SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2006, Seite 17

Frankreich

Zweijährige unter Verdacht . Das neue Gesetz zur "Kriminalitätsprävention"

Am 13.September begann im Senat, dem "Oberhaus" des französischen Parlaments, die Debatte um den Gesetzentwurf zur Strafrechtsreform und zur "Kriminalitätsprävention". Der im Juni dieses Jahres durch Innenminister Nicolas Sarkozy präsentierte Text war zuvor durch die Nationalversammlung, also das "Unterhaus", verabschiedet worden.
Im Moment trägt der Text noch einen Kompromisscharakter, vor dem Hintergrund der Konfliktlinien innerhalb des regierenden bürgerlich- konservativen Blocks. An einigen Punkten hat der amtierende Premierminister Dominique de Villepin Verschärfungen blockiert, die sein Innenminister und Rivale Sarkozy — der Parteichef der regierenden UMP und mutmaßliche konservative Präsidentschaftskanditat im kommenden April — gefordert hatte. Dies bedeutet, dass weitere Verschärfungen im Falle eines entsprechenden Ausgangs der Präsidentschaftswahl, und der ihnen um einige Wochen folgenden Parlamentswahlen, nicht ausgeschlossen sind.
So hatte Nicolas Sarkozy im Vorfeld gefordert, das Jugendstrafrecht ab dem Alter von 16 Jahren völlig abzuschaffen und 16- oder 17- jährige Straftäter künftig automatisch dem Erwachsenenrichter zu unterstellen. "Die 1945 eingeführte Jugendgerichtsbarkeit ist nicht mehr zeitgemäß, wenn Sie einen 1,90 Meter großen Lulatsch vor sich stehen haben, der Wiederholungstäter ist", tönte Sarkozy im Mai dieses Jahres. Doch an diesem Punkt hat er sich vorläufig nicht durchsetzen können
Dennoch enthält der Gesetzentwurf, so wie er in einigen Wochen in Kraft treten dürfte, brisante Punkte. Repressive Mabnahmen, die besonders von dem betroffenen Berufsstand der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter angeprangert werden und zur Gründung von Protestgruppen unter dem Titel "Collectif anti-délation" (Kollektiv gegen Denunzierung) geführt haben. So sieht der Text vor, das Berufsgeheimnis für Sozialarbeiter faktisch aufzuheben.
Bisher zählte es zu den Grundlagen dieses Berufsstands, dass ein Vertrauensverhältnis zu den von ihnen betreuten Personen geschaffen werden konnte — indem sicher gestellt war, dass individuelle Daten sog. "Problempersonen" vertraulich behandelt und nicht den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt würden.

Neue Macht für die Bürgermeister

Ferner sollen die Bürgermeister künftig verstärkt repressive Gewalt zuerteilt bekommen. Sie sollen etwa Zugang zu allen Daten von "sensiblen Gruppen", die durch sozialarbeiterisch tätige Personen betreut werden, bekommen. Gleichzeitig werden sie künftig über die Streichung von familienbezogenen Sozialleistungen — wie insbesondere Kindergeld oder Schulbeihilfen — entscheiden können, wenn sie auf diesem Wege Kenntnis davon erhalten, dass Kinder oder Jugendliche aus "sozialen Problemfamilien" straffällig geworden sind oder zu häufig die Schule schwänzen. Kritiker befürchten, dass damit lokale Amtsträger, vor allem in sensiblen Vorwahlperioden, ein enormes Druckmittel an die Hand bekommen.
Und während wirtschaftliche Grundfragen, die die gesamte Bevölkerung eines Gebiets betreffen können,durch den zunehmenden Rückzug des Staates aus Belangen der Ökonomie "entpolitisiert" und zur Frage privater Initiative erklärt werden, geht die Regierungspolitik anscheinendbei den sensiblen Fragen betreffend soziale "Problemgruppen" den umgekehrten Wege: In diesem Zusammenhang werden auch individuelle, personenbezogene Daten und Fragen "politisiert", also zum potenziellen Gegenstand bspw. von kommunalpolitischen Kampagnen oder Wahlkämpfen erhoben.
Drei Jahre lang war an dem Gesetzentwurf gearbeitet worden, der im Zentrum der konservativen Politik für diese Legislaturperiode zu stehen schien. Er hatte vorab auch zur Erstellung mehrerer, äußerst umstrittener Untersuchungsberichte gedient, die bei der Ausarbeitung des Gesetzestextes als Grundlage dienen sollten.
Im Spätherbst 2004 war etwa der "Rapport Benisti" vorgelegt worden, benannt nach dem konservativen Abgeordneten Jacques-Alain Benisti, der einen Wahlkreis in der südöstlichen Pariser Banlieue im Parlament vertritt. In diesem vielerorts heftig kritisierten Bericht wurde behauptet, bei Kindern bereits ab dem Alter von zwei Jahren eine "Kurve abweichenden Verhaltens" aufzeigen zu können, die später zu Kriminalität und Straffälligkeit führe.
Als besonders kriminogener Faktor im frühkindlichen Alter wurde hervorgehoben, dass es zu solcherart das Straffälligkeitsrisiko steigerndem Verhalten führe, wenn im Elternhaus eine andere Sprache als Französisch gesprochen werde. Denn die Kids würden dadurch ja daran gewöhnt, dass sie im Kindergarten oder in der Schule, zusätzlich zur französischen Sprache, noch einen anderen und für die übrigen Kinder unverständlichen Geheimcode — nämlich ihre Muttersprache — zum Kommunizieren benutzen könnten. Dadurch aber erlernten sie es, dass sie vor ihren Altersgenossen und, oh Schreck, ihren Lehrern etwas verbergen könnten.
Dieser Rapport über die hoch gefährlichen Kids wurde vielfach von Sozialarbeitern, Erziehern, Justizmitarbeitern und anderen Beobachtern als pure Stigmatisierung von Immigranten und anderen gesellschaftlichen Gruppen angeprangert. Die extreme Rechte in Gestalt des Front National hatte dem Benisti-Untersuchungsbericht allerdings explizit und lautstark applaudiert, u.a. in ihrer Wochenzeitung National Hebdo vom 16.Februar 2005, die über den Rapport schrieb, er schlage "Maßnahmen im Sinne des gesunden Menschenverstands" vor.

Stigmatisierung

Später, im Dezember 2005, legte das psychosoziale und medizinische Forschungsinstitut INSERM einen weiteren, von Sarkozy bestellten Untersuchungsbericht zum Thema vor. Auch hier wollten die Autoren bei Kleinkindern ab drei Jahren bereits zu späterer Kriminalität führendes, abweichendes Verhalten ausfindig machen können. In diesem Falle ging es vor allem um kindliche Überaktivität, Konzentrationsstörungen und ähnliche Dinge, und im Hintergrund schien die Lobby der Pharma- und Chemieindustrie ihre Interesse geltend zu machen, da vor allem auf die Verabreichung von Medikamenten als angebliche Lösung abgestellt wurde.
In seinem ursprünglich vorgelegten Gesetzesvorentwurf hatte Innenminister Sarkozy ebenfalls eine Maßnahme vorgesehen, die zu Reihenuntersuchungen bei Kindern im Vorschul- und Schulalter mit drei und sechs Jahren führen sollte. Sie schien den Geist der vorab zu dem Thema erstellten Untersuchungsberichte zu atmen. Doch auch hier verhinderte das Machtwort von Premierminister Dominique de Villepin zunächst das Schlimmste, auch wenn es vielleicht nur durch die Rivalität zwischen beiden Politikern — die alle beide gern der nächste französische Präsident wären — motiviert war.

Bernhard Schmid, Paris

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