SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2006, Seite 14

Neu gelesen:

Sächsisch lernen!

Als 1950 in Belgien ein Generalstreik den König, der mit den Nazis zusammengearbeitet hatte, zwang abzudanken, verbreitete die radikale Linke bei uns die Parole: Belgisch lernen!
Als 1956 in Polen eine Revolte der Arbeiter zur Absetzung von Bierut führte und den vormals als "Titoist" verfolgten Gomulka an die Macht brachte, lautete die Losung: Polnisch lernen!
Jetzt, wo sich in der DDR vor unseren auf den Fernsehschirm gerichteten Augen eine Volksrevolution vollzieht, scheinen wir verstummt zu sein. Dabei ist doch offensichtlich der Zeitpunkt gekommen, die westdeutsche Arbeiterbewegung, an erster Stelle die Gewerkschaften, aufzufordern, "Sächsisch zu lernen"!
Sollte es denn keine Lehre für uns sein, dass es "drüben" ausreichte — trotz der angeblich allmächtigen Stasi und mangelnder demokratischer Rechte — zu Hunderttausenden die Straße zu erobern, um die Absetzung eines Generalsekretärs und Staatsratsvorsitzenden zu erzwingen?
Hier aber gelang es einer gewaltigen Massenbewegung nicht, den "Schandparagrafen" zu verhindern — wie Franz Steinkühler zu Recht den abgeänderten §116 Arbeitsförderungsgesetz nennt —, der das Streikrecht aushöhlt. Liegt das nicht daran, dass der Kampf in der Hoffnung abgebrochen wurde, die Bundestagswahlen, die damals bevorstanden, würden eine politische Wende bringen? Die Wiederherstellung der Zahlungspflicht durch die Bundesanstalt für Arbeit an Ausgesperrte, die nur mittelbar von einem Arbeitskampf in einem anderen Tarifgebiet betroffen sind, sollte "parlamentarisch" erreicht werden.
Wie aber, wenn der Spontispruch wahr ist: "Wenn Wahlen etwas verändern könnten, wären sie verboten." Wenn nur der unerschütterte Kinderglaube bei uns auf die alle vier Jahre stattfindenden Wahlen setzen lässt, was wir eben nur auf der Straße erringen können?

Für die kommende Tarifbewegung hat die IG Metall vier Ziele gesteckt:
35-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich.
Freistellung des Wochenendes von der Regelarbeitszeit.
Beträchtliche Einkommenserhöhungen, um den Arbeitenden ihren Anteil an den in den letzten drei Jahren enorm gestiegenen Profiten wenigstens nachträglich zu verschaffen.
Keine Laufzeiten, die den Gewerkschaften allzu lange die Hände binden.
Aber noch ehe die regionalen Tarifkommissionen zusammengetreten sind, verkündet der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstags, Stihl, dass, wenn es 1990 zu einem Arbeitskampf kommen sollte, die Arbeitgeber sich sofort "durch eine allgemeine Aussperrung im gesamten Bundesgebiet zur Wehr setzen" müssten. Das aber wäre eine Angriffsaussperrung mit dem Ziel, die Gewerkschaften entweder zu zwingen, zu Schoßhündchen der Kapitalbesitzer zu werden, oder sie so zuzurichten, dass von ihnen nur noch eine Fassade übrigbleibt, die innen ausgebrannt ist.
Was würden dann noch alle papiernen Rechte und Freiheiten nützen, was würde die parlamentarische Demokratie wert sein, wenn das Herzstück, das allein ihre Überlebensgarantie ist, eine kampffähige autonome Gewerkschaftsbewegung, herausgeschnitten wird?
In der DDR wird uns gezeigt, wie wir das hier verhindern können. Darum müssen wir "Sächsisch" lernen, um siegen zu lernen. Stärker als die Stasi können unsere "Ordnungskräfte" doch wohl auch nicht sein! Und was die "drüben" ohne "Freiheitsgarantien" können, müsste uns hier mit den grundgesetzlich garantierten Rechten, auf die wir so stolz sind, doch auch möglich sein.
Allerdings nur, wenn die Gewerkschaften erkennen, dass die Gefahr, der sie sich aussetzen würden, auch eine gewaltige Chance ist: ein für allemal klarmachen, dass wir uns von denen, die von der Arbeit unserer Hände und dem Erfindergeist unserer Köpfe leben, nicht aus den Betrieben aussperren lassen, die rechtmäßig die unsrigen sein müssten.

Jakob Moneta

Erschienen in SoZ 22/89 vom 9.11.1989 und in der Broschüre: Jakob Moneta: Solidarität im Zeitalter des Skeptizismus. Kommentare aus drei Jahrzehnten, Köln 2004, S.13f.



Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang