SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2006, Seite 18

Kerala, Indien

Widerstand in Zeiten der Privatisierung

Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse 2006 und ihrem Schwerpunktthema Indien hat unser Mitarbeiter Gerhard Klas in der Hamburger Edition Nautilus das Buch Zwischen Verzweiflung und Widerstand. Indische Stimmen gegen die Globalisierung veröffentlicht. Wir veröffentlichen hier einen Auszug aus dem 6.Kapitel.


Der Bundesstaat Kerala am Südzipfel des indischen Subkontinents ist mehr als nur ein weltweit bekannter Touristenmagnet. Er war auch Schauplatz einer Weltpremiere: 1957 siegte dort erstmals die CPI (Communist Party of India) bei demokratischen Wahlen. Seitdem stellen die CPI bzw. die CPI(M) (Communist Party of India (Marxist)) immer wieder die Regierung, abwechselnd mit der Kongresspartei.
Später galt der Bundesstaat in entwicklungspolitischen Fachkreisen als Beleg dafür, dass "Entwicklung" gerade dann funktioniert, wenn sie nicht an den engen Regeln des "Washington Consensus" von 1990, nämlich Haushaltsdisziplin, Privatisierung, Senkung der Steuersätze und Liberalisierung der Handelspolitik, ausgerichtet ist.
In Kerala ging man andere Wege. So sind bis heute viele Betriebe noch in staatlicher Hand, u.a. ein Elektronikkonzern und eine Chemiefabrik. Obwohl die Arbeitslosenquote in Kerala hoch ist — die Regierung beziffert sie auf mehr als 20% — werden für einfache Arbeiten in Kerala in der Regel höhere Löhne gezahlt als in anderen indischen Bundesstaaten. Auch das Bildungsniveau ist höher, mehr als 90% der Bevölkerung können in ihrer Landessprache Malayalam lesen und schreiben. Nirgendwo in Indien lesen mehr Menschen Zeitung; die abendlichen Nachrichtensendungen, sowohl in den öffentlichen als auch privaten Sendeanstalten, dauern eine Stunde. Dort kommen regelmäßig Vertreter sozialer Bewegungen in Hintergrundinterviews zu Wort. Der politische Meinungsstreit in Kerala ist fundiert und reich an Argumenten.
Das öffentliche Gesundheitssystem gilt als das beste in Indien. Deshalb ist auch die Lebenserwartung in Kerala am höchsten: Ein männlicher Keralite wird im Durchschnitt 70 Jahre alt, das sind etwa zehn Jahre mehr als im restlichen Indien. Viele Entwicklungsexperten sprachen in den 90er Jahren vom "Modell Kerala". Der signifikante Anstieg der Lebensqualität fiel ausgerechnet in eine Zeit des geringen Wirtschaftswachstums: In den 70er und 80er Jahren betrug es in Kerala nur zwischen 1 und 2%. Doch unter dem Druck der Globalisierung ist auch das "Modell Kerala" in Gefahr.

Die rote Fahne gegen Privatisierung

"Inquilab Sindabad" — rufen knapp einhundert Delegierte der mit der CPI verbundenen Gewerkschaft AITUC im Andenken an die Genossen, die ihr Leben dem Kampf für die Errungenschaften des "Modells Kerala" gewidmet haben. Die Gewerkschaft zählt — neben einer weiteren, konkurrierenden Gewerkschaft der CPI(M) — die meisten Mitglieder im südindischen Bundesstaat Kerala. Als die Gewerkschafter die rote Fahne hissen, ist die Eröffnungszeremonie der landesweiten Gewerkschaftskonferenz zur Zukunft des staatlichen Stromversorgers beendet. Der schmucklose Konferenzraum befindet sich in einem Betongebäude im Herzen Ernakulams, der wichtigsten Hafenstadt und Wirtschaftsmetropole Keralas. Von den kahlen Innenwänden blättert die blassgrüne Farbe ab. Die geplante Privatisierung der Stromversorgung, die noch von der alten hindunationalistischen Zentralregierung 2003 mit einem Gesetz vorbereitet wurde, steht auf der Tagesordnung. Denn die neue Kongress-Regierung in Neu-Delhi hat das Gesetz nicht verworfen, sondern betreibt jetzt die Umsetzung in den einzelnen Bundesstaaten.
"Die gesamte Stromindustrie soll an private Investoren verkauft werden", erklärt Najan Marilal. Er ist vom staatlichen Stromversorger für seine Gewerkschaftsarbeit als Organisationssekretär freigestellt. Marilal befürchtet gravierende Preiserhöhungen und verweist auf die Erfahrungen in anderen indischen Bundesstaaten. "Das wird zum Schaden der ganzen Industrie, der Landwirtschaft und der Allgemeinheit sein", fährt Marilal fort, "wir sind deshalb gegen diese Politik und müssen sicherstellen, dass die Stromversorgung zum Wohle aller in den Händen des öffentlichen Sektors bleibt. Bei diesem Kampf stehen wir in der vordersten Front", beteuert Marilal.
Der Mittzwanziger beruft sich auf die Politik des ersten Premierministers im unabhängigen Indien. "Nehru wollte, dass die Schlüsselindustrien in den Händen der Regierung bleiben und nicht dazu verwendet werden sollten, Profit zu machen." Marilal ist zuversichtlich und fest davon überzeugt, "mit der Unterstützung der Bevölkerung diesen Kampf zu gewinnen und die Regierung zu zwingen, ihre Politik auf Kosten der Allgemeinheit zurückzunehmen".
In Ernakulam fällt manchmal mehrmals am Tag der Strom aus. Dann bricht im Zentrum, das direkt an der Küste liegt, ohrenbetäubender Lärm aus. Viele Einzelhändler und Büros haben sich benzinbetriebene Generatoren angeschafft, die den Stromengpass überwinden helfen. Am Hafenbecken von Cochin — so heißt die vorgelagerte Halbinsel — reiht sich auf der Festlandseite ein neues Hochhaus an das andere. Die meisten sind in den vergangenen 15 Jahren gebaut worden, gelten als Zeichen des wirtschaftlichen Erfolgs, und einige haben sogar ein eigenes, generatorbetriebenes Stromnetz, das die Haushalte versorgt. Dennoch strapazieren die regelmäßigen Stromausfälle die Geduld vieler Einwohner — vor allem derjenigen, die sich keine Generatoren leisten können. Die Privatisierungsbefürworter sagen, es läge an den vielen illegalen Anschlüssen, manche machen auch die Arbeiter des staatlichen Stromversorgers verantwortlich, die besonders faul seien. So wird Stimmung gemacht für die Privatisierung.
"Es gibt einige Probleme mit dem staatlichen Stromversorger, aber die können überwunden werden", resümiert Jakob Lazor, der als leitender Angestellter für den staatlichen Stromversorger in Kerala arbeitet. "Wir brauchen bessere Prüfmethoden, denn wir warten das Stromnetz mit völlig veralteter Technik", erklärt der Fachmann. "Wenn die ausgetauscht würde, könnten wir ununterbrochen Strom zur Verfügung stellen. Aber wir fragen uns, ob die Regierung das überhaupt will."
Auf die im Bundesstaat regierende Kongresspartei ist er nicht gut zu sprechen, weil sie die Privatisierung vorantreibt. Auch er ist Mitglied der Gewerkschaft AITUC.

Multikulti in Kaloor

Seit 2002 wohnt Jakob Lazor mit seiner Familie in Kaloor, einem Stadtteil der Millionenstadt Ernakulam. Die 80-m2-Wohnung hat er gekauft. Von den 12000 Rupien Monatsverdienst gehen 5000 für den Kredit ab, den er in den nächsten Jahren abstottern muss. Besonders stolz ist Jakob Lazor darauf, dass er nun endlich 24 Stunden am Tag fließendes Wasser hat, auch wenn die öffentliche Wasserversorgung nur morgens und abends für wenige Stunden funktioniert. Dann wird der große, schwarze Tank, der auf dem Dach des Hauses steht, aufgefüllt. Er sorgt dafür, dass auch am Rest des Tages Wasser aus der Leitung läuft.
Wenn jemand zu Hause ist, steht die Haustür seiner Wohnung im Erdgeschoss des sechsstöckigen Mehrfamilienhauses meistens offen. Seine sechsjährige Tochter Hrishidha geht seit wenigen Monaten zur Schule, abends spielt sie mit den Nachbarskindern. Im gleichen Haus wohnen auch zwei Brüder und die Mutter von Jakob Lazor. Der Nachbar ist Musikredakteur bei der größten Tageszeitung, die in der Regionalsprache Malayalam erscheint. Er ist ein gläubiger Hindu, ebenso wie Jakobs Frau Angema, die sich mit der Tochter des Musikredakteurs angefreundet hat. Manchmal besuchen sie gemeinsam einen Tempel. "Ich glaube nicht an Religion oder religiöse Zeremonien, ich bin Rationalist und Atheist", betont Jakob Lazor. "Ich habe alles Religiöse abgelegt, und dennoch habe ich eine Hindu-Frau geheiratet. Unser Kind, Hrishidha, gehört wie ich zu keiner Religionsgemeinschaft."
Die Grenzen zwischen den religiösen Gemeinschaften sind in einigen Regionen Keralas weniger eng gezogen als woanders in Indien. Christen, Moslems und Hindus leben im Stadtteil Kaloor auf engstem Raum beieinander. Manchmal geht die Tochter mit ihrer Großmutter in die nahe Kirche. Und in direkter Nachbarschaft befindet sich ein muslimischer Jugendclub. Jakob Lazor ist ein toleranter Atheist: "Ich kritisiere niemanden, der religiöse Gefühle hat. Jeder kann überall hingehen, in die Kirche, in den Tempel, das ist mir völlig egal."
Jakob Lazor hilft seiner Frau Angema in der Küche, er macht den Abwasch, raspelt Kokusnüsse und bedient die neu angeschaffte Waschmaschine. Angema Lazor arbeitet ebenfalls beim Stromversorger in Ernakulam und bringt im Monat 5000 Rupien mit nach Hause. Aber auch das reicht nicht, um ein Auto, einen Computer oder einen Festnetzanschluss fürs Telefon anzuschaffen und zu unterhalten. Der 38-jährige fährt einen Motorroller, das typische Gefährt der indischen Mittelklasse. Die Kontakte für seine Aktivitäten bei der Menschenrechtsorganisation PUCL, die Peoples‘ Union for Civil Liberties, regelt er vor allem über sein Handy oder besucht eines der zahlreichen Internet-Cafés der Stadt.
"Ich bin vor allem ein Menschenrechtsaktivist — deshalb kommt es manchmal zu Konflikten mit meiner Rolle als Gewerkschafter", erzählt Jakob Lazor. Zum Beispiel im Fall von Coca-Cola. Wasser ist für Jakob Lazor ein Menschenrecht. Deshalb engagiert er sich für die Adivasis, die indischen Ureinwohner, die in unmittelbarer Nachbarschaft der größten indischen Coca-Cola-Abfüllanlage im nahegelegenen Distrikt Palakkad leben und die seit deren Inbetriebnahme über vertrocknete Brunnen klagen. Eine Million Liter Wasser verbrauchte der Softdrinkmulti nach Angaben der Kritiker täglich — bis ihm das Höchste Gericht in Kerala 2004 den Betrieb der Anlage untersagte und sie zunächst stillgelegt werden musste.
"Die Arbeiter der Abfüllanlage und ihre Gewerkschaft setzten sich dafür ein, dass sie sofort wieder in Betrieb genommen wird", beschreibt Jakob Lazor den Konflikt, "aber ich bin der Überzeugung, dass sie nicht nur stillgelegt, sondern ganz geschlossen werden soll. Das ist das Recht der Adivasis. Die Softdrinks werden aus ihrem Blut gemacht."

Modell Kerala in der Krise

Die Asienkrise an den Finanzmärkten in der zweiten Hälfte der 90er Jahre hat auch das "Modell Kerala" in die Krise gestürzt. Die Verschuldung des Bundesstaats hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdreifacht, die Zinszahlungen an die privaten und öffentlichen Kreditgeber machen mittlerweile den größten Haushaltsposten aus.
Die 2004 wiedergewählte Kongress- Regierung will staatseigene Betriebe verkaufen, das nach den Zinszahlungen höchste Haushaltsbudget für die Bildung reduzieren und Gebühren für öffentliche Dienstleistungen wie die Gesundheitsversorgung erhöhen. 2004 hat die Regierung in Kerala außerdem erstmals einen externen Kredit bei der Asian Development Bank in Höhe von 770 Millionen US-Dollar aufgenommen, einer Weltbanktochter mit Sitz in Manila. Wirtschaftswissenschaftler wie Ravi Raman vom Centre for Development Studies in Thiruvananthapuram, der Hauptstadt Keralas, kritisieren die Bedingungen der Kreditvergabe, die sich am Washington Consensus orientieren. Sie befürchten weitere und noch tiefere Einschnitte in die sozialen Netze, u.a. könnten der Gesundheits- und Bildungssektor völlig den Gesetzen der Marktwirtschaft unterworfen werden. Das wäre das Ende des "Modells Kerala".
Vor dem Regierungssitz in Thiruvananthapuram, einem in den dreißiger Jahren errichteten lang gezogenen Säulenbau, finden täglich mehrere Demonstrationen statt. Jugendliche demonstrieren gegen Arbeitslosigkeit, Bauern gegen Billigreisimporte, KP-Gewerkschafter gegen ein gerichtlich verhängtes Streikverbot, die Gewerkschaft der Kongresspartei für höhere Löhne der Staatsbediensteten, Frauen gegen den Industrieminister, der sich wegen einer mutmaßlichen Vergewaltigung verantworten muss. Diese Demonstrationen sind nicht nur Bestandteil der allgemeinen Demokratiekultur in Kerala, sondern auch Ausdruck der Krise, in die das Entwicklungsmodell geraten ist.

Gerhard Klas

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