SoZ - Sozialistische Zeitung |
Wer in diesen Tagen Oaxaca besucht, um eine der zahlreichen Museen, Galerien, Kirchen und Kathedralen der historischen
Innenstadt zu besichtigen, muss sich daran gewöhnen, dass es dort etwas anders aussieht als in Touristenführern beschrieben: Zwar sind alle
historischen Gebäude und kulturellen Angebote der Touristenmetropole in Südmexiko weiterhin zugänglich, aber die Spuren der Rebellion
sind unübersehbar.
Überall in der Stadt campieren Menschen unter freiem Himmel oder aufgespannten Zeltplanen, um sich vor Sonne und Regen zu schützen,
kaum ein Gebäude, das nicht von Graffitis und politischen Parolen beschriftet wäre. Und der Zocalo, der zentrale Platz im Zentrum der Stadt, ist
bedeckt von Transparenten und Zelten. Was für die Touristen etwas befremdlich oder auch exotisch wirkt, ist für die Menschen in Oaxaca
existenziell dies ist kein Jugendcamp der etwas anderen Art, sondern Ausdruck einer breiten Protestbewegung beinahe aller Sektoren der Gesellschaft.
Begonnen hatte alles mit einem der schon traditionellen Streiks der Bildungsarbeitergewerkschaft SNTE, die fast jedes Jahr im Frühling für eine
bessere Bezahlung kämpft, aber auch für Verbesserungen der Situation ihrer Schüler wie Schulfrühstück, Schuhe, kostenlose
Bücher und Schreibmaterialien. Nachdem die Regierung Ulises Ruiz die Proteste ignorierte, erklärten die Lehrer einen unbefristeten Streik,
woraufhin die Regierung, statt Verhandlungen anzustrengen, das Protestcamp der Streikenden mit Polizeieinsatz räumen ließ.
Diese Räumung war selbst für mexikanische Verhältnisse, wo Polizei-
und Armeekräfte wenig zimperlich sind bei der Bekämpfung von sozialen Bewegungen, außergewöhnlich brutal. Trotz der
Anwesenheit von Kindern wurde massiv Tränengas verschossen, sogar aus einem Hubschrauber heraus. Mehrere Lehrer wurden durch Schläge und
Schüsse schwer verletzt. Dennoch schafften es die Lehrer, bewaffnet nur mit Holzknüppeln gegen Tränengasgrananten und Feuerwaffen der
Polizei, diese zurückzutreiben. Gegen Mittag hatten sie die Innenstadt bereits zurückerobert und begannen, das Camp neu zu errichten.
Doch nicht nur die Lehrer ließen sich durch die Repression nicht einschüchtern,
auch die Bevölkerung solidarisierte sich mit den Lehrern. Durch seinen autoritären und repressiven Regierungsstil hatte sich Ulises Ruiz den
Ärger beinahe sämtlicher Sektoren der Gesellschaft zugezogen. Hinzu kam die übermäßige Korruption, bei der Milliarden von
Pesos in mysteriösen Bau- und Sanierungsvorhaben verschleudert wurden, die nicht nur nichts zur Verschönerung der Stadt oder zur Verbesserung
der Infrastruktur beitrugen, sondern das kulturelle Erbe der Stadt und damit die Identität ihrer Bewohner beschädigte. Und das in einem Bundesland,
das als eines der ärmsten Mexikos gilt und in dem über die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt.
Auch die indigenen Gemeinschaften hatten reichlich Grund zur Wut auf Ulises. Seit
Amtsantritt hatte er in zahlreichen Gemeinden die traditionell selbst gewählten und demokratisch kontrollierten Autoritäten abgesetzt und durch
Mitglieder seiner Partei PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution, die 70 Jahre lang das Land praktisch als Einparteiendiktatur regiert hatte) ersetzt. Auf
Widerstand reagierte er mit massiver Repression. Zahlreiche indigene Führer und soziale Aktivisten wurden eingekerkert oder umgebracht.
Die Räumung des Protestcamps war damit der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Binnen Stunden fand sich die
Zivilgesellschaft unter einer einzigen Forderung zusammen: Gouverneur Ulises Ruiz muss gehen! Innerhalb weniger Wochen sah Oaxaca Demonstrationen mit
mehreren hunderttausend Teilnehmenden, einige sprechen sogar von einer Million (Oaxaca hat eine Bevölkerung von weniger als einer Million).
Seitdem vergeht kaum ein Tag ohne Demos oder andere Protestaktionen. In der ganzen Stadt
gibt es Camps, in denen Mitglieder der Bewegung Tag und Nacht präsent sind. Die ganze Innenstadt ist verbarrikadiert und blockiert, ebenso wie einige
Zufahrtsstraßen. Alle Einrichtungen und Gebäude des Staates und der Stadt sind besetzt. Diese Strategie bezieht sich auf einen Verfassungsartikel,
der besagt, dass bei einem "Verschwinden der Gewalten" der zuständige Gouverneur von der Bundesregierung oder dem Senat abgesetzt
werden kann. Dies ist in Oaxaca seit Monaten der Fall: Regierung und Parlament befinden sich im Untergrund, die Gerichte arbeiten nicht mehr, die Polizei hat
sich auf ihre Stützpunkte zurückgezogen und tritt gar nicht mehr offen in Erscheinung. Es herrscht eine Art Anarchie aber es funktioniert.
Seither hat sich die Bewegung von einer Bewegung des Magistrats der Lehrer zu einer
Volksbewegung ausgeweitet, die sich in der APPO (Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca Volksversammlung der Völker von Oaxaca)
organisiert haben. Sie ist Organisation, Bündnis und Versammlung zugleich, wo sich Delegierte der über 350 Organisationen täglich treffen,
um aktuelle Fragen zu diskutieren, zu organisieren und Entscheidungen zu treffen. Natürlich ist es nicht leicht, in einem Bündnis, das neben der
Lehrergewerkschaft nicht nur Organisationen und Gruppen von Arbeitern verschiedener Bereiche, Studierende und Professoren, Indigene, Frauen, Jugendliche,
kirchliche Basisgemeinden, Ärzte und Gesundheitsarbeiter, Nachbarschaftsorganisationen umfasst, sondern auch ideologisch unterschiedlich ist (von
verschiedensten marxistischen Strömungen zu libertären, aber auch reformistischen Ideen), zu gemeinsamen Positionen zu kommen. Umso
erstaunlicher, dass die Zusammenarbeit und Entscheidungsfindung bisher ohne größeren Streit und Spaltungen zu funktionieren scheint.
Das einigende Band besteht in der Forderung nach dem Rücktritts von Ulises. Aber
dass es damit nicht getan ist, dass viel tiefgreifendere Veränderungen nötig sind, ist eigentlich allen klar. Deshalb gibt es Diskussionen über
eine neue Verfassung und umfassende Reformen. Doch so wichtig diese Debatten über die Zukunft der Bewegung sind, so schwierig ist es, die
Mobilisierungen aufrechtzuerhalten und sich gleichzeitig diesen fundamentalen Fragen zu widmen. Vor allem angesichts der immer wieder brutale Formen
annehmenden Repression: Anfang August wurde bei einer Demo ein Mechaniker erschossen; in der Nacht vom 20. auf den 21.August wurde eine weitere Person
bei der Bewachung eines Camps vor einem besetzten Radiosender erschossen.
Die Vorgeschichte: Am 1.August wurde der lokale Fernsehsender Kanal 9 (eine staatliche regionale Station, die im gesamten Staat Oaxaca sendet,
vergleichbar mit den dritten Programmen in Deutschland), von einer mit großen Kochtöpfen bewaffneten Frauendemo kurzerhand besetzt, weil
dieser ständig gegen die Bewegung gehetzt hatte. Angesichts tausendfacher Frauenpower kapitulierten die Angestellten des Senders ohne Kampf. Die
Bewegung hatte plötzlich einen eigenen Fernsehsender! Mit der Hilfe von einigen Kommunikationsprofessoren und -studierenden gelang es, diesen in
Betrieb zu nehmen. Innerhalb von zwei Wochen kletterte der vorher uninteressante kleine Sender mit seiner Einschaltquote weit nach oben. Doch dann gelang es
der Polizei, die Antennen und Sendeanlagen zu zerstören. Maskierte Männer griffen mit Maschinengewehren die Wachen an, mehrere Menschen
wurden von Kugeln getroffen und zum Teil schwer verletzt. Die Antwort der Bewegung war jedoch ebenso schnell wie erfolgreich: Noch in derselben Nacht
besetzten sie zwölf andere Radiostationen, von denen vier in Betrieb genommen wurden.
Obwohl sich die APPO und das Magistrat der Lehrer seit Anfang November in
Verhandlungen mit dem Staatssekretariat der Bundesregierung befindet, ist die latente Drohung einer militärischen "Lösung" des
Konflikts nicht geringer geworden. So forderte der von der PRI und der rechtskonservativen Regierungspartei PAN dominierte Senat das Eingreifen der
Regierungstruppen. Mehrmals sah es so aus, als würden Armee und PFP die Protestcamps räumen, doch bisher blieb es "nur" bei der
permanenten Bedrohung.
Ohnehin scheint die Bundesregierung, anders als die Regierung Oaxacas, deutlich zögerlicher mit dem Einsatz des Militärs, denn es ist
offensichtlich, dass es mit einer einmaligen Intervention nicht getan ist, weil sich der bisher friedliche Protest angesichts der Stärke der Bewegung leicht in
einen Bürgerkrieg ausweiten könnte. Daran hat jedoch die Bundesregierung wenig Interesse, ist sie doch ausreichend damit beschäftigt, den
Protest gegen den offensichtlichen Wahlbetrug des PAN-Kandidaten Felipe Calderón gegen den Kandidaten der sozialdemokratischen PRD, López
Obrador, zu kontrollieren. Zu der Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung nach zwei Jahrzehnten neoliberaler Politik kommt nun noch die Wut
über den Betrug da könnte das Beispiel Oaxaca leicht Schule machen.
Das ist der Konflikt, in dem sich die Bundesregierung befindet: Sie kann Ulises Ruiz nicht
einfach absetzen, denn die PAN braucht die Unterstützung der PRI zur Absicherung ihrer Macht und kann daher nicht offen gegen einen PRI-Gouverneur
agieren. Ein Sieg der Bewegung wäre Signal für Bewegungen in anderen Bundesstaaten. In einigen haben sich schon APPOs gegründet. So
im Bundesstaat Sonora, wo die Lehrer streiken und sich dabei an den Erfahrungen in Oaxaca orientieren. Anderseits könnte sich eine Repression gegen die
Bewegung in Oaxaca leicht zu einem Flächenbrand über das ganze Land ausweiten.
Daher blieb bisher nur das Spiel auf Zeit und die Hoffnung, dass sich der Protest irgendwann
von selbst ausbrennt. Doch danach sieht es bisher nicht aus. Obwohl nach mittlerweile vier Monaten Mobilisierung alle müde und erschöpft sind, ist
von Resignation und Aufgabe keine Spur. Im Gegenteil, Ende November brachen mehrere tausend Mitglieder und Sympathisanten der APPO zu Fuß zu
einem Protestmarsch in die 500 km entfernte Hauptstadt auf. Damit sollte der Druck auf die Bundesregierung erhöht werden, die Hauptforderung der
Bewegung, die Absetzung von Ulises, zu erfüllen. Das Ultimatum des Innenministeriums, den Unterricht wieder aufzunehmen, lehnt die APPO ab und
fordert stattdessen den Rücktritt der gesamten Regierung von Oaxaca.
Für den 21.Oktober hat die Bewegung zu einem zivilen Bürgerstreik und zu
einer Großdemonstration nach Mexiko-Stadt aufgerufen. Allerdings könnte sich der Kampf sogar schon vorher entscheiden: In der Woche zuvor
wird der Bericht der Senatskommission erwartet, die über die "Unregierbarkeit" Oaxacas entscheiden soll. Kommt sie zum Ergebnis der
Unregierbarkeit, könnte Ulises Ruiz tatsächlich abgesetzt werden.
Sollte Ulises Ruiz wirklich gehen, wird es aber auch ein künftiger Gouverneur schwer
haben, gegen den Willen des Volkes zu regieren. Die Vorschläge für eine neue Verfassung, an denen APPO-Mitglieder arbeiten, sehen eine scharfe
Kontrolle der Regierenden seitens des Volkes vor. Die Philosophie, dass die Regierung dem Volke gehorchen soll und nicht umgekehrt, hat eine lange Tradition
in den indigenen Gemeinschaften und ist u.a. von den Zapatistas unter dem Begriff "mandar obediciendo" ("gehorchend befehlen")
bekannt geworden.
Miriam Fischer
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