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Der
Bundesstaat Kerala am Südzipfel des indischen Subkontinents ist mehr als nur ein weltweit bekannter
Touristenmagnet. Er war auch Schauplatz einer Weltpremiere: 1957 siegte dort erstmals die CPI (Communist
Party of India) bei demokratischen Wahlen. Seitdem stellen die CPI bzw. die CPI(M) (Communist Party of
India (Marxist)) immer wieder die Regierung, abwechselnd mit der Kongresspartei.
Später galt der Bundesstaat in
entwicklungspolitischen Fachkreisen als Beleg dafür, dass "Entwicklung" gerade dann
funktioniert, wenn sie nicht an den engen Regeln des "Washington Consensus" von 1990,
nämlich Haushaltsdisziplin, Privatisierung, Senkung der Steuersätze und Liberalisierung der
Handelspolitik, ausgerichtet ist.
In Kerala ging man andere Wege. So sind bis
heute viele Betriebe noch in staatlicher Hand, u.a. ein Elektronikkonzern und eine Chemiefabrik. Obwohl die
Arbeitslosenquote in Kerala hoch ist die Regierung beziffert sie auf mehr als 20% werden
für einfache Arbeiten in Kerala in der Regel höhere Löhne gezahlt als in anderen indischen
Bundesstaaten. Auch das Bildungsniveau ist höher, mehr als 90% der Bevölkerung können in
ihrer Landessprache Malayalam lesen und schreiben. Nirgendwo in Indien lesen mehr Menschen Zeitung; die
abendlichen Nachrichtensendungen, sowohl in den öffentlichen als auch privaten Sendeanstalten, dauern
eine Stunde. Dort kommen regelmäßig Vertreter sozialer Bewegungen in Hintergrundinterviews zu
Wort. Der politische Meinungsstreit in Kerala ist fundiert und reich an Argumenten.
Das öffentliche Gesundheitssystem gilt
als das beste in Indien. Deshalb ist auch die Lebenserwartung in Kerala am höchsten: Ein
männlicher Keralite wird im Durchschnitt 70 Jahre alt, das sind etwa zehn Jahre mehr als im restlichen
Indien. Viele Entwicklungsexperten sprachen in den 90er Jahren vom "Modell Kerala". Der
signifikante Anstieg der Lebensqualität fiel ausgerechnet in eine Zeit des geringen
Wirtschaftswachstums: In den 70er und 80er Jahren betrug es in Kerala nur zwischen 1 und 2%. Doch unter dem
Druck der Globalisierung ist auch das "Modell Kerala" in Gefahr.
"Inquilab Sindabad" rufen knapp einhundert Delegierte der mit der CPI verbundenen
Gewerkschaft AITUC im Andenken an die Genossen, die ihr Leben dem Kampf für die Errungenschaften des
"Modells Kerala" gewidmet haben. Die Gewerkschaft zählt neben einer weiteren,
konkurrierenden Gewerkschaft der CPI(M) die meisten Mitglieder im südindischen Bundesstaat
Kerala. Als die Gewerkschafter die rote Fahne hissen, ist die Eröffnungszeremonie der landesweiten
Gewerkschaftskonferenz zur Zukunft des staatlichen Stromversorgers beendet. Der schmucklose Konferenzraum
befindet sich in einem Betongebäude im Herzen Ernakulams, der wichtigsten Hafenstadt und
Wirtschaftsmetropole Keralas. Von den kahlen Innenwänden blättert die blassgrüne Farbe ab.
Die geplante Privatisierung der Stromversorgung, die noch von der alten hindunationalistischen
Zentralregierung 2003 mit einem Gesetz vorbereitet wurde, steht auf der Tagesordnung. Denn die neue
Kongress-Regierung in Neu-Delhi hat das Gesetz nicht verworfen, sondern betreibt jetzt die Umsetzung in den
einzelnen Bundesstaaten.
"Die gesamte Stromindustrie soll an
private Investoren verkauft werden", erklärt Najan Marilal. Er ist vom staatlichen Stromversorger
für seine Gewerkschaftsarbeit als Organisationssekretär freigestellt. Marilal befürchtet
gravierende Preiserhöhungen und verweist auf die Erfahrungen in anderen indischen Bundesstaaten.
"Das wird zum Schaden der ganzen Industrie, der Landwirtschaft und der Allgemeinheit sein",
fährt Marilal fort, "wir sind deshalb gegen diese Politik und müssen sicherstellen, dass die
Stromversorgung zum Wohle aller in den Händen des öffentlichen Sektors bleibt. Bei diesem Kampf
stehen wir in der vordersten Front", beteuert Marilal.
Der Mittzwanziger beruft sich auf die
Politik des ersten Premierministers im unabhängigen Indien. "Nehru wollte, dass die
Schlüsselindustrien in den Händen der Regierung bleiben und nicht dazu verwendet werden sollten,
Profit zu machen." Marilal ist zuversichtlich und fest davon überzeugt, "mit der
Unterstützung der Bevölkerung diesen Kampf zu gewinnen und die Regierung zu zwingen, ihre Politik
auf Kosten der Allgemeinheit zurückzunehmen".
In Ernakulam fällt manchmal mehrmals
am Tag der Strom aus. Dann bricht im Zentrum, das direkt an der Küste liegt, ohrenbetäubender
Lärm aus. Viele Einzelhändler und Büros haben sich benzinbetriebene Generatoren angeschafft,
die den Stromengpass überwinden helfen. Am Hafenbecken von Cochin so heißt die
vorgelagerte Halbinsel reiht sich auf der Festlandseite ein neues Hochhaus an das andere. Die
meisten sind in den vergangenen 15 Jahren gebaut worden, gelten als Zeichen des wirtschaftlichen Erfolgs,
und einige haben sogar ein eigenes, generatorbetriebenes Stromnetz, das die Haushalte versorgt. Dennoch
strapazieren die regelmäßigen Stromausfälle die Geduld vieler Einwohner vor allem
derjenigen, die sich keine Generatoren leisten können. Die Privatisierungsbefürworter sagen, es
läge an den vielen illegalen Anschlüssen, manche machen auch die Arbeiter des staatlichen
Stromversorgers verantwortlich, die besonders faul seien. So wird Stimmung gemacht für die
Privatisierung.
"Es gibt einige Probleme mit dem
staatlichen Stromversorger, aber die können überwunden werden", resümiert Jakob Lazor,
der als leitender Angestellter für den staatlichen Stromversorger in Kerala arbeitet. "Wir
brauchen bessere Prüfmethoden, denn wir warten das Stromnetz mit völlig veralteter Technik",
erklärt der Fachmann. "Wenn die ausgetauscht würde, könnten wir ununterbrochen Strom
zur Verfügung stellen. Aber wir fragen uns, ob die Regierung das überhaupt will."
Auf die im Bundesstaat regierende
Kongresspartei ist er nicht gut zu sprechen, weil sie die Privatisierung vorantreibt. Auch er ist Mitglied
der Gewerkschaft AITUC.
Seit 2002 wohnt Jakob Lazor mit seiner Familie in Kaloor, einem Stadtteil der Millionenstadt Ernakulam.
Die 80-m2-Wohnung hat er gekauft. Von den 12000 Rupien Monatsverdienst gehen 5000 für den Kredit ab,
den er in den nächsten Jahren abstottern muss. Besonders stolz ist Jakob Lazor darauf, dass er nun
endlich 24 Stunden am Tag fließendes Wasser hat, auch wenn die öffentliche Wasserversorgung nur
morgens und abends für wenige Stunden funktioniert. Dann wird der große, schwarze Tank, der auf
dem Dach des Hauses steht, aufgefüllt. Er sorgt dafür, dass auch am Rest des Tages Wasser aus der
Leitung läuft.
Wenn jemand zu Hause ist, steht die
Haustür seiner Wohnung im Erdgeschoss des sechsstöckigen Mehrfamilienhauses meistens offen. Seine
sechsjährige Tochter Hrishidha geht seit wenigen Monaten zur Schule, abends spielt sie mit den
Nachbarskindern. Im gleichen Haus wohnen auch zwei Brüder und die Mutter von Jakob Lazor. Der Nachbar
ist Musikredakteur bei der größten Tageszeitung, die in der Regionalsprache Malayalam erscheint.
Er ist ein gläubiger Hindu, ebenso wie Jakobs Frau Angema, die sich mit der Tochter des
Musikredakteurs angefreundet hat. Manchmal besuchen sie gemeinsam einen Tempel. "Ich glaube nicht an
Religion oder religiöse Zeremonien, ich bin Rationalist und Atheist", betont Jakob Lazor.
"Ich habe alles Religiöse abgelegt, und dennoch habe ich eine Hindu-Frau geheiratet. Unser Kind,
Hrishidha, gehört wie ich zu keiner Religionsgemeinschaft."
Die Grenzen zwischen den religiösen
Gemeinschaften sind in einigen Regionen Keralas weniger eng gezogen als woanders in Indien. Christen,
Moslems und Hindus leben im Stadtteil Kaloor auf engstem Raum beieinander. Manchmal geht die Tochter mit
ihrer Großmutter in die nahe Kirche. Und in direkter Nachbarschaft befindet sich ein muslimischer
Jugendclub. Jakob Lazor ist ein toleranter Atheist: "Ich kritisiere niemanden, der religiöse
Gefühle hat. Jeder kann überall hingehen, in die Kirche, in den Tempel, das ist mir völlig
egal."
Jakob Lazor hilft seiner Frau Angema in der
Küche, er macht den Abwasch, raspelt Kokusnüsse und bedient die neu angeschaffte Waschmaschine.
Angema Lazor arbeitet ebenfalls beim Stromversorger in Ernakulam und bringt im Monat 5000 Rupien mit nach
Hause. Aber auch das reicht nicht, um ein Auto, einen Computer oder einen Festnetzanschluss fürs
Telefon anzuschaffen und zu unterhalten. Der 38-jährige fährt einen Motorroller, das typische
Gefährt der indischen Mittelklasse. Die Kontakte für seine Aktivitäten bei der
Menschenrechtsorganisation PUCL, die Peoples Union for Civil Liberties, regelt er vor allem über
sein Handy oder besucht eines der zahlreichen Internet-Cafés der Stadt.
"Ich bin vor allem ein
Menschenrechtsaktivist deshalb kommt es manchmal zu Konflikten mit meiner Rolle als
Gewerkschafter", erzählt Jakob Lazor. Zum Beispiel im Fall von Coca-Cola. Wasser ist für
Jakob Lazor ein Menschenrecht. Deshalb engagiert er sich für die Adivasis, die indischen Ureinwohner,
die in unmittelbarer Nachbarschaft der größten indischen Coca-Cola-Abfüllanlage im
nahegelegenen Distrikt Palakkad leben und die seit deren Inbetriebnahme über vertrocknete Brunnen
klagen. Eine Million Liter Wasser verbrauchte der Softdrinkmulti nach Angaben der Kritiker täglich
bis ihm das Höchste Gericht in Kerala 2004 den Betrieb der Anlage untersagte und sie
zunächst stillgelegt werden musste.
"Die Arbeiter der Abfüllanlage
und ihre Gewerkschaft setzten sich dafür ein, dass sie sofort wieder in Betrieb genommen wird",
beschreibt Jakob Lazor den Konflikt, "aber ich bin der Überzeugung, dass sie nicht nur
stillgelegt, sondern ganz geschlossen werden soll. Das ist das Recht der Adivasis. Die Softdrinks werden
aus ihrem Blut gemacht."
Die Asienkrise an den Finanzmärkten in der zweiten Hälfte der 90er Jahre hat auch das
"Modell Kerala" in die Krise gestürzt. Die Verschuldung des Bundesstaats hat sich in den
vergangenen zehn Jahren mehr als verdreifacht, die Zinszahlungen an die privaten und öffentlichen
Kreditgeber machen mittlerweile den größten Haushaltsposten aus.
Die 2004 wiedergewählte Kongress-
Regierung will staatseigene Betriebe verkaufen, das nach den Zinszahlungen höchste Haushaltsbudget
für die Bildung reduzieren und Gebühren für öffentliche Dienstleistungen wie die
Gesundheitsversorgung erhöhen. 2004 hat die Regierung in Kerala außerdem erstmals einen externen
Kredit bei der Asian Development Bank in Höhe von 770 Millionen US-Dollar aufgenommen, einer
Weltbanktochter mit Sitz in Manila. Wirtschaftswissenschaftler wie Ravi Raman vom Centre for Development
Studies in Thiruvananthapuram, der Hauptstadt Keralas, kritisieren die Bedingungen der Kreditvergabe, die
sich am Washington Consensus orientieren. Sie befürchten weitere und noch tiefere Einschnitte in die
sozialen Netze, u.a. könnten der Gesundheits- und Bildungssektor völlig den Gesetzen der
Marktwirtschaft unterworfen werden. Das wäre das Ende des "Modells Kerala".
Vor dem Regierungssitz in
Thiruvananthapuram, einem in den dreißiger Jahren errichteten lang gezogenen Säulenbau, finden
täglich mehrere Demonstrationen statt. Jugendliche demonstrieren gegen Arbeitslosigkeit, Bauern gegen
Billigreisimporte, KP-Gewerkschafter gegen ein gerichtlich verhängtes Streikverbot, die Gewerkschaft
der Kongresspartei für höhere Löhne der Staatsbediensteten, Frauen gegen den
Industrieminister, der sich wegen einer mutmaßlichen Vergewaltigung verantworten muss. Diese
Demonstrationen sind nicht nur Bestandteil der allgemeinen Demokratiekultur in Kerala, sondern auch
Ausdruck der Krise, in die das Entwicklungsmodell geraten ist.
Gerhard Klas
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