SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2006, Seite 07

Über den Klassencharakter der sozialen Ausgrenzung

Die "Entdeckung" der Unterschicht durch die Massenmedien

Wenige Tage war die soziale Ausgrenzung in aller Munde. Die Berichterstattung über die Menschen in gesellschaftlichen Randzonen funktionierte nach den "bewährten" Rezepten des Medienapparats: Die soziale Katastrophenentwicklung wurde als isoliertes Problem präsentiert, seine klassengesellschaftlichen Ursachen weitgehend ausgeblendet.
Entbrannt war die kurze, jedoch intensive Diskussion über Menschen in gesellschaftlichen Randzonen aufgrund einer Studie der Friedrich-Ebert- Stiftung über die soziale und politische Selbsteinschätzung der bundesrepublikanischen Bevölkerung. Darin über die lebensgeschichtliche Situation einer sozialen Gruppe, die als "abgehängtes Prekariat" bezeichnet wird, beschrieben. Es handelt sich um Langzeitarbeitslose, Hartz-IV-Beziehende und alleinerziehende Mütter, denen es nicht nur materiell schlecht geht, sondern die jede Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lebenssituation aufgegeben haben. Der Umfang dieses Gesellschaftssegments liegt im Westen bei 4—5%, im Osten Deutschlands bei 20—25% — mit steigender Tendenz.

Konturen eines neuen Proletariats

Die Intensität der Reaktionen auf diese Zustandbeschreibung war überraschend. Eigentlich dürfte es nach jahrelangem Abbau von Arbeitsplätzen und Sozialleistungen keine Illusionen über den Umfang der sozialen Zerstörungen geben, die er hinterlässt: Reichtumsvermehrung an der gesellschaftlichen Spitze auf der einen, Verfestigung von "Armutskulturen" und Vergrößerung des Blocks der ins soziale Aus Gestoßenen auf der anderen Seite.
Lange schon beschäftigen sich Linke mit der zunehmenden Verschlechterung der Lebensverhältnisse für Menschen in den unteren Gesellschaftsetagen. Bereits vor 15 Jahren hatte Karl Heinz Roth eine Entwicklungstendenz beschrieben, die mittlerweile gesellschaftlich prägend geworden ist: "Ein neues Proletariat ist im Entstehen, dem die kollektiv geregelten Normalarbeitsverhältnisse und die sozialstaatlichen Vermögenssurrogate für die Wechselfälle des Daseins zunehmend fremd werden. Es wird über den aktuellen Krisenzyklus hinaus langfristig durch die Erfahrung von Erwerbslosigkeit, von prekären Beschäftigungsverhältnissen, von ‘zweiten‘ und ‘dritten‘ Arbeitsmärkten und von abrupt eintretenden Armutsphasen geprägt sein."
In den "ungesicherten" Bereichen der Arbeitswelt — ohne wirksamen Kündigungsschutz, mit schlechter Bezahlung und oft auch gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen — konzentrieren sich auch die "arbeitenden Armen", also jene Lohnabhängigen, die unterhalb der Armutsgrenze leben und 5% der Vollerwerbstätigen in der Bundesrepublik ausmachen.

Die Abgekoppelten

Die Analyse der Tendenzen einer sogenannten Prekarisierung nehmen auch einen zentralen Platz in den bisherigen Veröffentlichungen des Projekts Klassenanalyse@BRD im Rahmen der Marx-Engels-Stiftung ein ("Zweifel am Proletariat — Wiederkehr der Proletarität" und "Umbau der Klassengesellschaft"). Auch einer internationalen sozialwissenschaftlichen Diskussion sind sie hinlänglich bekannt. Von Abgekoppelten wird gesprochen, die nicht nur von regulärer Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind, sondern auch keine Chance der "Wiedereingliederung" mehr sehen. Sie haben sich aufgegeben, weil ihre Hoffnungen auf eine feste und zukunftssichere berufliche Tätigkeit immer wieder enttäuscht wurden.
Was den Menschen zu schaffen macht ist nicht nur die materielle Zurücksetzung, sondern ein Komplex psychischer Belastungen: Nach anfänglichen Phasen subjektiver Auflehnung und Konzentration auf die Überwindung ihrer sozialen Randständigkeit setzen sich bei den Ausgegrenzten Tendenzen einer geistigen und emotionalen Verarmung durch: Die Neugier auf die Welt jenseits ihres unmittelbaren Lebensraumes, die als feindlich und anmaßend erlebt wird, stirbt ab. Eine planende und gestaltende Einflussnahme auf die eigenen Lebensbedingungen haben die meisten in dieser Situation aufgegeben. Die psychischen Reaktionsmöglichkeiten der Krisenopfer verengen sich, Depressionen und Resignation gewinnen zunehmend an Einfluss: Fast alle Lebensäußerungen werden von der bedrückenden Sozialsituation geprägt. Auch deshalb sterben Arme mittlerweile fast 10 Jahre früher als ihre wohlhabenden "Mitbürger" an der Gesellschaftsspitze.
Eine Konsequenz der sozialen und psychischen Ausnahmesituation sind zivilisatorische Regressionstendenzen — vom Analphabetismus bis zur sozialen Verwahrlosung; diejenigen, die bspw. Hartz-IV-Beziehenden die Befreiung von Schulbuchkosten verweigern, nehmen sie billigend in Kauf. In nicht wenigen Stellungnahmen in den Massenmedien wird das gesellschaftlich erzeugte "moralische Elend" als individuelles Versagen interpretiert und damit die gängigen politisch-administrativen Entscheidungen legitimiert, nicht Armut und Arbeitslosigkeit, sondern die Armen und Arbeitslosen zu bekämpfen.
Die Lage in den gesellschaftlichen Kellergeschossen wäre nicht so dramatisch, wenn sie nicht in einem umfassenden Prozess sozialer Regression und gesellschaftlicher Perspektivlosigkeit eingebettet wäre. Nicht nur die soziale Ungleichheit nimmt zu, auch die soziale Unsicherheit hat sich verallgemeinert. Die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust und dem sozialen Absturz ist für alle Lohnabhängigen zu einer prägenden Sozialerfahrung geworden. Die Perspektive einer kontinuierlichen Verbesserung der Lebensumstände, die für die den Nachkriegskapitalismus prägend war, existiert nicht mehr.
Diesen Blick auf den gesellschaftlichen Gesamtzustand hat die mediale "Unterschichtsdebatte" weitgehend vermieden. Verschwiegen wurde auch die ganze Dramatik der Ausgrenzungs- und Regressionsprozesse. Die Armutsquote, die 2003 noch bei 15% lag, ist aktuell auf 17,3% gestiegen. Das sind 14 Millionen Einzelschicksale! Deutlich größer noch sind die Zonen sozialer Gefährdung. Weitere 20% der bundesrepublikanischen Bevölkerung leben in so unsicheren Verhältnissen und verfügen über ein so geringes Einkommen, dass sie jederzeit ins Bodenlose abstürzen können. Zusammengerechnet umfasst die "Unterschicht" 30 Millionen Menschen, darunter eine wachsende Zahl von Kindern.
Die soziale Unsicherheit ist jedoch alles andere als ein "Unterschichtenproblem". Bis weit in die Reihen einer ehemals auskömmlich alimentierten Mittelschicht hinein herrscht Angst vor dem Absturz. Immer mehr "Leistungsindividualisten" und ehemals "zufriedene Aufsteiger" (wie die Gruppen in der Prekarisierungsstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung genannt werden), müssen erfahren, dass ihre Qualifikationen sie ebenso wenig vor sozialer Regression schützt wie ihr Leistungswillen. Die Rationalisierungswellen erreichen derzeit vermehrt die Weiße-Kragen-Abteilungen, und auch die Zahl akademisch Ausgebildeter wächst, die sozial ungeschützte (und schlecht bezahlte) Beschäftigungsverhältnisse akzeptieren müssen.

Zweidrittelgesellschaft

So findet eine Umgestaltung der Klassengesellschaft statt, bei der die Konturen einer Dreiteilung sichtbar werden. Neben einem gut situierten Bevölkerungsdrittel, das auch die herrschende Klasse und ihre Funktionseliten umfasst, gibt es ein weiteres Drittel mit phasenweise auskömmlichen Lebens- und Arbeitsverhältnissen, das jedoch permanent von sozialen Regression bedroht ist. Übrig bleibt ein soziales Restdrittel, das keine Hoffnung haben kann, den Zonen der Bedürftigkeit und existenziellen Unsicherheit jemals entkommen zu können. Vor allem der Übergang zwischen dem unteren und dem mittleren Drittel ist fließend, weil niemand, der vom Verkauf seiner Arbeitskraft lebt, seiner sozialen Position sicher sein kann.
Diese Neuformierung der Klassengesellschaft, einschließlich ihrer sozialen Fragmentierung und Zerstörung, entspricht dem Kalkül der neoliberalen Akteure. Denn für die Verschärfung der Ausbeutung ist die Vergrößerung der sozialen Ungleichheit und die Institutionalisierung der existentiellen Unsicherheit von grundsätzlicher Bedeutung. Dazu muss ein wirksames Druck- und Bedrohungsszenarium aufgebaut werden. Es muss Ungleichheit und auch spürbare Formen der Bedürftigkeit und Armut geben, wenn die universale Verfügbarkeit über die Arbeitskraft und die vollständige Einordnung des menschlichen Lebensrhythmus in den sich beschleunigenden Kreislauf der Kapitalakkumulation durchgesetzt werden soll.
Davon war natürlich in der Prekarisierungsdebatte nicht die Rede. Wenn überhaupt grundlegende gesellschaftliche Aspekte angedeutet wurden, dann nicht um sie verständlich zu machen, sondern um die herrschende Desorientierung zu bestätigen. Die Bemerkung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass die Ausgegrenzten "keinen erkennbaren Platz in irgendeinem Produktionsvorgang mehr haben" soll den Eindruck erwecken, dass die sozialen Ausgrenzungsprozesse nichts mit den klassengesellschaftlichen Strukturen, nichts mit Ausbeutung und Mehrwertaneignung, nichts mit der Konfrontation zwischen Kapital und Arbeit zu tun haben.
Diese journalistische "Offensive" weist nicht zufällig Parallelen zu einer neuen Sprachregelung in den akademischen Sozialwissenschaften auf: Nach dem der neue Ungleichheits- und Verelendungsschub nicht mehr geleugnet werden kann, wird von einer veränderten "Qualität der Ungleichheit" gesprochen, die nicht mehr aus den alten Klassenwidersprüchen zu erklären sei. Auch "linke" Stimmen sprechen davon, die Spaltungsprozesse innerhalb der Lohnabhängigen (zwischen Erwerbslosen und Arbeitenden, zwischen Stammbelegschaften und unsicher Beschäftigten, zwischen übertariflich Bezahlten und Niedrigentlohnten) hätten den Klassenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit zwar nicht verdrängt, jedoch weitgehend "neutralisiert".

Intensivierung der Ausbeutung

Prägendes Merkmal der gegenwärtigen kapitalistischen Ausbeutung ist ein selektiverer Zugriff auf die Arbeitskräfte: Platz ist nur noch für hundertprozentig Leistungsfähige. Die Älteren und gesundheitlich Angeschlagenen, alle die nicht "wendig" und "flexibel" genug sind, werden "ausgeschieden" und den Sozialkassen überantwortet. Für die weiter Beschäftigten bedeutet der Arbeitsplatzabbau Intensivierung und "Verdichtung" der Arbeit.
Diese Entwicklung lässt sich auch in Hightechbereichen feststellen. Einer geringeren Zahl neu geschaffener Arbeitsplätze mit hohem Anforderungsprofil steht eine wachsende Zahl unsicherer Jobs mit niedrigen Qualifikationen in den ausgelagerten Bereichen (meist im Zulieferbereich) gegenüber. Die betrieblichen Umorganisationen sind mit sozialen Spaltungsstrategien verbunden: es werden "Überflüssige" produziert und unsichere Beschäftigungsverhältnisse verfestigt.
Die Gruppe der "Überzähligen" wächst vor allem auch deshalb, weil immer weniger Menschen für die Mehrwerterzeugung benötigt werden. Seit zwei Jahrzehnten sind konjunkturelle Stagnationstendenzen von stetigen Produktivitätsfortschritten begleitet, deshalb verstärkt sich der Arbeitsplatzabbau. Deshalb kann auch eine Anhebung des Ausbildungsniveaus, die in der Unterschichtendebatte als Wundermittel gepriesen wurde, an der Situation nichts grundlegend ändern.
Es gehört zur paradoxen Entwicklungsdynamik des heutigen Kapitalismus, dass die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse schrumpft, obwohl immer mehr elementare gesellschaftliche Bedürfnisse unbefriedigt bleiben.

Werner Seppmann

Der Autor ist Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung und Mitarbeiter des Projekts "Klassenanalyse@BRD".



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