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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2007, Seite 05

Unterschichten

Von der Verleumdung zur Drohung

Die meisten Kommentatoren — auch auf der Linken — haben die mediale Wiederbelebung der sog. Unterschichtendebatte als eine — längst fällige — Anerkennung der Realität gewürdigt, dass dieses Land sozial gespalten ist. Ich meine, dass dies ein großes Missverständnis ist.
Als Kurt Beck mit dem Satz: "Es gibt eine Unterschicht in Deutschland" auf die Studie aus dem eigenen Hause (der Friedrich-Ebert-Stiftung) reagierte, nahm er nicht nur zur Kenntnis, dass 8% der Gesellschaft "geprägt sind von sozialem Ausschluss und Abstiegserfahrungen", sondern machte sich auch eine Schlussfolgerung der Studie zu eigen: "Die (nicht einfache) strategische Herausforderung liegt darin ... die verunsicherte Arbeitnehmermitte und die erreichbaren Gruppen im unteren politischen Bereich politisch zu integrieren." Betonung auf: erreichbaren.
Das abgehängte Prekariat mit seiner Prägung von sozialem Ausschluss und Abstiegserfahrungen, mit seinem hohen Anteil an Arbeitslosen, Ostdeutschen, Nichtwählern sowie Wählerinnen und Wählern der Linkspartei wie rechtsextremer Parteien ist nicht mehr erreichbar. Kurt Beck hat das so formuliert: Diese Unterschicht "hat keinen sozialen Aufstiegswillen mehr". Deshalb muss man sie abschreiben. Sie kann vernünftigerweise nicht mehr Gegenstand politischer Strategiebildung sein — jedenfalls nicht für eine Partei, die sich selbst in der Mitte der Gesellschaft ansiedelt und auch die Arbeiterklasse immer noch in der bürgerlichen Mitte sieht und nicht in einem antagonistischen Widerspruch zum Kapital.
Das Stigma "selber schuld", das den Erwerbslosen seit Beginn der Massenarbeitslosigkeit erfolgreich angehängt wird, um die gesellschaftliche Aufmerksamkeit von den wirklich Verantwortlichen abzulenken, wird durch Kurt Becks "Entdeckung der Unterschicht" nicht aufgehoben, sondern auf eine höhere Stufe gehoben. Kurt Beck ist nicht aus der Reihe getanzt. Er setzt im Gegenteil den menschenverachtenden Umgang der SPD mit den Opfern des Heuschreckenkapitalismus fort. Die Galerie der populistischen Sprüche ist mittlerweile stattlich: Sie reicht von Gerhard Schröder ("Es gibt kein Recht auf Faulheit") über Wolfgang Clements Wort von den "Parasiten" und Franz Müntefering ("Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen") bis eben zu Kurt Beck ("Die haben keinen Aufstiegswillen mehr").
Das einzig Neue an Beck ist das implizite Eingeständnis, dass die Hartz-Gesetze mit ihrer Zielsetzung, mehr Menschen in Arbeit zu bringen, gescheitert sind. An sich müsste ein solches Eingeständnis einer scharfen gesellschaftlichen Kritik an dem Porzellan, das damit zerschlagen wurde und den Urhebern solch verantwortungsloser Politik Platz machen — angefangen bei Peter Hartz selbst, der inzwischen wegen Korruption angeklagt ist. Doch darüber wird der Mantel des Schweigens gehüllt und keine Gewerkschaft steht auf und geißelt die Räuber und Enteigner, die eine Gesellschaft zerstören. Wer keinen Aufstiegswillen mehr hat, dem kann man nicht mehr helfen — er will sich ja selbst nicht mehr helfen, so die Schlussfolgerung, die nahe gelegt wird. Da ist Hopfen und Malz verloren, so jemanden kann man nur links liegen lassen. Ausschuss. Pech gehabt. Wenn man so jemanden ausgrenzt, braucht man kein schlechtes Gewissen mehr zu haben. Er ist ja selber schuld. Er hat keinen Aufstiegswillen mehr.
Kurt Becks Botschaft an die Öffentlichkeit ist nicht die Entdeckung der Unterschicht, sondern dass man sie ruhig sich selbst überlassen darf. Ausgrenzung ist moralisch nicht mehr anrüchig. Bei fehlendem Aufstiegswillen grenzen sich die Betroffenen schließlich selber aus. Das ist eine Kampfansage, eine Drohung: Wer sich selbst ausgrenzt, hat mit dem Wohlwollen und Verständnis der Gesellschaft nicht zu rechnen. Der darf als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Der hat kein Recht auf Rechte. Die bürgerliche Mitte braucht sich nicht mehr darum zu kümmern, wie sie diese Menschen integriert, sie muss nur darauf achten, dass sie unter Kontrolle gehalten werden. Sie sollen die Gesellschaft möglichst wenig kosten, weitere Leistungskürzungen sind deshalb gerechtfertigt, und wenn sie sich zu stark wehren, kriegen sie eins aufs Maul. Wir sind nur noch einen Schritt von der Etikettierung der Unterschicht als "classes dangereuses", als "gefährliche Klassen", entfernt, mit dem sie Frankreichs rechtspopulistischer Innenminister Sarkozy bedacht hat. Haftet es einmal an, sind sie als vogelfrei erklärt. Dann gilt: Bahn frei zum Abschuss!

Angela Klein

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