SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2006, Seite 24

Das "Wir" existiert nicht mehr

Ausblick auf die autonome Frauenbewegung

Der folgende Text ist das Schlusskapitel von Gisela Notz‘ soeben erschienener Broschüre Warum flog die Tomate? Die autonomen Frauenbewegungen der Siebzigerjahre, Neu-Ulm (AG SPAK) 2006, 80 Seiten, 7 Euro

Die gewaltfreie, lebendige, vielfältige, demokratische Gesellschaft von Frauen und Männern, die sich als Ebenbürtige begegnen und anerkennen, ist auch für die am besten ausgebildete Frauengeneration, die es in der Geschichte je gab, nicht erreicht. Barbara Holland-Cunz verweist darauf, dass über die Frage, wie lange auf die Verwirklichung der Utopie gewartet werden muss, offensichtlich keine Einigkeit zu erzielen sei. Nach ihrer Meinung hat sich die patriarchalische Herrschaft sogar "als sehr viel stabiler und dauerhafter erwiesen, als die ersten Aktivistinnen vermutet haben".

Errungenschaften

Dennoch kann die Wirkung der Aktivitäten der Frauenbewegungen der 70er Jahre auf Erziehungsweisen, Verhaltens- und Umgangsformen sowie auf die Gesetzgebung nicht übersehen werden.
Frauenbewegungen haben viele eigene Einrichtungen geschaffen, die zwar stark von regionalen Spezifika geprägt waren, sich im Laufe der Jahre zunehmend professionalisiert haben und öffentliche Institutionen entscheidend beeinflusst haben. Ihre Aktionsformen und ihr Politikstil in Form von personenzentrierten, egalitären, offenen Gruppen und regionalen und internationalen Netzwerken förderte nicht nur die Kompetenzbildung innerhalb der eigenen Reihen, sondern beeinflusste die Mitte der 70er Jahren entstandenen sozialen Bewegungen grundlegend. Die Reform des Ehe- und Familienrechts in der zweiten Hälfte der 70er Jahre sind ebenso wie die Reform des §218 auf die Aktionen des "zivilen Ungehorsams" der Frauenbewegungen zurückzuführen. Auch das Interesse an einer eigenen Auseinandersetzung von Frauen mit der Geschichte der Frauen entwickelte sich aus den Neuen Frauenbewegungen. Dieses Interesse war von Anbeginn an nicht auf die universitäre Geschichtswissenschaft begrenzt. Daraus mag sich das konsequente Desinteresse erklären, das die "Historikerzunft" dieser neuen Disziplin zunächst entgegenbrachte.
Frauenbewegungen haben nicht nur das Leben der in ihnen aktiven Frauen verändert. Sie haben auch auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern gewirkt, und auch manche der beteiligten Männer machen sich verstärkt Gedanken um ihre Rollen. Auch wenn "Geschlechtergerechtigkeit" nach wie vor nicht erreicht ist und Robert W. Connell, einer der bekanntesten Männerforscher aus den USA, darauf verweist, dass leider noch wenige seiner Geschlechtsgenossen es als ihre Aufgabe empfinden, als Reaktion auf die feministische Anklage, ihren "Kopf umzukrempeln, eine unterstützendere Einstellung gegenüber Frauen zu entwickeln und andere Männer für ihr Verhalten zu kritisieren". Er beschreibt eine Männergruppe, die diesem Anspruch weitestgehend gerecht wird. Er kritisiert allerdings, dass die meisten von ihm befragten Männer ihren Blick auf Erwartungen und Einstellungen, persönliche Umgangsformen und direkte Interaktion beschränken, die wirtschaftliche Diskriminierung, institutionalisierte Aspekte des Patriarchats und den Feminismus als politische Bewegung jedoch nicht wahrnehmen. Der Blick auf die patriarchale Diskriminierung unterbleibt auch, wenn Männer sich zunehmend undifferenziert ebenfalls als "Opfer der resistenten Geschlechterverhältnisse" begreifen.
Feministinnen beobachten skeptisch, wenn die Umbenennung der Frauenpolitik zunächst zur Geschlechterpolitik und dann zur Genderpolitik und — analog dazu — Beiträge zur Geschlechterforschung und zur Genderforschung als "Paradigmenwechsel" gepriesen, und in Wirklichkeit Frauenprojekte und -politiken für obsolet oder inopportun gehalten werden.

Von der Frauen- zur Geschlechterpolitik?

Der Begriff "gender" geht auf die nur in der englischen Sprache mögliche Unterscheidung zwischen dem biologischen Geschlecht (sex) und dem kulturell konstruierten sozialen Geschlecht (gender) zurück. Annette Kuhn verweist darauf, dass die erkenntnis- und geschichtstheoretisch belangvollen Fragen, wo das biologische Geschlecht anfängt und wo es aufhört oder "Wann können wir vom Geschlecht als einem kulturell konstruierten, kollektiven und/oder individuellen Körper sprechen?" sich weder früher, noch heute eindeutig beantworten lassen. Damit wäre nicht nur das soziale, sondern auch das biologische Geschlecht sozial und kulturell überformt. Karin Hausen und Heide Wunder vermissen offensichtlich ebenfalls den "Paradigmenwechsel", wenn sie in ihrem Buch Frauengeschichte — Geschlechtergeschichte darauf verweisen, dass das Interesse der Frauengeschichte von Anfang an einherging mit der Absicht, "auch die Geschichte der kulturellen Geschlechterordnung zu erforschen".
Christina von Braun hob hingegen in einer Einführung in "Gender Studies" die Vorteile des Begriffs hervor. Er habe "sich zu einem Begriff mit weitreichenden Implikationen für gegenwärtige Subjekt- und Identitätsdiskurse entwickelt". Seine Verwendung stelle im Gegensatz zum Feminismusbegriff, der häufig als Ausschluss- bzw. Ausgrenzungskategorie verstanden wird, ein Angebot "auch an männliche Wissenschaftler dar ... sich mit der Konstruiertheit ihrer eigenen und der in Texten vermittelten Geschlechtsidentität auseinanderzusetzen".
Hier wird auch die Chance des seit der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 etablierten Gender Mainstreaming gesehen, das von Europäischer Union und Bundesregierung auf die Agenda gesetzt wurde. Das Konzept will ausdrücklich Männer als Akteure beim Aufbau eine geschlechtergerechten Gesellschaft beteiligen und verpflichten. Übersetzt hieße Gender Mainstreaming: "Integration der Gleichstellung von Mann und Frau in alle Politikbereiche" — Genderpolitik als Querschnittsaufgabe, wie es in einigen Politikbereichen, Institutionen und Organisationen schon früher versucht wurde. Gender Mainstreaming bietet eine Perspektive, die die Klärung von geschlechtsspezifischen Ungleichheitslagen im nationalen und internationalen Rahmen im Auge behält. Eine Verknüpfung des Top-down-Konzepts mit einer Beteiligung "von unten" steht noch aus.

Neue Bewegung?

Eine neue Bewegung, die von beiden Geschlechtern getragen wird, könnte allerdings erst dann entstehen, wenn Frauen und Männer das Begehren nach einer geschlechtergerechten Gesellschaft entwickeln und wenn die theoretischen Konzepte mit politischen Zielvorstellungen verbunden würden und Eingang in praktisches politisches Handeln fänden. Die Geschichte sozialer Bewegungen, besonders die der Frauenbewegungen, hat allerdings gezeigt, dass es gerade die Erfahrungen sind, die Menschen am Rande des Mainstreams oder außerhalb der Dominanzkultur gesammelt haben, die soziale und gesellschaftliche Veränderungen bewirkt haben.
Obwohl heute in (fast) allen Organisationen Feministinnen zu finden sind und separate Frauenräume heute keiner Rechtfertigung mehr bedürfen, entpolitisieren sich die Frauenbewegungen zusehends. Den meisten (privilegierteren) Frauen scheint es nunmehr vor allem um die Frage zu gehen, wie sie die Machtpositionen in den bestehenden Institutionen und Gremien einnehmen können, an denen Frauen nach wie vor nur einen geringen Anteil haben. Gleichzeitig nehmen Erwerbslosigkeit und Armut in erschreckendem Maße zu.
Bei vielen jüngeren Frauen hat das Wort Frauenbewegung heute keinen guten Klang. Feminismus ist als Welterklärungsmodell für sie nicht mehr attraktiv. Selbst wenn sie verstehen, dass männerfreie Räume ihre Berechtigung haben, fühlen sich nur wenige dort hingezogen. Für die Zukunft wird der gemeinsame Nenner "Frau sein" ebenso wenig für den politischen Kampf ausreichen, wie er in der Vergangenheit wirklich tragfähig sein konnte. Zu unterschiedlich sind die Interessen verschiedener Frauengruppen, zu sehr etabliert haben sich neue Unterschichtungen (auch) unter Frauen, zu gnadenlos sind die Konkurrenzkämpfe um die geringer werdenden Ressourcen. Das notwendig abstrakte "Wir", das innerhalb der "Neuen Frauenbewegungen" einmal eindeutig schien, existiert ohnehin nicht mehr.
Migrantinnen vor allem üben verstärkt Kritik am eurozentristischen Feminismus und gründeten eigene Netzwerke. EU-Erweiterung und fortschreitende Globalisierungsprozesse haben die Internationalisierung und damit auch die Ausdifferenzierungen der Frauenbewegungen weiter vorangetrieben. Die Entwicklung internationaler feministischer Netzwerke gibt Anlass zu Hoffnung. Sie bedeutet, dass auch internationale Ziele und Strategien entwickelt und feministische Kommunikationen und Handlungsmöglichkeiten ebenso globalisiert werden müssen. Feministinnen verweisen darauf, dass Gegen-Macht im Mahlwerk der neoliberalen Globalisierung ebenso notwendig wird wie Mit-Macht.
Internationale Bewegungen für eine friedliche Welt, gegen den neoliberalen Freihandel und die zunehmende Ausbeutung sind Beispiele, dass sich Widerstand formiert. In diesen Bewegungen und Kampagnen sind besonders viele Frauen aktiv. Ihre Proteste richten sich gegen die Zerstörung der Umwelt, gegen die Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft, gegen die soziale und geschlechterspezifische Ungleichheit, und gegen die ungleiche Verteilung von Ressourcen, Wissen und Macht. Ihre Hoffnungen richten sich darauf, dass diese Ungleichheiten überwunden werden und Alternativen zur kapitalistisch-patriarchalischen Wirtschaftsweise (z.B. Genossenschaften) geschaffen werden.

Gisela Notz

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