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Das Europäische Parlament hat am 15.November 2006 mit großer
Mehrheit in zweiter Lesung der Vorlage des Ministerrats "Wettbewerbsfähigkeit" zur EU-
Dienstleistungsrichtlinie zugestimmt mit drei rein technischen Änderungen. Für den Antrag
von Linksfraktion und Grünen im EP, die Ratsposition zurückzuweisen, stimmten lediglich 105
Abgeordnete (darunter 28 Sozialdemokraten, überwiegend aus Frankreich).
Damit sind zwei Jahre heftigen Kampfes um die Richtlinie vorerst beendet. Sie kann schon Ende 2006 in
Kraft treten und stellt einen historischen Einschnitt in der Entwicklung der Europäischen Union dar.
Nach der Schaffung eines europäischen Binnenmarkts für Güter (1985 bis 1993) und der
Privatisierung vieler vormals in öffentlicher Regie betriebenen Infrastrukturunternehmen (Fernsehen,
Elektrizitäts- und Gasversorgung, Telekommunikation, Bahn, Postdienste usw.) wird nun ein
liberalisierter Binnenmarkt für Dienstleistungen geschaffen. Betroffen sind etwa 50% der
Wirtschaftsleistung und rund 70% der Beschäftigten in der EU.
Im Zentrum der Richtlinie steht die
Abschaffung von Vorschriften in den Mitgliedstaaten, die angeblich die freie Niederlassung von
Dienstleistungsunternehmen aus anderen Mitgliedstaaten sowie die vorübergehende Erbringung von
Dienstleistungen (den freien Dienstleistungsverkehr) behindern. Dies seien "bürokratischen
Hemmnisse für die Wettbewerbsfähigkeit Europas", die beseitigt gehören.
Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand
wies bei der Bundestagsanhörung Mitte Oktober 2006 zu Recht darauf hin, dass die nun verabschiedete
Regelung keine klare Unterscheidung zwischen fester Niederlassung und nur vorübergehend in Anspruch
genommener Dienstleistungsfreiheit erlaubt. Damit könnten Dienstleistungsunternehmen einfach durch
formale Verlagerung ihres Firmensitzes strengere Auflagen umgehen, die mit einer festen Niederlassung
einhergehen. Ein in Wirklichkeit nach wie vor "deutsches" Unternehmen könnte künftig
als britisches, polnisches usw. Unternehmen auftreten, das in Deutschland nur die Dienstleistungsfreiheit
in Anspruch nimmt.
Die ursprünglichen Vorschläge des
Bolkestein-Entwurfs zur Deregulierung des Niederlassungsrechts (Verbot bzw. Überprüfung der
Anforderungen der Mitgliedstaaten) sind weitgehend bestehen geblieben. Insgesamt werden künftig zur
"Erleichterung" der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit 31 Auflagen von Mitgliedstaaten
verboten. Weitere 60 müssen mit dem Ziel überprüft werden, sie abzuschaffen oder
abzuschwächen. Die Mitgliedstaaten müssen zudem ein Berichtsystem einführen, inwieweit sie
die Bestimmungen zum Verbot und zur Überprüfung der Anforderungen umgesetzt haben. Vorhaben
für neue Vorschriften müssen sie zunächst von der Europäischen Kommission prüfen
lassen.
Die Mehrheit der EP-Abgeordneten behauptet,
mit der beschlossenen Richtlinie sei ein "Dritter Weg" zwischen dem ursprünglich
vorgesehenen Herkunftslandprinzip und dem Bestimmungslandprinzip gewählt worden. Die Richtlinie halte
eine gerechte Balance zwischen den Anliegen der Marktliberalisierung und der Wahrung des Europäischen
Sozialmodells.
Der geltende EG-Vertrag sieht bei der
Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit im Kern das Bestimmungslandprinzip vor. In beiden Fällen
haben die aufnehmenden Mitgliedstaaten Dienstleister aus anderen EU-Mitgliedstaaten Voraussetzungen zu
gewährleisten, "die dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt". Es
geht nach dem EG-Vertrag folglich nur darum, dass Dienstleister aus anderen Mitgliedstaaten gegenüber
den inländischen nicht diskriminiert werden dürfen.
Die beschlossene Richtlinie diskriminiert
nun aber die inländischen Dienstleister. Allein sie müssen sich noch an alle Standards und
Vorschriften ihres Landes halten. Im freien Dienstleistungsverkehr brauchen Dienstleister aus anderen EU-
Mitgliedstaaten nur noch jene Vorschriften erfüllen, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit
und Ordnung oder von Umwelt und Gesundheit erlassen wurden. Die inländischen Dienstleister werden
deshalb in Zukunft die Abschaffung hoher heimischer Standards und Auflagen fordern, um in der
verschärften Kostenkonkurrenz nicht unterzugehen. So leitet die Richtlinie den von Gewerkschaften und
sozialen Bewegungen befürchteten Wettlauf um die niedrigsten Standards im Dienstleistungssektor ein.
Aus Furcht vor der Auseinandersetzung um
den inkriminierten Begriff des Herkunftslandprinzips haben die EU-Institutionen jedoch nur vage
festgehalten, dass Vorschriften der Mitgliedstaaten gegenüber Dienstleistern aus dem EU-Ausland nicht
diskriminierend, erforderlich und verhältnismäßig sein müssen. Die eigentliche
Drecksarbeit der Deregulierung im Detail wird an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) delegiert.
Rechtsklarheit und Rechtssicherheit schafft die beschlossene Richtlinie jedenfalls nicht. Selbst in der
Linken und in den Gewerkschaften glauben daher nicht wenige, bei der Umsetzung der Richtlinie in
nationalstaatliches Recht sei noch einiges zum Besseren zu wenden.
Das mag sein doch der EuGH ist
für seine äußerst liberalisierungsfreundliche Auslegung des Binnenmarktrechts berühmt.
Erst in den kommenden Jahren wird sich anhand zu erwartender Einzelfallurteile abzeichnen, wie viel von
diesen Hoffnungen real oder bloß Illusion ist. Die EU-Institutionen habe jedenfalls auch hier
vorgesorgt: die Revisionsklausel der Richtlinie ermöglicht der Kommission, in regelmäßigen
Abständen Vorschläge zur Weiterentwicklung der Dienstleistungsfreiheit und zur Abschaffung jetzt
bestehender Ausnahmeregelungen ins Spiel zu bringen. Dass sie sich dabei voll die EuGH-Entscheidungen
zunutze machen wird, ist jetzt schon sicher.
Eine nüchterne Bilanz der Auseinandersetzungen um den Binnenmarkt für Dienstleistungen kommt
natürlich nicht daran vorbei, die Rolle der politischen und zivilgesellschaftlichen Akteure zu
beleuchten.
Bundestag und Bundesrat, die noch bis
Anfang 2006 scharfe kritische Stellungnahmen zur Richtlinie verabschiedeten, haben nach der ersten Lesung
im Europäischen Parlament einfach die Segel gestrichen.
Konservative und Liberale im
Europaparlament sympathisierten in ihrer Mehrheit eher mit dem ursprünglichen Bolkestein-Entwurf,
mussten aber erkennen, dass das radikale Herkunftslandprinzip so nicht durchsetzbar sein würde. Das
erkannten auch Kommission und Rat sie schwenkten deshalb formal auf die "Kompromisslinie"
der Parlamentsmehrheit ein.
Das Europäische Parlament bestand im
Februar 2006 immerhin noch darauf, dass soziale Dienstleistungen, die öffentliche Daseinsvorsorge, das
Arbeitsrecht und die in Tarifverträgen festgelegten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen
vollständig von der Richtlinie ausgenommen sein müssten. Diese Haltung hat dieselbe
Parlamentsmehrheit in der zweiten Lesung jedoch schmählich verraten, indem sie die Formulierungen des
Rates, der diese Punkte ablehnte oder verwässerte, vollständig akzeptierte.
Bemerkenswert ist die
Richtungsänderung bei den Sozialdemokraten. Die Sozialdemokratische Fraktion im EP wollte
ursprünglich immerhin die öffentliche Daseinsvorsorge komplett vom Anwendungsbereich der
Richtlinie ausnehmen. Von dieser Position ist nichts mehr übrig geblieben die PSE hat sich am
Ende vollständig der Position der Konservativen gebeugt und zur zweiten Lesung im Parlament keine
Änderungsanträge mehr eingebracht.
Der Europäische Gewerkschaftsbund
(EGB) hatte sich anfangs scharf gegen den Bolkestein-Entwurf gestellt und im März 2005 Zehntausende
Menschen zum EU-Gipfel nach Brüssel mobilisiert. Doch bereits bei der nachfolgenden Demonstration zur
ersten Lesung im Februar 2006 in Straßburg wurde ein schleichender Kurswechsel deutlich. Vorneweg
marschierte ein kleines, durch ein Seil vom Rest der Demonstration abgetrenntes Kontingent von
Gewerkschaftsführern für eine "sozial gerechte Dienstleistungrichtlinie"
hinterher kam die Masse der rund 50000 Gewerkschaftsmitglieder und Aktiven sozialer Bewegungen mit den
üblichen "Stoppt Bolkestein"-Transparenten.
Der EGB-Vorstand würdigte
anschließend die Vorschläge des Europaparlaments als ausgewogenen Kompromiss und gute
Verhandlungsgrundlage und hat sogar den jetzt verabschiedeten Text des Rates im Prinzip für akzeptabel
befunden. Nur einige Verbesserungen seien noch nötig: die Erwähnung der Grundrechtecharta sowie
eine deutlichere Ausklammerung des Arbeitsrechts und von Tarifverträgen.
Nach genauer Lektüre der Ratsposition
meinte der EGB, er müsse doch nochmal ein Vermittlungsverfahren anstreben, um seinen Forderungen
Nachdruck zu verleihen. Der DGB und seine Einzelgewerkschaften nahmen sogar deutlich kritischere Positionen
ein als vor der ersten Lesung im Europäischen Parlament. Doch jedes Bemühen um erneute
Massenaktionen wurde im Keim erstickt. Selbst die Herbstaktionen des DGB Ende Oktober 2006 wurden nicht
dazu genutzt, die Dienstleistungsrichtlinie noch einmal zum Thema zu machen.
Angesichts dieser Haltung sahen auch die
sozialen Bewegungen und Verbände wie Attac für sich keine realistische Möglichkeit mehr, mit
Massenaktionen gegen die Richtlinie Front zu machen. Man war froh, mit dem G8-Gipfel in Heiligendamm einen
neuen Schwerpunkt für Mobilisierungen gefunden zu haben "als solches" ist dagegen ja
auch nichts zu sagen. So kam es schließlich, dass die Strategie von Kommission und Rat seit der
österreichischen EU-Präsidentschaft voll aufgegangen ist: die Gewerkschaften einbinden und
neutralisieren und die Öffentlichkeit mit der frohen Botschaft von der "entschärften
Dienstleistungsrichtlinie" einseifen.
Am Ende haben Gewerkschaften und soziale
Bewegungen nicht einmal erreicht, dass die ursprüngliche Position der EP-Mehrheit zum Tragen kam. Dass
den sozialen Akteuren im Endspurt um die Richtlinie die Puste ausging, werden Verbraucher und abhängig
Beschäftigte in Europa bitter zu bezahlen haben.
Die Europäische Kommission akzeptiert die Änderungsvorschläge des Europäischen
Parlaments (Ausklammerung des Entsenderechts und der Gesundheitsdienste aus der Richtlinie) natürlich
nur formal. Mit ihrer Entsenderichtlinie (Leitlinie für die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der
Erbringung von Dienstleistungen) will die Kommission auf der Linie des alten Bolkestein-Entwurfs den
Mitgliedstaaten untersagen, die Einhaltung des EU-Entsenderechts wirksam zu kontrollieren.
Zur Liberalisierung des Gesundheitswesens
will sie einen neuen Richtlinienentwurf präsentieren. Soziale Dienstleistungen betrachtet die
Kommission als "wirtschaftliche Tätigkeiten" sie fallen unter die Richtlinie,
Ausnahmen müssen ausdrücklich festgeschrieben sein. So steht bis 2009 die vollständige
Liberalisierung der Postdienste auf der Tagesordnung.
Industriekommissar Günter Verheugen
hat neue Initiativen zum "Bürokratieabbau" vorgestellt rund 220 EU-Richtlinien sollen
zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen ausgedünnt und verschlankt werden. Dies
will auch die deutsche Ratspräsidentschaft 2007 zu ihrem Schwerpunkt machen. Der "Geist von
Bolkestein" ist quicklebendig; die Auseinandersetzung ist mit der Verabschiedung der
Dienstleistungsrichtlinie nicht vorbei, sondern sie geht weiter.
Der linke "Pessimismus des
Verstandes" hegt die begründete Skepsis, ob die Linke, die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen
angesichts der auch von ihnen mitzuverantwortenden gesellschaftlichen und politischen
Kräfteverhältnisse noch in der Lage sind, auf der Höhe der ihnen gestellten Aufgaben zu
agieren. Das Megathema "Dienstleistungsrichtlinie" betraf viele und konnte viele kritische
Potenziale bündeln. Die jetzt folgenden Auseinandersetzungen werden Einzelthemen wie Gesundheit,
Entsendung von Arbeitnehmern, soziale Dienstleistungen usw. und deshalb zunächst einmal zersplitterte
Teilöffentlichkeiten betreffen; die Ausgangsbedingungen für die Entfaltung von Widerstand werden
deshalb schwieriger. Es wäre natürlich nur allzu wünschenswert, wenn diese Prognose durch
die reale Entwicklung widerlegt würde.
Klaus Dräger
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