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"Die Religion ist eine schreckliche Last", beklagte 1935 Jawaharlal Nehru in seiner Autobiographie. Ausgehend
von der Aktualität dieser Prämisse für sein Land hat sich der Inder Shashi Tharoor, der als möglicher
Nachfolger des UN-Generalsekretärs Kofi Annan gehandelt wird, auf die Spuren des ersten indischen Premierministers
begeben. Herausgekommen ist dabei eine facettenreiche Biografie, die einiges über Nehru, aber auch viel über
die politische Haltung des Autors aussagt.
Fünf grobe Leitlinien bestimmten die Politik Nehrus: Internationalismus, Demokratie, Sozialismus,
Selbstbestimmung und der säkulare Charakter der indischen Nation. Angesichts der wachsenden Spannungen zwischen
Religionen und Kasten in Indien am Anfang des 21.Jahrhunderts hebt Tharoor vor allem das säkulare Vermächtnis
des Jawaharlal Nehru hervor. Dessen unermüdlicher Kampf für ein laizistisches Indien war nicht immer einfach.
Die Kongresspartei, die in ihren Anfangsjahren noch Hindus, Muslims und Sikhs für den indischen
Unabhängigkeitskampf vereinte, zeigte spätestens in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erste Risse.
Dazu hatte, worauf Tharoor zu Recht hinweist, auch die
Politik des "Teile und herrsche" der britischen Kolonialmacht beigetragen. Nachdem sich die Kongresspartei
zunehmend radikalisierte und an Einfluss gewann, förderten Kolonialpolitiker gezielt muslimische Kräfte, die
ihre eigene Partei, die Muslimliga, gründeten und später einen von Indien separaten Staat wollten und auch
erhielten: Pakistan. Dass die Muslimliga hingegen auch gute Gründe hatte, dem vor allem hinduistischen
Führungspersonal der Kongresspartei zu misstrauen, findet in Tharoors Buch keine Erwähnung.
Ebenso wie Ghandi versuchte Nehru immer wieder
Brücken zu bauen, beugte sich aber im Gegensatz zu Gandhi letztendlich der Macht des Faktischen und willigte in die
Teilung ein. Dennoch setzte er sich auch nach der Unabhängigkeit weiter vehement für ein säkulares (Rest-
)Indien und ein spannungsfreies Zusammenleben der verschiedenen Religionsgruppen ein. Dieses Engagement ist nicht gering
zu schätzen: Immerhin beherbergt Indien bis heute die drittgrößte Zahl von Muslimen weltweit, nämlich
150 Millionen.
Als großes Verdienst Nehrus hebt Tharoor außerdem hervor, dass er auch als Präsident seinen
demokratischen Prinzipien treu blieb, während viele postkoloniale Machthaber in Asien sich autoritären
Regierungsformen zuwandten. Wenig abgewinnen kann er allerdings Nehrus Vorstellungen von Internationalismus und
Sozialismus.
Zusammen mit dem jugoslawischen Präsidenten Tito und
dem ägyptischen Staatschef Nasser hatte Nehru die Bewegung der blockfreien Länder ins Leben gerufen, die sich
im Ost-West-Konflikt neutral verhielten und sich für eine friedliche Koexistenz und für Abrüstung
einsetzten. Nehru kritisierte die Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956 durch die Sowjetunion ebenso wie die
Unterdrückung antikolonialer Befreiungskämpfe in der Dritten Welt durch den westlichen Imperialismus. Tharoor
sieht darin jedoch eine falsche Gewichtung. Nehru habe die "Imperative der Macht" außer Acht gelassen:
"Seine außenpolitischen Erklärungen nahmen die Gestalt eines ausführlichen und extrem moralisierenden
Kommentars zur Weltpolitik an, was mehr zu einer Befreiungsbewegung als zur Regierung eines Staates passt." Für
"Machtpolitik" hatte Nehru wirklich nicht viel übrig. Er betrachtete, wie Nasser einmal feststellte, die
Weltpolitik unter dem Aspekt von Interessen der Menschheit insgesamt. Shashi Tharoor dagegen hätte sich statt der
Gegnerschaft Nehrus zu den USA eine engere Bindung des jungen Indiens an diese Großmacht vorstellen können.
Noch schärfer geht der Autor mit den
wirtschaftspolitischen Vorstellungen Nehrus ins Gericht, die sich stark am Sozialismus orientierten. Er kritisiert die
dominierende Rolle, die Nehru dem Staat in Schlüsselindustrien wie der Kohle- und Stahlproduktion, der Atomenergie,
der Eisenbahn, dem Schiffbau und im Kommunikationssektor zuschrieb und als Premierminister auch durchsetzte.
Erklären kann sich Tharoor die Ablehnung des ersten indischen Premierministers gegenüber ausländischen
Investoren mit den noch frischen Erinnerungen an die britische Kolonialzeit. Dennoch sei Nehrus Haltung falsch gewesen,
dass zur politischen Unabhängigkeit auch die ökonomische Unabhängigkeit und Selbstversorgung treten
müsse. "Dass eine solche Politik das indische Volk daran hinderte, sich von den Fesseln der Armut zu befreien,
hat er nie eingesehen", klagt er.
Angesichts der wachsenden Spannungen und Pogrome zwischen
Religionen und Kasten im modernen Indien des 21.Jahrhunderts will Tharoor den säkularen, pluralistischen
Nationalismus Nehrus in Erinnerung rufen. Gleichzeitig versucht er, dieses Vermächtnis Nehrus einer
marktwirtschaftlichen Politik dienstbar zu machen. Die steigende Bedeutung von Religion und Kaste in der modernen
indischen Gesellschaft führt Tharoor auf die staatlich gelenkte Politik zurück, die eine Vetternwirtschaft
hervorgebracht habe, die sich an partikularen Identitäten und Interessen orientiere. Vom wirtschaftlichen Wachstum,
das mit der Marktöffnung Anfang der 90er Jahre eingeleitet wurde, verspricht er sich hingegen eine Liberalisierung
der Gesellschaft und eine Aufweichung der Kasten- und Religionsgrenzen.
Doch in Indien gibt es auch eine andere Lesart, die vor
allem von Kritikern der neoliberalen Wirtschaftspolitik vorgetragen wird und bei dem Anwärter auf den höchsten
UN-Posten gar nicht vorkommt: Die jüngsten Spannungen zwischen Kasten und Religionen seien Ausdruck eines
verschärften Überlebenskampfs.
Seit Indien sich dem marktwirtschaftlichen
Konkurrenzprinzip geöffnet hat, wächst auch die Kluft zwischen reich und arm weiter. Den 200300 Millionen
Indern, die zur Mittel- und Oberschicht gezählt werden, stehen 800 Millionen Inder gegenüber, von denen viele
unter den aktuellen Entwicklungen leiden: weil sie für ihre landwirtschaftlichen Produkte kein Geld mehr bekommen;
weil sie arbeitslos werden; weil sie sich immer weiter verschulden; weil ihnen letztendlich die Existenzgrundlage
entzogen wird.
Konzerne aus den USA und Europa machen auf zwei Wegen
sagenhafte Gewinne: Mit billigen indischen Arbeitskräften, die sie bevorzugt für Dienstleistungen aller Art
heranziehen, und weil sie Gentechnik, Pestizide, Softdrinks, Autos, Versicherungen und demnächst auch Atomtechnik
nach Indien verkaufen.
Nicht nur die indische Schriftstellerin Arundhati Roy
oder die alternative Nobelpreisträgerin Vandana Shiva sehen diese wachsenden sozialen Unterschiede als einen
wichtigen Grund für religiöse Spannungen. Auch Nehru bezeichnete die interreligiösen Konflikte kurz vor
der indischen Unabhängigkeit als "Deckmantel für handfeste wirtschaftliche Interessen". Und andere
Nehru-Biografen wie Tariq Ali weisen darauf hin, dass die Briten sich die Spannungen zwischen Hindus und Muslimen zwar zu
Nutze gemacht, die Kongresspartei jedoch den Forderungen Nehrus nicht genügend nachgekommen sei, um die
letztendliche Spaltung des Subkontinents zu verhindern. Nehru habe immer wieder betont, dass bloßer Nationalismus
nicht ausreiche, um den säkularen Charakter der Kongresspartei langfristig zu festigen. In seiner Rede als
Parteivorsitzender auf dem Parteitag 1936 in Lakhnau habe er deshalb von der Notwendigkeit gesprochen, Interessen entlang
der Klassen- und nicht der Religionszugehörigkeit zu definieren. Dieses Vermächtnis Nehrus teilt Shashi Tharoor
sicherlich nicht.
Gerhard Klas
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