SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2006, Seite 10

Mindestlohn

Kein Stundenlohn unter 10 Euro - Sonst bleibt man arm trotz Arbeit

Seit Januar dieses Jahres führen Ver.di und NGG eine gemeinsame Kampagne für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 7,50 Euro, schrittweise soll er auf 9 Euro angehoben werden. Nun will Müntefering in Absprache mit dem DGB 6 Euro durchsetzen.
Seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sind in den meisten europäischen Staaten die Reallöhne hinter der Produktivitätsentwicklung zurück geblieben, sodass der Anteil der Einkommen aus unselbständiger Arbeit am Volkseinkommen fast überall rückläufig ist — während der Anteil der Kapitaleinkommen steigt. Darin schlägt sich die massive Umverteilung von unten nach oben wieder, die alle Regierungen — nicht zuletzt durch ihre Politik der Steuergeschenke an die Reichen — betrieben haben.
Aber auch unter den abhängig Beschäftigten haben die Lohnunterschiede zugenommen — vor allem ist die Zahl derer, die im Niedriglohnbereich arbeiten, sprunghaft gestiegen. Der Zuwachs an Arbeitsplätzen in den letzten zehn Jahren geht so gut wie ausschließlich auf ihr Konto. In Deutschland arbeiteten laut einer WSI-Studie bereits 1997 36% aller Vollzeitbeschäftigten im Niedriglohnsektor — das waren fast 7,9 Millionen Menschen. 24% (5,3 Millionen) erhielten 1997 einen prekären Lohn ; 12% (2,6 Millionen)bekamen einen Armutslohn.
Der Niedriglohnbereich umfasst Armutslöhne — das sind Löhne unter 50% des durchschnittlichen Monatsbruttos bei Vollzeitbeschäftigung — und prekäre Löhne — das sind Löhne unter 75% des durchschnittlichen Monatsbruttos bei Vollzeitbeschäftigung.
Der durchschnittliche Monatslohn (der abhängig Beschäftigten) liegt derzeit bei 2884 Euro. Ein prekärer Lohn liegt unter 2163 Euro im Monat brutto, ein Armutslohn unter 1442 Euro — wohlgemerkt für einen Vollzeitjob.

Faktor Arbeitslosigkeit

Mehrere Faktoren erklären die rasante Zunahme des Niedriglohnbereichs seit den 90er Jahren. Der erste und wichtigste ist die seit gut 30 Jahren anhaltende und zunehmende Massenarbeitslosigkeit. Sie führt dazu, dass — auch im Bereich der Gewerkschaften — die Haltung sich verstärkt, Arbeit zu fast jedem Lohn sei besser als gar keine Arbeit. Seit die Gewerkschaften nach der Einführung der 35-Stunden-Woche um den Preis flexibler Arbeitszeiten das Thema Arbeitszeitverkürzung fallen gelassen haben, entwickeln sie keine eigene Antwort mehr auf die Massenarbeitslosigkeit.Die Propaganda der Unternehmer, niedrige Löhne schafften Arbeitsplätze, bleibt unbeantwortet.
In den 90er Jahren konnten diese ihre Forderungen deshalb Schritt für Schritt durchsetzen: Beschäftigungsverhältnisse wurden befristet, Leiharbeit verallgemeinert, sozial und tariflich nur unzureichend geschützte Mini- und Midijobs gesellschaftlich hoffähig und schließlich in Gestalt der 1-Euro-Jobs Arbeit fast zum Nulltarif angeboten.
Die gewerkschaftliche Kampagne für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns weicht dem Thema Massenarbeitslosigkeit weiter aus. Sie konzentriert sich darauf, in einem bestimmten Segment des Arbeitsmarkts, nämlich bei den Vollzeitbeschäftigten, einen Damm einzuziehen. Deren Löhne können dem Erosionsdruck der Massenarbeitslosigkeit nicht standhalten. Das WSI hat berechnet, dass es (immer bezogen auf 1997) in 130 Tarifbereichen Tätigkeiten bzw. Tarifgruppen unter 6 Euro Stundenlohn gab. Zugleich ist die Zahl derer gestiegen, die völlig ohne den Schutz eines Tarifvertrags auskommen müssen — im Westen auf 30%, im Osten auf 45% der Beschäftigten. Sie müssen ihren Arbeitslohn individuell mit dem Arbeitgeber aushandeln. Die Bedeutung der Gewerkschaften als ein Kartell, das durch monopolistische Organisierung dafür sorgt, dass der Preis der Ware Arbeitskraft so hoch wie möglich getrieben wird, sinkt rapide.

Die Gewerkschaften

Dies mag einige Vorstände zum Umdenken veranlasst haben. Denn noch der 17.DGB-Bundeskongress im Jahr 2002 wehrte die Forderung von Ver.di und der IG BAU nach Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ab. Die Mehrzahl der Gewerkschaften argumentierte damals, Löhne und Gehälter würden in Tarifverträgen geregelt, ein gesetzlicher Mindestlohn stelle einen Eingriff in die Tarifautonomie dar. Wortführerin war die IG Metall, deren Vertreter zur Begründung dieser Position u.a. ausführten, der damals von der NGG (für eine Vollzeitbeschäftigung) geforderte Mindestlohn von 1500 Euro brutto läge über einigen Tarifen im Metallhandwerk (vgl. SoZ 7/02).
Dabei blieb es jedoch nicht. Im DGB wurde eine Arbeitsgruppe eingerichtet und es gab zwischen den Einzelgewerkschaften eine intensive Debatte mit dem Ziel, eine gemeinsame Position zu formulieren. Der auf dem DGB-Kongress im Mai 2006 erzielte gemeinsame Nenner sieht nun wie folgt aus:
Alle Gewerkschaften erachten einen Mindestlohn für erforderlich. Sie schlagen jedoch unterschiedliche Wege dahin ein:
Ver.di und NGG haben eine gemeinsame Kampagne zur Durchsetzung eines gesetzlichen Mindestlohns gestartet, wobei sich in der Festlegung der Höhe Ver.di durchgesetzt hat: die gemeinsame Forderung beläuft sich nun auf einen Brutto- Stundenlohn von 7,50 Euro.
Die IG BAU fordert eine Ausweitung des Entsendegesetzes. Sie hat mit den Bau-Arbeitgebern Mindestlöhne ausgehandelt und will vor allem vermeiden, dass ausländische Beschäftigte zu ihren Heimatlöhnen hier arbeiten.
Die IG Metall fordert eine gesetzliche Untergrenze für niedrige Tariflöhne und tariffreie Bereiche sowie die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit für die untersten Branchentariflöhne.
Die Linksfraktion im Bundestag fordert einen gesetzlichen Mindestlohn von 8 Euro die Stunde. Die SPD erwägt, wenn überhaupt, einen Mindestlohn von 6 Euro; die CDU/CSU 4,50 Euro; die FDP lehnt ihn gänzlich ab.

Mindestlohn und Armutsgrenze

Bei einer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit von 38,5 Stunden bringt nachstehender Stundenlohn folgenden Monatslohn (brutto/netto bei Steuerklasse I):
10,00 Euro: 1670 Euro (Erwerbslose)
9,00 Euro: 1500 Euro (NGG, WASG)
8,80 Euro: 1479 Euro
Armutslohn: 1442 Euro
8,38 Euro: 1400/992 Euro (LPDS)
8,00 Euro: 1334/963 Euro (Die Linke im Bundestag)
7,50 Euro: 1250/917 Euro (Ver.di, NGG)
6,00 Euro: 1000/768 Euro (SPD, DGB?)
1961 forderte die Europäische Sozialcharta des Europarats, die in Turin auch von der Bundesrepublik unterzeichnet wurde, kein Lohn dürfe unter 68% des Durchschnittslohns liegen — das wären 11,90 Euro — das Doppelte von dem, was Müntefering jetzt durchsetzen will! Das ist der Fortschritt, den uns der Kapitalismus in den letzten 40 Jahren gebracht hat.
Ein Bruttostundenlohn von 8 Euro, den die Linke im Bundestag jetzt fordert, liegt netto noch unterhalb der Pfändungsfreigrenze von 990 Euro. Diese Freigrenze definiert in der bürgerlichen Rechtsprechung das Einkommen, das nicht verpfändet werden darf, weil man es zum Leben braucht. In einigen Berechnungen wird sie deshalb auch als Armutsgrenze (auch ohne Arbeit) angeführt. Die EU definiert die Armutsgrenze anders (60% des Nettoäquivalenzeinkommens) und kommt auf 730 Euro. Zum Vergleich: ALG II führt bei Singles zu einer monatliche Stütze um die 660 Euro.
Die Zahlen belegen: Sowohl die Gewerkschaften als auch beide Linksparteien haben bereits stillschweigend akzeptiert, dass der Mindestlohn allmählich auf die Armutsgrenze gedrückt wird. Damit werden Mindestlöhne aber nicht armutsfest gemacht. Denn wenn schon der Lohn auf der Armutsgrenze liegt, zwischen Mindestlohn und Sozialhilfe aber ein Lohnabstand liegen soll, kann das nur bedeuten, dass die Sozialhilfe (das ALG II) weit unter die Armutsgrenze rutscht — und die Löhne früher oder später nach sich zieht. Das entspricht exakt den Bemühungen der Bundesregierungen, das Niveau von ALG II abzusenken.
Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Armutsgrenze, die unabhängig von der Erwerbsarbeit definiert ist, muss für Transferleistungen gelten, und der Mindestlohn muss deutlich darüber liegen.

Eine lahme Kampagne

Mit Unterschriftensammlungen, Plakataktionen, Demonstrationen und Kremser Touren sind seit Monaten Ver.di-Aktive unterwegs, um Bevölkerung und Politiker zu sensibilisieren.
Müntefering reagierte mit der Ankündigung, das Entsendegesetz auf die Gebäudereiniger auszudehnen (850000 Beschäftigte). Ein gleichlautender Vorstoß in Richtung Zeitarbeitsfirmen (450000 Beschäftigte) wurde vom Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister, der als einziger einen Tarifvertrag mit dem Christlichen Gewerkschaftsbund hat, ausgebremst.
Am 13.9. berichtete die Berliner Zeitung jedoch, SPD und Gewerkschaften hätten sich auf ein Konzept zur Einführung von Mindestlöhnen verständigt. Danach sollten die Tarifparteien zunächst versuchen, Mindestlöhne für ihre Branchen zu beschließen und das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf alle Bereiche der Wirtschaft ausdehnen. Sollte dies nicht möglich sein bzw. die Tarifverträge ein bestimmtes Niveau unterschreiten, solle in einem weiteren Schritt ein "einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn" eingeführt werden.
Dessen Höhe soll "eigenständige Existenzsicherung bei Vollzeitbeschäftigung gewährleisten" (das bedeutet wohl, dass es nach Münteferings Vorstellungen ein Recht auf Existenzsicherung ohne Vollzeitbeschäftigung nicht gibt!) und mit Mindestlöhnen in Nachbarländern vergleichbar sein. Den Vorstellungen der SPD zufolge sind das 6 Euro — wie es aussieht, hat sich der DGB darauf eingelassen. Hochgerechnet auf eine 38,5-Stunden-Woche ist das ein Bruttomonatslohn von 1000 Euro.
Der Zwei-Stufen-Plan wurde dem Bericht zufolge von einer Projektgruppe unter Leitung von Andrea Nahles erarbeitet. Müntefering hatte bis spätestens November eine Verständigung innerhalb der Bundesregierung auf Eckpunkte zur Neuregelung des Niedriglohnsektors angekündigt.

Mindestlohn in Europa

In 18 der 25 EU-Mitgliedstaaten gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn, die BRD gehört nicht dazu, sie gehört zu den Ausnahmen. In Frankreich, Großbritannien, Luxemburg, Belgien und den Niederlanden liegt der gesetzliche Mindestlohn zwischen 7 Euro und 8,50 Euro — Deutschland wäre selbst mit 7,50 Euro noch absolutes Schlusslicht. In Portugal, Spanien und Griechenland liegt er zwischen 2,50 und 4 Euro; in den Staaten Mittel- und Osteuropas unter 1,50 Euro.
Die Charta der Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989, ebenfalls von der BRD ratifiziert, fordert das "Recht auf ein angemessenes Entgelt". Die EU-Kommission forderte 1993 noch die Mitgliedstaaten auf, "geeignete Maßnahmen zu ergreifen um sicherzustellen, dass das Recht auf ein angemessenes Arbeitsentgelt geschützt wird", ähnlich äußerte sich damals das Europaparlament. Erste Zielmarke sollten 50% des nationalen Durchschnittslohns sein.
Mit diesen Pfunden wuchert der DGB nicht. Es sieht ganz danach aus, als wollte sich er wieder auf einen faulen Kompromiss einlassen, um einen Erfolg zu verkaufen, wo keiner ist. Den Demonstrationen am 21.Oktober wäre damit einmal mehr ein Zahn gezogen.
Alle Menschen in diesem Land aber, die nicht trotz Arbeit arm bleiben wollen, sollten diese Demonstrationen nutzen, um lautstark andere Forderungen zur Geltung zu bringen: Kein Stundenlohn unter 10 Euro! Erhöhung des Regelsatzes für ALG II auf 500 Euro! 30-Stunden-Woche!

Angela Klein

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