SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2007, Seite 04

Vorsorgender Sozialstaat

Kolumne von Thies Gleiss

Auf seinem Weg, sich einem größeren Publikum bekannt und beliebt zu machen, als der Besucherschar des Wiesbadener Sternschnuppenmarkts, stolpert der SPD-Oberhamster Kurt Beck durch die politische Landschaft wie einst der letzte rheinland-pfälzische Bartträger mit Kanzlerambitionen, Rudi — Bin Baden — Scharping. Der musste sich seinerzeit sogar waschen und rasieren, um sich für den Job als Regierungschef zu bewerben. Genützt hat es bekanntlich nichts. Doch hätte es nützen können?
Im Grunde ist die ganze Geschichte vom Bartschneiden und damit verbundenen Extragewinnen schon vor hundertfünf Jahren im berühmten philosophischen Russell-Paradox schlussendlich abgehandelt worden: Ein Fürst verspricht dem Barbier einer Gemeinde eine hohe Belohnung, wenn er ein Jahr lang nur genau den Männern den Bart schere, die sich nicht selbst rasieren würden. In einer realen Welt der sprießenden Bartstoppeln hat der Barbier keine Chance, den Preis zu bekommen. Rasiert er sich selbst, verletzt er ebenso die Regel, wie wenn er sich einen Bart wachsen lässt.
Was dem Oberbarbier Beck von wem versprochen wurde, braucht hier nicht erörtert zu werden, wir vermuten mal, dass es nicht viel mehr als ein milder als sonst ausgeführter Fußtritt sein wird, sein Versuch, einem erwerbslosen Auch- nicht-selbst-Rasierer einen Teil der Prämie zu versprechen, muss aber schon aus Gründen der Logik scheitern. Sollte der Kurt bis zum Wahljahr 2009 dem Rudi folgen, und sich die Gesichtsbehaarung entfernen, dann wird auch dies für ihn nicht zum Sieg reichen.
Nach der plötzlichen Übernahme des Amtes vom ebenso glücklosen Genossen Platzeck, versuchte sich Beck zunächst als Schröder-Imitator und skandierte die alte Parole, dass Wahlen nur in der Mitte zu gewinnen wären. Seine Sorge galt dem angeblich gebeutelten Mittelstand, dessen Leistung nicht genügend gelohnt würde. Doch kaum einer wollte diese Leier noch hören, wo alle Welt auf die Parasiten der Sozialhilfebezieher und Erwerbslosen eindrosch, wo Tag für Tag buchstäblich jede Sau von neuen Vorschlägen zur Umverteilung von Unten nach Oben durch die Dörfer getrieben werden konnte.
Nach der Sommerpause durfte Beck dann die "Unterschichtsdebatte" lostreten und seine Sorge über das neue Prekariat auf allen Kanälen ausbreiten. Doch schon damals klammerte er sich an die gleichen Bilder, die ihn jüngst auch auf dem Sternschnuppenmarkt die Sicht trübten, als er einem Schmuddelkind der Post-Hartz-IV-Gesellschaft riet, wenn er sich wüsche und frisiere, hätte er in drei Wochen einen Arbeitsplatz. Dass Millionen Menschen durch die moderne kapitalistische Politik in die industrielle Reservearmee rekrutiert werden und dort vor allem die schmutzigsten Bataillone der, wie Marx es nannte, stagnierenden relativen Überbevölkerung ausmachen, ist für den SPD-Chef Beck alles nur eine Frage der individuellen Einstellung. Die Menschen würden sich gehen und hängen lassen, wären mutlos und ohne Antrieb.
Seine Parteiideologen haben für dieses Erklärungsmuster schon geraume Zeit die Munitionskammern gefüllt und die Losung des "vorsorgenden Sozialstaats" ausgerufen. Nicht die alte sozialdemokratische Linie des nachsorgenden Sozialstaats, der kollektiven Versorgung der Bedürftigen, der Umverteilung nach Unten ist heute gültig, sondern die individuelle Schuldzuweisung und das Angebot, sich selbst helfen zu können. Jeder ist seines Glückes Schmied — diese alte Kleinbürgerparole — ersetzte alle bisherigen SPD-Programme.
Da ist es schon passend, wenn ein SPD-Ministerpräsident, einem Erwerbslosen rät, er solle sich mal waschen und rasieren, dann würde es mit dem Job schon klappen. So etwas ist dann vorsorgender Sozialstaat. Besser wäre es noch, Herr Beck hätte dem Kollegen einen Bart- und Haarschneider geschenkt, wie er gerade von Tschibo und Aldi verkauft wird, dann wäre ja sogar noch eine kleine Ich-AG drin, auch wenn die Friseurinnung protestiert.
Es wird mit Kurt Beck kein gutes Ende nehmen. So viel ist klar. Wenn er so weiter macht, ist noch nicht einmal die Juniorkanzlerschaft in einer großen Koalition in Reichweite. Und die glückliche Erlösung seines Bartträgerkanzlerkandidatenvorgängers Rudi wird ihm auch nicht gegeben werden. Der wurde durch den Parteitagsputsch von Oskar Lafontaine schon von einem kleinen Sturm alter sozialdemokratischer Ideale davon gepustet. Doch von denen ist heute weit und breit keine Spur.

PS. Die Feministinnen haben das Bartschneide-Paradox immerhin durch die Einführung einer Friseurin ohne eigenen Bartwuchs in die Geschichte aufheben können. Aber auch das werden Kurtchen und Andrea wohl vermasseln.

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang