SoZ - Sozialistische Zeitung |
Wenige Tage war die soziale Ausgrenzung in aller Munde. Die Berichterstattung
über die Menschen in gesellschaftlichen Randzonen funktionierte nach den "bewährten"
Rezepten des Medienapparats: Die soziale Katastrophenentwicklung wurde als isoliertes Problem
präsentiert, seine klassengesellschaftlichen Ursachen weitgehend ausgeblendet.
Entbrannt war die kurze, jedoch intensive
Diskussion über Menschen in gesellschaftlichen Randzonen aufgrund einer Studie der Friedrich-Ebert-
Stiftung über die soziale und politische Selbsteinschätzung der bundesrepublikanischen
Bevölkerung. Darin über die lebensgeschichtliche Situation einer sozialen Gruppe, die als
"abgehängtes Prekariat" bezeichnet wird, beschrieben. Es handelt sich um
Langzeitarbeitslose, Hartz-IV-Beziehende und alleinerziehende Mütter, denen es nicht nur materiell
schlecht geht, sondern die jede Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lebenssituation aufgegeben haben. Der
Umfang dieses Gesellschaftssegments liegt im Westen bei 45%, im Osten Deutschlands bei 2025%
mit steigender Tendenz.
Die Intensität der Reaktionen auf diese Zustandbeschreibung war überraschend. Eigentlich
dürfte es nach jahrelangem Abbau von Arbeitsplätzen und Sozialleistungen keine Illusionen
über den Umfang der sozialen Zerstörungen geben, die er hinterlässt: Reichtumsvermehrung an
der gesellschaftlichen Spitze auf der einen, Verfestigung von "Armutskulturen" und
Vergrößerung des Blocks der ins soziale Aus Gestoßenen auf der anderen Seite.
Lange schon beschäftigen sich Linke
mit der zunehmenden Verschlechterung der Lebensverhältnisse für Menschen in den unteren
Gesellschaftsetagen. Bereits vor 15 Jahren hatte Karl Heinz Roth eine Entwicklungstendenz beschrieben, die
mittlerweile gesellschaftlich prägend geworden ist: "Ein neues Proletariat ist im Entstehen, dem
die kollektiv geregelten Normalarbeitsverhältnisse und die sozialstaatlichen Vermögenssurrogate
für die Wechselfälle des Daseins zunehmend fremd werden. Es wird über den aktuellen
Krisenzyklus hinaus langfristig durch die Erfahrung von Erwerbslosigkeit, von prekären
Beschäftigungsverhältnissen, von zweiten und dritten Arbeitsmärkten
und von abrupt eintretenden Armutsphasen geprägt sein."
In den "ungesicherten" Bereichen
der Arbeitswelt ohne wirksamen Kündigungsschutz, mit schlechter Bezahlung und oft auch
gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen konzentrieren sich auch die "arbeitenden
Armen", also jene Lohnabhängigen, die unterhalb der Armutsgrenze leben und 5% der
Vollerwerbstätigen in der Bundesrepublik ausmachen.
Die Analyse der Tendenzen einer sogenannten Prekarisierung nehmen auch einen zentralen Platz in den
bisherigen Veröffentlichungen des Projekts Klassenanalyse@BRD im Rahmen der Marx-Engels-Stiftung ein
("Zweifel am Proletariat Wiederkehr der Proletarität" und "Umbau der
Klassengesellschaft"). Auch einer internationalen sozialwissenschaftlichen Diskussion sind sie
hinlänglich bekannt. Von Abgekoppelten wird gesprochen, die nicht nur von regulärer Erwerbsarbeit
ausgeschlossen sind, sondern auch keine Chance der "Wiedereingliederung" mehr sehen. Sie haben
sich aufgegeben, weil ihre Hoffnungen auf eine feste und zukunftssichere berufliche Tätigkeit immer
wieder enttäuscht wurden.
Was den Menschen zu schaffen macht ist
nicht nur die materielle Zurücksetzung, sondern ein Komplex psychischer Belastungen: Nach
anfänglichen Phasen subjektiver Auflehnung und Konzentration auf die Überwindung ihrer sozialen
Randständigkeit setzen sich bei den Ausgegrenzten Tendenzen einer geistigen und emotionalen Verarmung
durch: Die Neugier auf die Welt jenseits ihres unmittelbaren Lebensraumes, die als feindlich und
anmaßend erlebt wird, stirbt ab. Eine planende und gestaltende Einflussnahme auf die eigenen
Lebensbedingungen haben die meisten in dieser Situation aufgegeben. Die psychischen
Reaktionsmöglichkeiten der Krisenopfer verengen sich, Depressionen und Resignation gewinnen zunehmend
an Einfluss: Fast alle Lebensäußerungen werden von der bedrückenden Sozialsituation
geprägt. Auch deshalb sterben Arme mittlerweile fast 10 Jahre früher als ihre wohlhabenden
"Mitbürger" an der Gesellschaftsspitze.
Eine Konsequenz der sozialen und
psychischen Ausnahmesituation sind zivilisatorische Regressionstendenzen vom Analphabetismus bis zur
sozialen Verwahrlosung; diejenigen, die bspw. Hartz-IV-Beziehenden die Befreiung von Schulbuchkosten
verweigern, nehmen sie billigend in Kauf. In nicht wenigen Stellungnahmen in den Massenmedien wird das
gesellschaftlich erzeugte "moralische Elend" als individuelles Versagen interpretiert und damit
die gängigen politisch-administrativen Entscheidungen legitimiert, nicht Armut und Arbeitslosigkeit,
sondern die Armen und Arbeitslosen zu bekämpfen.
Die Lage in den gesellschaftlichen
Kellergeschossen wäre nicht so dramatisch, wenn sie nicht in einem umfassenden Prozess sozialer
Regression und gesellschaftlicher Perspektivlosigkeit eingebettet wäre. Nicht nur die soziale
Ungleichheit nimmt zu, auch die soziale Unsicherheit hat sich verallgemeinert. Die Angst vor dem
Arbeitsplatzverlust und dem sozialen Absturz ist für alle Lohnabhängigen zu einer prägenden
Sozialerfahrung geworden. Die Perspektive einer kontinuierlichen Verbesserung der Lebensumstände, die
für die den Nachkriegskapitalismus prägend war, existiert nicht mehr.
Diesen Blick auf den gesellschaftlichen
Gesamtzustand hat die mediale "Unterschichtsdebatte" weitgehend vermieden. Verschwiegen wurde
auch die ganze Dramatik der Ausgrenzungs- und Regressionsprozesse. Die Armutsquote, die 2003 noch bei 15%
lag, ist aktuell auf 17,3% gestiegen. Das sind 14 Millionen Einzelschicksale! Deutlich größer
noch sind die Zonen sozialer Gefährdung. Weitere 20% der bundesrepublikanischen Bevölkerung leben
in so unsicheren Verhältnissen und verfügen über ein so geringes Einkommen, dass sie
jederzeit ins Bodenlose abstürzen können. Zusammengerechnet umfasst die "Unterschicht"
30 Millionen Menschen, darunter eine wachsende Zahl von Kindern.
Die soziale Unsicherheit ist jedoch alles
andere als ein "Unterschichtenproblem". Bis weit in die Reihen einer ehemals auskömmlich
alimentierten Mittelschicht hinein herrscht Angst vor dem Absturz. Immer mehr
"Leistungsindividualisten" und ehemals "zufriedene Aufsteiger" (wie die Gruppen in der
Prekarisierungsstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung genannt werden), müssen erfahren, dass ihre
Qualifikationen sie ebenso wenig vor sozialer Regression schützt wie ihr Leistungswillen. Die
Rationalisierungswellen erreichen derzeit vermehrt die Weiße-Kragen-Abteilungen, und auch die Zahl
akademisch Ausgebildeter wächst, die sozial ungeschützte (und schlecht bezahlte)
Beschäftigungsverhältnisse akzeptieren müssen.
So findet eine Umgestaltung der Klassengesellschaft statt, bei der die Konturen einer Dreiteilung
sichtbar werden. Neben einem gut situierten Bevölkerungsdrittel, das auch die herrschende Klasse und
ihre Funktionseliten umfasst, gibt es ein weiteres Drittel mit phasenweise auskömmlichen Lebens- und
Arbeitsverhältnissen, das jedoch permanent von sozialen Regression bedroht ist. Übrig bleibt ein
soziales Restdrittel, das keine Hoffnung haben kann, den Zonen der Bedürftigkeit und existenziellen
Unsicherheit jemals entkommen zu können. Vor allem der Übergang zwischen dem unteren und dem
mittleren Drittel ist fließend, weil niemand, der vom Verkauf seiner Arbeitskraft lebt, seiner
sozialen Position sicher sein kann.
Diese Neuformierung der
Klassengesellschaft, einschließlich ihrer sozialen Fragmentierung und Zerstörung, entspricht dem
Kalkül der neoliberalen Akteure. Denn für die Verschärfung der Ausbeutung ist die
Vergrößerung der sozialen Ungleichheit und die Institutionalisierung der existentiellen
Unsicherheit von grundsätzlicher Bedeutung. Dazu muss ein wirksames Druck- und Bedrohungsszenarium
aufgebaut werden. Es muss Ungleichheit und auch spürbare Formen der Bedürftigkeit und Armut
geben, wenn die universale Verfügbarkeit über die Arbeitskraft und die vollständige
Einordnung des menschlichen Lebensrhythmus in den sich beschleunigenden Kreislauf der Kapitalakkumulation
durchgesetzt werden soll.
Davon war natürlich in der
Prekarisierungsdebatte nicht die Rede. Wenn überhaupt grundlegende gesellschaftliche Aspekte
angedeutet wurden, dann nicht um sie verständlich zu machen, sondern um die herrschende
Desorientierung zu bestätigen. Die Bemerkung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass die
Ausgegrenzten "keinen erkennbaren Platz in irgendeinem Produktionsvorgang mehr haben" soll den
Eindruck erwecken, dass die sozialen Ausgrenzungsprozesse nichts mit den klassengesellschaftlichen
Strukturen, nichts mit Ausbeutung und Mehrwertaneignung, nichts mit der Konfrontation zwischen Kapital und
Arbeit zu tun haben.
Diese journalistische "Offensive"
weist nicht zufällig Parallelen zu einer neuen Sprachregelung in den akademischen Sozialwissenschaften
auf: Nach dem der neue Ungleichheits- und Verelendungsschub nicht mehr geleugnet werden kann, wird von
einer veränderten "Qualität der Ungleichheit" gesprochen, die nicht mehr aus den alten
Klassenwidersprüchen zu erklären sei. Auch "linke" Stimmen sprechen davon, die
Spaltungsprozesse innerhalb der Lohnabhängigen (zwischen Erwerbslosen und Arbeitenden, zwischen
Stammbelegschaften und unsicher Beschäftigten, zwischen übertariflich Bezahlten und
Niedrigentlohnten) hätten den Klassenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit zwar nicht
verdrängt, jedoch weitgehend "neutralisiert".
Prägendes Merkmal der gegenwärtigen kapitalistischen Ausbeutung ist ein selektiverer Zugriff
auf die Arbeitskräfte: Platz ist nur noch für hundertprozentig Leistungsfähige. Die
Älteren und gesundheitlich Angeschlagenen, alle die nicht "wendig" und "flexibel"
genug sind, werden "ausgeschieden" und den Sozialkassen überantwortet. Für die weiter
Beschäftigten bedeutet der Arbeitsplatzabbau Intensivierung und "Verdichtung" der Arbeit.
Diese Entwicklung lässt sich auch in
Hightechbereichen feststellen. Einer geringeren Zahl neu geschaffener Arbeitsplätze mit hohem
Anforderungsprofil steht eine wachsende Zahl unsicherer Jobs mit niedrigen Qualifikationen in den
ausgelagerten Bereichen (meist im Zulieferbereich) gegenüber. Die betrieblichen Umorganisationen sind
mit sozialen Spaltungsstrategien verbunden: es werden "Überflüssige" produziert und
unsichere Beschäftigungsverhältnisse verfestigt.
Die Gruppe der
"Überzähligen" wächst vor allem auch deshalb, weil immer weniger Menschen für
die Mehrwerterzeugung benötigt werden. Seit zwei Jahrzehnten sind konjunkturelle Stagnationstendenzen
von stetigen Produktivitätsfortschritten begleitet, deshalb verstärkt sich der Arbeitsplatzabbau.
Deshalb kann auch eine Anhebung des Ausbildungsniveaus, die in der Unterschichtendebatte als Wundermittel
gepriesen wurde, an der Situation nichts grundlegend ändern.
Es gehört zur paradoxen
Entwicklungsdynamik des heutigen Kapitalismus, dass die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse
schrumpft, obwohl immer mehr elementare gesellschaftliche Bedürfnisse unbefriedigt bleiben.
Werner Seppmann
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04