SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2006, Seite 15

Kernpunkte der Dienstleistungsrichtlinie

Im ursprünglichen Richtlinienentwurf des ehemaligen Binnenmarktkommissars Frits Bolkestein war der umstrittenste Punkt das Herkunftslandprinzip im freien grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr (Artikel 16). Es besagte, dass z.B. eine britische Dienstleistungsfirma sich nur an britische Umwelt-, Qualitäts-, Arbeitssicherheits- und andere Vorschriften und Standards halten muss, wenn sie vorübergehend einen Auftrag in den Niederlanden ausführt. Der Begriff Herkunftslandsprinzip taucht in der beschlossenen Richtlinie nicht mehr auf.Dafür ist nun vom freien Dienstleistungsverkehr die Rede. Der Mitgliedstaat, in dem ein Dienstleister aus einem anderen EU-Mitgliedstaat vorübergehend tätig wird, hat für die "freie Aufnahme und freie Ausübung von Dienstleistungstätigkeiten innerhalb seines Hoheitsgebiets" zu sorgen. Dabei müssen inländische Vorschriften und Standards nur dann beachtet werden, wenn diese diskriminierungsfrei, erforderlich und verhältnismäßigsind. Als "erforderlich" gelten nur solche Vorschriften, die aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, der Volksgesundheit oder der Umwelt erlassen wurden. Als "verhältnismäßig" gelten nur solche Vorschriften, die nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der in der Vorschrift niedergelegten Ziele notwendig ist.
Der Unterschied zum ursprünglichen Bolkestein-Entwurf ist nicht so groß, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die nun beschlossenen Kriterien zur Erforderlichkeit standen bereits wortgleich in Artikel 17,17 der "allgemeinen Ausnahmen vom Herkunftslandsprinzip" im alten Entwurf. Welches Recht für Dienstleister aus dem EU-Ausland gilt, lässt die Richtlinie offen. Bestimmte inländische Qualitätsstandards, sozialpolitische Auflagen usw. gelten nur noch für inländische Dienstleistungsunternehmen.
Die Richtlinie gesteht den Mitgliedstaaten das Recht zu (Artikel 16,3), im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht ihre "Bestimmungen über Beschäftigungsbedingungen einschließlich derjenigen in Tarifverträgen anzuwenden". Doch was ist konkret damit gemeint: Darf ein Mitgliedstaat auf seinem Hoheitsgebiet tätige Dienstleister aus anderen EU-Mitgliedstaaten zwingen, inländische Tarifverträge zu übernehmen, oder geht es nur darum, dass im Inland auch weiter nationalstaatliches Arbeitsrecht gilt und Tarifverträge ausgehandelt und abgeschlossen werden können?
Zu den erwähnten drei Grundsätzen kommt eine Liste von sieben Anforderungen an Dienstleister aus dem EU-Ausland hinzu, die Mitgliedstaaten im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs künftig nicht mehr stellen dürfen. Verboten werden auch notwendige und sinnvolle Auflagen wie die Pflicht zur Registrierung bei einer Berufsgenossenschaft, der Beitritt zu einer Handwerkskammer oder Vorschriften zur Verhinderung von Scheinselbstständigkeit.
Artikel 5,2 und 8,1 und 15,6 sowie insbesondere Art.33—38 betreffen vornehmlich die Zusammenarbeit der Verwaltungs- und Kontrollbehörden der Mitgliedstaaten. Hier wurde ein Gesamtsystem der Wirtschaftsaufsicht geschaffen, das in der Praxis wirksame Ermittlungen und Überprüfungen stark erschweren wird. Sogar das inländische Strafrecht wird jetzt durch die Richtlinie beschnitten. In Artikel 1,5 heißt es: "Die Mitgliedstaaten dürfen die Vorschriften dieser Richtlinie nicht umgehen und die Dienstleistungsfreiheit nicht durch Anwendung von Strafrechtsbestimmungen einschränken, welche die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit gezielt regeln oder beeinflussen." Die Gewerkschaft IG BAU kommentierte dazu: "Im Grunde wird dadurch die Anwendung allen Strafrechts mit speziellem Bezug zur jeweiligen Dienstleistung verboten ... Wenn eine Firma unberechtigterweise in geschützten Berufsbereichen tätig wird, die unter den Geltungsbereich der Richtlinie fallen, kommt es in Zukunft für die Frage der Strafbarkeit der unberechtigten Berufsausübung vor allem darauf an, ob es sich um eine Inlands- oder eine Auslandsfirma handelt."
Eine Reihe von Dienstleistungsbranchen sind vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen (Notare, Sicherheitsdienste, Hafendienste, Verkehrsdienste, Steuerwesen, audiovisuelle Dienste, Gesundheitsdienste, Dienstleistungen von Zeitarbeitsagenturen usw.). Das EU-Entsenderecht wurde ausgeklammert. Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge sind zu großen Teilen von der Richtlinie erfasst. Dies gilt zum einen für "Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse" (Telekommunikation, Energie, Bahn, Post usw.), aber auch für Wasser, Abwasser und Abfall. Für diese Bereiche gelten lediglich die Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr nicht.
Zum anderen werden nur "nichtwirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse" von der Richtlinie ausgenommen. Das sind ausschließlich hoheitliche Aufgaben des Staates (Militär, Justiz, Polizei), kostenlos vom Staat bereitgestellte Dienste wie öffentlicher Schulunterricht und Leistungen der Sozialversicherungen. Dienstleistungen in den Bereichen Bildung, Kultur und Soziales sind prinzipiell von ihr erfasst, soweit sie nicht "überwiegend" durch öffentliche Gelder finanziert werden. Nur Dienstleistungen in den Bereichen "Sozialwohnungen, Kinderbetreuung und Unterstützung bedürftiger Familien und Personen", "die entweder vom Staat selbst, einem von ihm beauftragten Dienstleistungserbringer oder einer als solchen staatlich anerkannten gemeinnützigen Einrichtung erbracht werden", sind ausdrücklich von der Richtlinie ausgenommen.
Das nationale Arbeitsrecht, Tarifverträge und Beschäftigungsbedingungen, sind nur "als solche" von der Richtlinie ausgenommen — sie müssen aber "aus Gründen des Schutzes der Arbeitnehmer gerechtfertigt, nichtdiskriminierend, erforderlich und verhältnismäßig" sein "und mit sonstigen einschlägigen Rechtsvorschriften der Gemeinschaft in Einklang stehen."
Die Richtlinie hat eine "Revisionsklausel", die nach ihrer Umsetzung in nationalstaatliches Recht der Einzelstaaten der Kommission ermöglicht, in einem dreijährigen Rhythmus Vorschläge zur Neufassung von Artikel 16 (freier Dienstleistungsverkehr) und zu den Ausnahmen vom Anwendungsbereich vorzulegen.

Klaus Dräger

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