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Am 13.September begann im Senat, dem "Oberhaus" des
französischen Parlaments, die Debatte um den Gesetzentwurf zur Strafrechtsreform und zur
"Kriminalitätsprävention". Der im Juni dieses Jahres durch Innenminister Nicolas
Sarkozy präsentierte Text war zuvor durch die Nationalversammlung, also das "Unterhaus",
verabschiedet worden.
Im Moment trägt der Text noch einen
Kompromisscharakter, vor dem Hintergrund der Konfliktlinien innerhalb des regierenden bürgerlich-
konservativen Blocks. An einigen Punkten hat der amtierende Premierminister Dominique de Villepin
Verschärfungen blockiert, die sein Innenminister und Rivale Sarkozy der Parteichef der
regierenden UMP und mutmaßliche konservative Präsidentschaftskanditat im kommenden April
gefordert hatte. Dies bedeutet, dass weitere Verschärfungen im Falle eines entsprechenden Ausgangs der
Präsidentschaftswahl, und der ihnen um einige Wochen folgenden Parlamentswahlen, nicht ausgeschlossen
sind.
So hatte Nicolas Sarkozy im Vorfeld
gefordert, das Jugendstrafrecht ab dem Alter von 16 Jahren völlig abzuschaffen und 16- oder 17-
jährige Straftäter künftig automatisch dem Erwachsenenrichter zu unterstellen. "Die
1945 eingeführte Jugendgerichtsbarkeit ist nicht mehr zeitgemäß, wenn Sie einen 1,90 Meter
großen Lulatsch vor sich stehen haben, der Wiederholungstäter ist", tönte Sarkozy im
Mai dieses Jahres. Doch an diesem Punkt hat er sich vorläufig nicht durchsetzen können
Dennoch enthält der Gesetzentwurf, so
wie er in einigen Wochen in Kraft treten dürfte, brisante Punkte. Repressive Mabnahmen, die besonders
von dem betroffenen Berufsstand der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter angeprangert werden und zur
Gründung von Protestgruppen unter dem Titel "Collectif anti-délation" (Kollektiv gegen
Denunzierung) geführt haben. So sieht der Text vor, das Berufsgeheimnis für Sozialarbeiter
faktisch aufzuheben.
Bisher zählte es zu den Grundlagen
dieses Berufsstands, dass ein Vertrauensverhältnis zu den von ihnen betreuten Personen geschaffen
werden konnte indem sicher gestellt war, dass individuelle Daten sog. "Problempersonen"
vertraulich behandelt und nicht den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt würden.
Ferner sollen die Bürgermeister künftig verstärkt repressive Gewalt zuerteilt bekommen.
Sie sollen etwa Zugang zu allen Daten von "sensiblen Gruppen", die durch sozialarbeiterisch
tätige Personen betreut werden, bekommen. Gleichzeitig werden sie künftig über die
Streichung von familienbezogenen Sozialleistungen wie insbesondere Kindergeld oder Schulbeihilfen
entscheiden können, wenn sie auf diesem Wege Kenntnis davon erhalten, dass Kinder oder
Jugendliche aus "sozialen Problemfamilien" straffällig geworden sind oder zu häufig die
Schule schwänzen. Kritiker befürchten, dass damit lokale Amtsträger, vor allem in sensiblen
Vorwahlperioden, ein enormes Druckmittel an die Hand bekommen.
Und während wirtschaftliche
Grundfragen, die die gesamte Bevölkerung eines Gebiets betreffen können,durch den zunehmenden
Rückzug des Staates aus Belangen der Ökonomie "entpolitisiert" und zur Frage privater
Initiative erklärt werden, geht die Regierungspolitik anscheinendbei den sensiblen Fragen betreffend
soziale "Problemgruppen" den umgekehrten Wege: In diesem Zusammenhang werden auch individuelle,
personenbezogene Daten und Fragen "politisiert", also zum potenziellen Gegenstand bspw. von
kommunalpolitischen Kampagnen oder Wahlkämpfen erhoben.
Drei Jahre lang war an dem Gesetzentwurf
gearbeitet worden, der im Zentrum der konservativen Politik für diese Legislaturperiode zu stehen
schien. Er hatte vorab auch zur Erstellung mehrerer, äußerst umstrittener Untersuchungsberichte
gedient, die bei der Ausarbeitung des Gesetzestextes als Grundlage dienen sollten.
Im Spätherbst 2004 war etwa der
"Rapport Benisti" vorgelegt worden, benannt nach dem konservativen Abgeordneten Jacques-Alain
Benisti, der einen Wahlkreis in der südöstlichen Pariser Banlieue im Parlament vertritt. In
diesem vielerorts heftig kritisierten Bericht wurde behauptet, bei Kindern bereits ab dem Alter von zwei
Jahren eine "Kurve abweichenden Verhaltens" aufzeigen zu können, die später zu
Kriminalität und Straffälligkeit führe.
Als besonders kriminogener Faktor im
frühkindlichen Alter wurde hervorgehoben, dass es zu solcherart das Straffälligkeitsrisiko
steigerndem Verhalten führe, wenn im Elternhaus eine andere Sprache als Französisch gesprochen
werde. Denn die Kids würden dadurch ja daran gewöhnt, dass sie im Kindergarten oder in der
Schule, zusätzlich zur französischen Sprache, noch einen anderen und für die übrigen
Kinder unverständlichen Geheimcode nämlich ihre Muttersprache zum Kommunizieren
benutzen könnten. Dadurch aber erlernten sie es, dass sie vor ihren Altersgenossen und, oh Schreck,
ihren Lehrern etwas verbergen könnten.
Dieser Rapport über die hoch
gefährlichen Kids wurde vielfach von Sozialarbeitern, Erziehern, Justizmitarbeitern und anderen
Beobachtern als pure Stigmatisierung von Immigranten und anderen gesellschaftlichen Gruppen angeprangert.
Die extreme Rechte in Gestalt des Front National hatte dem Benisti-Untersuchungsbericht allerdings explizit
und lautstark applaudiert, u.a. in ihrer Wochenzeitung National Hebdo vom 16.Februar 2005, die über
den Rapport schrieb, er schlage "Maßnahmen im Sinne des gesunden Menschenverstands" vor.
Später, im Dezember 2005, legte das psychosoziale und medizinische Forschungsinstitut INSERM einen
weiteren, von Sarkozy bestellten Untersuchungsbericht zum Thema vor. Auch hier wollten die Autoren bei
Kleinkindern ab drei Jahren bereits zu späterer Kriminalität führendes, abweichendes
Verhalten ausfindig machen können. In diesem Falle ging es vor allem um kindliche
Überaktivität, Konzentrationsstörungen und ähnliche Dinge, und im Hintergrund schien
die Lobby der Pharma- und Chemieindustrie ihre Interesse geltend zu machen, da vor allem auf die
Verabreichung von Medikamenten als angebliche Lösung abgestellt wurde.
In seinem ursprünglich vorgelegten
Gesetzesvorentwurf hatte Innenminister Sarkozy ebenfalls eine Maßnahme vorgesehen, die zu
Reihenuntersuchungen bei Kindern im Vorschul- und Schulalter mit drei und sechs Jahren führen sollte.
Sie schien den Geist der vorab zu dem Thema erstellten Untersuchungsberichte zu atmen. Doch auch hier
verhinderte das Machtwort von Premierminister Dominique de Villepin zunächst das Schlimmste, auch wenn
es vielleicht nur durch die Rivalität zwischen beiden Politikern die alle beide gern der
nächste französische Präsident wären motiviert war.
Bernhard Schmid, Paris
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