher abzeichnen, hat auch die politische Theoriediskussion einen neuen Aufschwung genommen. Bewegung braucht Strategien, und so kommen Kontroversen wieder zum Vorschein, die, so der französische Marxist Daniel Bensaïd, "seit Anfang der 80er Jahre verdrängt wurden".
Bensaïd glaubt an "das Recht und die Pflicht, neu zu beginnen, die zerrissenen Fäden der Emanzipation wieder aufzunehmen", und liefert in seinem Büchlein einen parteilich engagierten Überblick über linke Modetheorien, die er auf den kritischen Prüfstand eines revolutionären Sozialismus stellt und zumeist für zu schwach erachtet. Die Theorien postmoderner Subversion und die Auseinandersetzungen um Ökologie, Tierrechte, Differenz und Identität, die Arbeiten eines Alain Lipietz oder Hans Jonas, einer Judith Butler oder Nancy Fraser, eines Ted Benton oder Pierre Bourdieu werden kurz, aber treffend dargestellt.
Vor allem die neuen Modetheoretiker Hardt/Negri und John Holloway, mit denen sich Bensaïd ausführlich beschäftigt, versprechen einen Kampf gegen die Verdinglichungen und Entfremdungen des herrschenden Warenfetischs, den sie bei genauerer Betrachtung nicht halten, denn sie klammern die zentralen Fragen des Eigentums und, mehr noch, der politischen Transformationsstrategien aus: "In dem Schattentheater, in dem sich Multitude und Empire bekämpfen (die imperiale Reaktion und das permanente Begehren der Menschen), verschwindet die politische Vermittlung: nicht nur die Nationalstaaten, sondern auch die Parteien, Gewerkschaften, alle organisierten Formen des politischen Kampfes."
Überzeugend zeigt Bensaïd auf, dass gerade jene Theoretiker, die der marxistischen Tradition die Verkürzung der Politik auf das Soziale vorwerfen, selber in diese Falle tappen, da sie das Problem der politischen Vermittlung von Theorie und Praxis, die Dialektik von Zielen und Mitteln schlicht ignorieren oder auflösen und ihrerseits das Soziale und Politische zu eindimensional vermischen. Schlüssig zeigt Bensaïd auf, wie — nicht nur, aber vor allem — Hardt/Negri und Holloway in das Gegenteil dessen, was sie eigentlich wollen, in die Anti-Politik rutschen. Doch "man desertiert nicht kollektiv aus dem System. Entweder man erträgt es, resigniert oder entschließt sich, gegen es vorzugehen, um es zu brechen und es zu verändern."
Erfrischend auch, wie er in der Kritik der Genannten die Konturen einer zeitgemäßen Kapitalismuskritik entfaltet, wie er den strukturellen Determinismus des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital aufzeigt und die theoretische wie praktische Rolle des Klassenkampfs darstellt. Hier mischt sich eine erfrischende Orthodoxie mit der souveränen Bereitschaft, deren Aktualität in Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Theorieansätzen abzuklopfen.
Die unzeitgemäße Aktualität Lenins resultiere gerade daher, dass man sich nicht so leicht aus der warenbegeisterten Welt, vom Fluch ihrer ständigen Wiederholungen und ihrer blutigen Götter zu lösen imstande ist, wie dies die vielfältigen Fluchttheorien suggerieren. Die kapitalistische Welt ist nicht nur, aber in ihrem Zentrum vor allem eine Welt der Auseinandersetzung von Lohnarbeit und Kapital, eine Welt der Kämpfe, Krisen und Niederlagen. Und eine solche Welt ist vor allem eine Welt der Politik. In einer solchen Welt der Politik ist die (metaphorische) Partei Lenins nicht die Organisation von substitutionistischen Erziehungsdiktatoren des Weltgeistes, die den Subalternen heimleuchten.
In einer solchen Welt ist diese Partei Lenins vielmehr die kumulierte Erfahrung von Strategen politischer Beschleunigung, von Fluglotsen eines Klassenkampfs, der über die direkte Auseinandersetzung von Kapital und Arbeit hinaus in die Gesellschaft als Ganzes reicht: "Die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung", so Bensaïd, führe dazu, "sich der bürgerlichen Ideologie anzupassen. Die dominante Ideologie ist keine Manipulation des Bewusstseins, sondern die objektive Auswirkung des Warenfetischs. Man kommt aus dem Teufelskreis und seiner unfreiwilligen Knechtschaft nur durch eine revolutionäre Krise und durch den politischen Kampf der Parteien heraus. So lautet die leninistische Antwort auf das ungelöste marxsche Rätsel."
Es geht also um eine neue Einheit in der Vielfalt, eine Einheit, die politisch hergestellt und immer wieder erkämpft werden muss — ohne Siegesgewissheit, aber auch ohne geschichtsphilosophische Resignation. Und weil der Kampf zwar kein willkürlicher, wohl aber ein politisch offener ist, dessen Wege und Ziele im Voraus nur annähernd zu bestimmen sind, lasse sich die aktuelle Tagesordnung auch nur in groben Linien aufzeigen.
Als die großen, zentralen Forderungen eines solchen neuen Internationalismus propagiert Bensaïd die entschiedene und unerbittliche Opposition gegen den internationalen und nationalen neoliberalen Sozialkahlschlag, gegen das neoliberale Maastricht- Europa und die bewaffnete Globalisierung; den umfassenden Kampf für soziale Rechte (vor allem in Fragen von Arbeit, Gesundheit, Bildung und Wohnen); und eine umfassende und radikale Demokratisierung der Gesellschaften. Das dazu notwendige politische Mittel ist ihm ein breites soziales Bündnis, "das alle Kräfte gegen den Despotismus des Kapitals und den imperialen Militarismus vereint", eine "strategische Neugründung der antikapitalistischen und alternativen Kräfte, die entschlossen sind, die Linke zu verändern, um die Welt zu verändern" und die bereits sind zu taktischen Bündnissen gegen die radikale Rechte. Das mag nicht viel sein — mehr als Hardt/Negri und Holloway bieten ist es allemal.
P.S.: Im Vorwort zum Buch zeigt sich die deutsche Übersetzerin davon beeindruckt, dass Bensaïds Arbeiten auf besondere Weise Theorie und Praxis verbinden, dass er als Philosoph Teil einer politischen Strömung (der LCR) sei, die "sowohl militant antifaschistisch agiert, als auch in Gewerkschaften und Betrieben verankert ist, einen undogmatischen Marxismus vertritt, theoretische Auseinandersetzungen um den Poststrukturalismus und eine sozialistische Ökologie genauso ernst nimmt wie die Parlamentswahlen, aber weiterhin von einer radikalen Veränderung, nicht nur der Produktionsverhältnisse, ausgeht". In der Tat macht dies den Reiz Bensaïds aus. Es handelt sich hier jedoch nicht, wie Elfriede Müller meint, um eine französische Besonderheit — auch und gerade in der englischsprachigen Welt finden sich viele vergleichbare Autoren —, sondern um eine deutsche. Und ein kleiner Aspekt dieser deutschen Krankheit ist der mangelnde Blick über das eigene linke Teil-Ghetto. Bensaïds Essay ist nicht, wie Müller behauptet, dessen erste deutsche Buchveröffentlichung, sondern die zweite. 2004 ist im Neuen ISP- Verlag das ebenfalls zu empfehlende Büchlein über "die Trotzkismen" erschienen. Dieser Fauxpas mindert jedoch nicht das verlegerische Verdienst des vorliegenden Bandes.

Christoph Jünke

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