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Die offene Konfrontation mit einer verkrusteten Staatsbürokratie begann am 23.Oktober 1956 mit einer
Studentendemonstration. Doch diese offene Konfrontation hatte sich bereits vier Monate nach dem Tod Stalins, also 1953, angekündigt. Ungarn war das
erste Land im Ostblock, das den Stalinismus früh und offen verurteilte. Ein starker Flügel in der KP, unter ihnen Ministerpräsident Imre Nagy,
proklamierte bereits 1953 einen Reformkurs, zunächst allerdings ohne Erfolg. Von seinen Kontrahenten wurde er gestürzt und als Abweichler
verurteilt.
Seitdem drängt sich allen Historikern die Frage auf: War die ungarische Revolution im Oktober und November 1956, bevor sie von russischen Panzern
zermalmt wurde, nun eine "Konterrevolution", wie die KPs von Italien bis China seinerzeit behaupteten oder war sie eine revolutionäre
Reformbewegung?
Der ungarische Philosoph Georg Lukács gehörte zu denen, die in diesem
Aufstand eine unbedingt notwendige Reformbewegung sahen. Es sei der Versuch einer Demokratisierung des Sozialismus gewesen. Paul Lendvai, selbst
Teilnehmer dieses Aufstands, der nach dessen Niederschlagung von der Kádár-Regierung inhaftiert wurde, vertritt die gleiche Position.
Lendvai, der seit 1957 als Journalist in Wien lebt, hat in seinem Buch eine lebendige und
leidenschaftliche Darstellung des ungarischen Aufstandes, seiner Ursachen und seiner Niederlage geschrieben. Er bringt reichlich Beispiele und Belege
dafür, dass die Mehrheit der Aufständischen, in deren Schlepptau sicherlich auch einige Antisemiten und Faschisten segelten, keine kapitalistische
Demokratie wollten. Zu dieser Einsicht kam auch der am 7.November von Chruschtschow eingesetzte Regierungschef János Kádár, der in
dieser Staatsfunktion 38 Jahre blieb. Allerdings war er zum Zeitpunkt dieser Einsicht noch kein Regierungschef, was Lendvai leider zu erwähnen vergisst.
Anfang November 1956 existierten landesweit bereits 2100 Arbeiterräte mit insgesamt
28000 Mitgliedern. Die alte Staatsbürokratie, die der Stalinfreund Rákosi in Ungarn errichtet hatte, wurde binnen weniger Tage durch eine
Basisdemokratie liquidiert. Die Aufständischen, die für dreizehn Tage ganz Ungarn basisdemokratisch umgewälzt hatten, forderten immer
deutlicher die Rückkehr des unter Rákosi in Ungnade gefallenen Imre Nagy an die Staatsspitze, der jedoch, wie Lukács einmal feststellte,
"keinerlei konkretes Programm" besaß was sich nachträglich als ein wesentlicher Grund für die Niederlage dieser
Revolution herausstellen sollte. György Dalos schließlich vergleicht Nagy mit Salvador Allende, einem Ehrenmann, der sich stets dem Gesetz
verpflichtet gefühlt habe und der gegen jede Form von Willkür eingetreten sei.
Am 24.10. wird Nagy, ein Experte für die Agrarwirtschaft, jedenfalls
Ministerpräsident. In seinem Kabinett wurde Lukács Kulturminister, den Lendvai leider überhaupt nicht in seinem Buch würdigt,
geschweige denn dessen Positionen reflektiert.
Selbst der sowjetische Marschall Shukow sprach von einem ungarischen "Nationalkommunismus", den man nicht aus dem Warschauer Pakt
entlassen dürfe. Das zeigt, dass selbst die Sowjets von einer nationalen Bewegung sprechen mussten, deren Ziel eben nicht der Kapitalismus, sondern ein
reformierter Sozialismus sein sollte. Trotzdem kam es zur doppelten militärischen Intervention. Nach der ersten am 24.Oktober mussten sie vor den
streikenden und mit Waffen kämpfenden Arbeitern weichen. Ihre zweite, dieses Mal erfolgreiche Intervention begann am 4.November.
Zwischen diesen beiden Interventionen machte die sowjetische Führung den
ungarischen Reformern etliche Zugeständnisse. So versprachen sie, sich ganz aus Ungarn zurückziehen zu wollen. Allerdings fürchtete
Chruschtschow, dass die Entlassung Ungarns in die nationale Unabhängigkeit bei den USA als Schwäche interpretiert werden könne und
entsprechend bedrohliche Folgen für den Weltfrieden hätte haben können. Deshalb, so Chruschtschow, rollten die sowjetischen Panzer nun
zum zweiten Mal. Dieses Mal schossen sie jedoch eine in Keimform entstehende ungarische sozialistische Demokratie zusammen, auf deren Humus bereits viele
neue Parteien, Initiativen und Arbeiterräte entstanden waren. Es starben mehrere hundert Menschen.
Lendvai hat mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag für die Aufarbeitung dieser
Revolution neuen Typs geleistet, in der Hunderttausende von Menschen ihre nationale Geschichte in die eigenen Händen nehmen wollten, um eine
Gesellschaft zu schaffen, in der sich die Menschlichkeit frei entfalten kann. Diese ungarische Bewegung sei der Wegbereiter für den "Prager
Frühling" von 1968 gewesen, aber auch für die Öffnung der ungarischen Grenzen nach Österreich 1989, in deren Folge
schließlich auch die DDR zusammen gebrochen sei.
Nach der Lektüre des Buchs ist man geneigt zu fragen, was wäre wohl aus
Europa geworden, wenn sich die sozialistische Demokratie gegen die sowjetische Intervention hätte behaupten können? Jedenfalls zeigt der Autor
deutlich, dass Sozialismus ohne Basisdemokratie nicht funktionieren kann. Vielmehr ist Basisdemokratie Sozialismus, eine Lehre, die auch Georg Lukács
in seinem letzten, theoretisch brillanten Werk Sozialismus und Demokratisierung aus der gescheiterten ungarischen Revolution und aus dem Prager
Frühling gezogen hatte.
György Dalos wiederum zeigt in seinem leidenschaftlich und spannend wie eine Reportage geschriebenen Buch Dalos erlebte die
Kämpfe als 13-jähriger Schuljunge besonders deutlich, klarer und präziser als dies Lendvai tut, die heimtückische, aber
vielleicht auch verzweifelte Rolle von János Kádár, der noch unter dem gestürzten Rákosi im Gefängnis gesessen hatte
und sich mit seiner Radioansprache vom 31.Oktober, in der er die Gründung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei bekannt gab, vorsichtig als
dritte Kraft zwischen der Regierung Nagy und den Kremlführern positionierte.
In dieser Rede lobte er nicht nur die "Heimatliebe" der Aufständischen,
sondern verkündete auch die Namen jener Parteimitglieder des provisorischen Exekutivkomitees, die die USAP bis zu ihrem Gründungskongress
leiten sollten unter ihnen Nagy und Lukács, die er wenig später, im Bündnis mit den Kremlführern, die sich ihrerseits mit dem
jugoslawischen KP-Chef Tito abgesprochen hatten, in die jugoslawische Botschaft flüchten ließ. Hier wurden sie dann verhaftet. Einige kamen in
die Kerker oder wurden hingerichtet, andere wurden nach Rumänien abtransportiert.
Die letzten Hoffnungen setzten die verzweifelten Unabhängigkeitskämpfer
Ungarns nun in die USA, die ihr "Freiheitssender Róka" verzweifelt um Hilfe anrief. "Wir Ungarn hingen am
Weltempfänger", schreibt Dalos, "ließen uns von dem magischen grünen Auge verzaubern und erwarteten von den Radiowellen
jenseits aller Störsender nicht einfach nur Nachrichten, sondern Trost, Erlösung und Rettung. Wir wurden betrogen, aber wir haben uns auch selbst
betrogen. Wir waren enttäuscht, aber wir erwarteten vielleicht auch nichts anderes. Wie sagte der Nationaldichter Petöfi: Mit wirren Haaren,
aus der Stirne blutend, steht in dem Sturm der Ungar ganz allein. Das war das Unreife, Halbgare, Romantische unseres damaligen
Bewusstseinsstands."
Am 2.Dezember 1956, also keine vier Wochen nach der Zerschlagung des Aufstands,
bezeichnete das Plenum des ZK der USAP unter Führung Kádárs die Oktoberaufstände als Konterrevolution. Konsequent dieser
Auffassung folgend, wurden am 11.Dezember die Führer des Budapester Arbeiterrats verhaftet.
Dalos Buch, das sehr eindrucksvoll mit Auszügen aus Protokollen und
Telegrammen die Dramatik des Ungarnaufstands lebendig werden lässt, ist eine ausgezeichnete Studie, wie Menschen, die um ihre menschliche
Unabhängigkeit und Zukunft kämpfen, mit Demagogie manipuliert werden können, wenn sie sich ihre erkämpfte Macht von
rhetorischen Talenten, zu denen Kádár sicher zählte, abschwatzen lassen. Eine Zeittafel vermittelt dem Leser dieses Buches einen schnellen
Überblick über die ungarische Geschichte mit dem traurigen Schluss: "Anzahl der Opfer des Terrors zwischen 1956 und 1961: Hingerichtete:
Etwa 300. Rechtskräftig Verurteilte: annähernd 35000. Internierte: circa 20000 (diese Ordnungsstrafe konnte ohne Gerichtsurteil ein halbes Jahr
dauern und automatisch bis zu zwei Jahren verlängert werden)."
Jürgen Meier
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