SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2006, Seite 24

Invasion der Gringos

Mike Davis über die letzte US-Kolonisation

Dem Besucher, der heutzutage die Grenze von Tijuana nach San Diego überschreitet, fällt sofort eine große Plakatwand ins Auge: "Stoppt die Grenzinvasion!" Gesponsert von der rabiat migrantenfeindlichen Vigilantegruppe der Minutemen, prangt derselbe gehässige Slogan auch an Grenzübergängen in Arizona und Texas.
Die Minutemen, einst in der Presse als waffentragende Clowns karikiert, sind zu arroganten Berühmtheiten des bodenständigen Konservatismus geworden, die Hasssendungen auf Mittelwelle ebenso dominieren wie den noch hysterischeren Äther der rechten Bloggemeinde. Republikanische Kandidaten wetteifern um ihre Unterstützung. Während die Wählerschaft durch die zweifache Katastrophe von Bagdad und New Orleans der Politik entfremdet wurde, ist die "braune Gefahr" plötzlich zum republikanischen deus ex machina für die Wiedererlangung der Kongressmehrheit bei den Wahlen im November avanciert.
Die Republikaner, deren wankende Hegemonie sich zu lange von den Resten des 11.November und den imaginären Waffen Saddam Husseins genährt hat, haben in ihrem Appell an die Vorstädte zu einer neuen Eindringlichkeit gefunden. Wenn man einigen dieser Demagogen zuhört, könnte man meinen, die Twin Towers seien von Anhängern der Jungfrau von Guadalupe zerstört oder Spanisch zur Amtssprache von Connecticut bestimmt worden. Nachdem sie mit dem Einmarsch in Afghanistan und den Irak, mit dem sie das Böse aus der Welt vertreiben wollten, gescheitert sind, schlagen die Republikaner nun, unterstützt von einigen Demokraten, vor, dass wir bei uns selbst einmarschieren und die Marineinfanterie zusammen mit der Nationalgarde in die feindlichen Wüsten Kaliforniens und New Mexicos schicken, wo angeblich die nationale Souveränität bedroht ist.
Die Wirklichkeit steht auf dem Kopf. Die ultimative Ironie ist jedoch, dass es wirklich so etwas wie eine "Grenzinvasion" gibt, aber die Plakatwände der Minutemen stehen auf der falschen Seite der Schnellstraße.

Nur wenige Leute — zumindest außerhalb Mexikos — haben es bemerkt: Während Kindermädchen, Köche und Hausangestellte sich nach Norden aufmachen, um den luxuriösen Lebensstil der wütenden Republikaner zu bedienen, stoßen Horden von Gringos nach Süden vor, um unter der mexikanischen Sonne ihren prächtigen Ruhestand in einem erschwinglichen Zweithaus zu genießen.
Nach Schätzungen des US-Außenministeriums ist die Anzahl der in Mexiko lebenden US- Amerikaner in den letzten zehn Jahren von 200000 auf 1 Million gestiegen — das ist ein Viertel aller ständig im Ausland lebenden US-Bürger. Binnen zwei Jahren sind die Überweisungen aus den USA nach Mexiko von 9 auf 14,5 Milliarden Dollar gestiegen! Dabei handelt es sich hauptsächlich um Geld, das US-Bürger an sich selbst überweisen, um ihren Ruhestand oder ihr Haus in Mexiko zu finanzieren.
Einige von ihnen sind sicherlich ehemalige Arbeitsmigranten, die zu US-Bürgern wurden und nach einem arbeitsreichen Leben al otro lado, "auf der anderen Seite", in die Städte und Dörfer ihrer Herkunft zurückkehren. Die typischen Investoren in mexikanische Immobilien charakterisierte der Generaldirektor von FONATUR, der offiziellen Agentur für Tourismusentwicklung in Mexiko, kürzlich jedoch als US- amerikanische "geburtenstarke Jahrgänge, die ihre Hypotheken bezahlt haben und nun durch Erbschaften zu Geld kommen".
Tatsächlich, so das Wall Street Journal, "kommt der Ansturm zu Beginn eines Bevölkerungsknicks. Unter den mehr als 70 Millionen US-Bürgern aus den geburtenstarken Jahrgängen, die in den nächsten zwanzig Jahren in Ruhestand gehen, wird es eine gewaltige Abwanderung in wärmere und billigere Klimazonen geben, sagen Experten voraus. Oft erwerben sie 10 bis 15 Jahre vor ihrem Ruhestand dort Besitz, benutzen ihn als Feriendomizil und ziehen anschließend für die meiste Zeit des Jahres dorthin. Stadtplaner berücksichtigen diesen Trend zunehmend und bauen abgesperrte Bezirke, Eigentumswohnanlagen und Golfplätze."
Der außerordentliche Anstieg an Vermögenswerten in den südlichen und südwestlichen Bundesstaaten der USA verleiht den Gringos immensen wirtschaftlichen Einfluss. Die Gerissenen unter ihnen bauen sich nicht nur ein Nest für den späteren Ruhestand, sondern spekulieren zunehmend mit mexikanischen Immobilien und treiben so die Grundstückspreise zulasten der örtlichen Anwohner hoch. Deren Kinder werden infolgedessen in die Slums getrieben oder zur Emigration in den Norden gezwungen, was dann wieder den Vorwurf der "Invasion" nährt. Wie in Irland, Korsika oder Montana macht der globale Run auf das zweite Zuhause das Leben in schönen, natürlichen Gegenden für die traditionellen Bewohner unerschwinglich.
Einige Auswanderer versuchen es mit exotischen Orten wie Riviera Maya in Yucatán oder Tulum in Quintana Roo, aber die meisten ziehen etablierte Oasen wie San Miguel de Allende und Puerto Vallarta vor. Hier schaffen sich die norteamericanos in mehrfacher Hinsicht ein Zuhause.
Eine englischsprachige Zeitung in Puerto Vallarta bspw. begrüßte kürzlich die bevorstehende Errichtung einer neuen Einkaufsmeile mit Filialen von Hooters, Burger King, Subway, Chill‘s und Starbucks. Nur Dunkin‘ Donuts, so klagte die Zeitung, fehlt noch.
Die tiefsten Spuren hinterlassen die Gringos in Baja California, die 1200 Kilometer lange Wüste, die an den Bundesstaat Kalifornien anschließt — hier haben sie die gravierendsten geopolitischen Folgen. Tatsächlich strotzen die Immobilienwebseiten von Baja California ebenso sehr von Übertreibungen wie jene, die sich mit der angeblichen Bedrohung durch illegale Migranten beschäftigen.
In Wirklichkeit schwappt Kalifornien nach Baja California über, ein epochaler Prozess, der, wenn ihm nicht Einhalt geboten wird, eine unerträgliche soziale Marginalisierung und ökologische Verwüstung in Mexikos letzter ursprünglicher Region zur Folge haben wird. Alle Widersprüche des postindustriellen Kalifornien — galoppierende Grundstückspreise an der Küste, wuchernde Stadtentwicklung in den Tälern und Wüsten des Inlands, Verstopfung der Schnellstraßen, Mangel an öffentlichen Verkehrsmitteln, astronomische Zunahme motorisierter Freizeitaktivität — treiben die Invasion nach Süden in die wunderbar "leere" Halbinsel voran. Um einen Begriff aus einer schlimmen, aber nicht irrelevanten Vergangenheit zu benutzen: Baja California ist Anglo-Kaliforniens Lebensraum.
Tatsächlich haben die beiden ersten Stadien informeller Annexion bereits stattgefunden. Unter der Flagge von NAFTA hat Südkalifornien Hunderte Sweatshops und Giftbetriebe in die Maquiladorazonen von Tijuana und Mexicali exportiert. Die Pacific Maritime Association, die die größten Reedereien an der Westküste repräsentiert, sondiert zusammen mit japanischen und koreanischen Unternehmen den Bau eines riesigen neuen Containerhafens in Punta Colonel, 240 Kilometer südlich von Tijuana, der die Macht der Hafenarbeitergewerkschaft in San Francisco und San Pedro untergraben würde.
Nun tummeln sich Zehntausende Gringoruheständler und Wintergäste an beiden Enden der Halbinsel. Entlang der Nordwestküste von Tijuana bis Ensenada prangt die Werbung für eine Immobilienkonferenz an der Universität von Los Angeles: "Derzeit gibt es über 57 Immobilienprojekte mit über 11000 Wohneinheiten und einem Bestandswert von über 3 Milliarden Dollar ... alle für den US- Markt."
Am tropischen Ende von Baja California, im 30-Kilometer-Streifen zwischen Cabo San Lucas und San José de Cabo, ist mittlerweile eine goldene Gringoenklave entstanden. Los Cabos ist Teil des globalen Archipels von Immobilien-Hotspots, in dem Grundstückswerte mit zweistelligen Zuwachsraten Spekulationskapital aus der ganzen Welt aufsaugen. Gewöhnliche Gringos können sich an diesem glamorösen Immobilienkasino durch Kauf und Wiederverkauf von zeitlich begrenzten Nutzungsrechten an Strandhäusern beteiligen.
Den Privatflugzeugen auf dem lokalen Flughafen nach zu urteilen haben sich Spekulanten aus Westkanada und Arizona große Brocken der Südspitze von Baja California angeeignet. Doch im Wesentlichen ist Los Cabos zu einem Aufenthaltsort besonders rabiater Minutemen aus Orange County geworden. Viele wohlhabende Südkalifornier sehen offensichtlich keinen Widerspruch darin, sich zu Hause mit ihren konservativen Freunden über die "Invasion der Fremden" aufzuregen und am nächsten Tag zum Seekajakfahren oder Prominentengolf nach Los Cabos zu fliegen.

Der nächste Schritt in der späten Kolonialisierung von Baja California ist die "Escalera Nautica", eine von FONATUR entwickelte 3 Milliarden Dollar teure "Kette" von See- und Küstenresidenzen, die dem Jachtklubmilieu die unberührtesten Teile der beiden mexikanischen Küstenstreifen zur Verfügung stellt. In der pittoresken Kleinstadt Loreto an der Golfseite der Halbinsel hat sich FONATUR mit einem Unternehmen aus Arizona und Stadtarchitekten aus Florida zusammengetan, um die Villages of Loreto Bay zu entwickeln: 6000 Residenzen für US-Bürger im mexikanischen Kolonialstil.
Das 3-Milliarden-Projekt von Loreto wirbt damit, der letzte Schrei in "grünem" Design zu sein, mit Sonnenenergie und eingeschränktem Autoverkehr. Gleichzeitig wird die Bevölkerung von Loreto innerhalb von zehn Jahren von jetzt 15000 auf über 100000 wachsen, mit allen sozialen und ökologischen Folgen, die man bereits an den Slums von Cancún und anderen Megafreizeitmetropolen studieren kann.
Eine der betörendsten Attraktionen von Baja California ist ihre ursprüngliche Wildheit, die anderswo im Westen verschwunden ist. Die ortsansässigen Bewohner und eine sehr rege indigene Umweltbewegung pflegen diese unvergleichliche Landschaft und auch das egalitäre Ethos, das in den Kleinstädten und Fischerdörfern der Halbinsel überlebt hat.
Dank der stummen Invasion aus dem Norden könnte in der nächsten Generation viel von der Natur und Kultur von Baja California hinweggefegt sein. In einer der großartigsten Küstenlandschaften der Welt würden sich dann nur noch Touristen breit machen und auf die Öffnung von Dunkin‘ Donuts warten. Die Einheimischen haben deshalb allen Grund zu befürchten, dass die heutigen Megafreizeitmetropolen und die Vorstädte im pseudokolonialen Stil das letzte trojanische Pferd der US-Kolonialisierung sein werden.

Mike Davis ist u.a. Autor der bei Assoziation A erschienenen Bücher Planet der Slums (2006) und Die Geburt der Dritten Welt (2004). Von ihm erschien zuletzt in SoZ 10/05 ein Beitrag über die "Vogelgrippe auf dem Vormarsch". (Übersetzung: Hans-Günter Mull.



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