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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2007, Seite 06

Frankreich — Schweiz

Das Bleiberecht in Nachbarländern

Die Einwanderungspolitik wird in Europa genauso eng koordiniert wie die Wettbewerbspolitik, die Beschäftigungspolitik u.a., sogar unabhängig davon, ob ein Land Mitglied der EU ist oder nicht. Im September dieses Jahres stimmte die Mehrzahl der Schweizer in einer Volksabstimmung einem reaktionären "Reform" des Ausländergesetzes und einem Asylrechtsänderungsgesetz zu; der rechtspopulistische französische Innenminister Sarkozy unterbreitete im Frühsommer der Nationalversammlung ein Gesetz über Niederlassung und Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht. Der Vergleich zwischen beiden ist aufschlussreich.
Die Übereinstimmungen sind nicht zufällig. In Frankreich hat man Recht auf drei Jahre Aufenthalt, um die "Fähigkeiten und Talente" zur Geltung zu bringen. Das Schweizer Gesetz beschränkt das Recht auf Aufenthalt auf eine kurze Dauer und allein auf "Führungskräfte, Spezialisten oder andere Facharbeiter". Das zugrundeliegende Prinzip liegt auf der Hand: Jenseits der Regeln, die für den freien Personenverkehr innerhalb der Europäischen Gemeinschaft gelten, wird der Zuzug und der Aufenthalt von Ausländern strikt den Bedürfnissen der Wirtschaft angepasst. Die neue Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre wird dem Ausländer ausgehändigt, der "geeignet scheint, einen bedeutenden und dauerhaften Beitrag zur Entwicklung der französischen Wirtschaft oder zur Ausstrahlung Frankreichs in der Welt oder zur Entwicklung des Landes, dessen Staatsbürger er ist, zu leisten". Das Schweizer Gesetz schreibt vor, dass "die Zulassung von Ausländern zur Ausübung einer lukrativen Tätigkeit den Interessen der schweizerischen Wirtschaft dienen muss".
Diese einheitliche Perspektive hat diskriminierende Maßnahmen und Sicherheitsvorkehrungen zur Folge, welche die Grundsätze der internationalen Menschenrechtskonvention, der Flüchtlingskonvention und der Kinderrechtskonvention unterlaufen. Das französische Gesetz setzt die Frist, innerhalb derer ein Einwanderer einen Antrag auf Familiennachzug stellen kann, auf zehn Monate herauf; das schweizerische Ausländergesetz setzt das Alter der Kinder, die im Familiennachzug nachkommen können, auf 12 Jahre herunter.
Das französische Einwanderungsgesetz untersagt abgewiesenen Asylbewerbern oder solchen ohne Papiere den Aufenthalt in Aufnahmezentren, während Angehörige von Staaten, die als sicher gelten, vom Bezug der Sozialhilfe ausgeschlossen werden. Das schweizerische Pendant bestimmt, dass abgelehnte Asylbewerber keine Sozialhilfe erhalten; wenn es nicht möglich ist, sie zurückzuschicken, erhalten sie nur einen Notbedarf, der weit unter dem Existenzminimum liegt.
Das französische Gesetz behält die Möglichkeit einer Sicherungsverwahrung von 30 Tagen vor eine Abschiebung bei; das neue Schweizer Gesetz dehnt diese Form der Präventivhaft auf 24 Monate aus.
Das Gesetz Sarkozy streicht den Sans Papiers die automatische Regularisierung ihres Status nach zehn Jahren klandestinem Aufenthalt; das Gesetz Blocher untersagt die Umwandlung einer Aufenthaltsgenehmigung in eine Aufenthaltserlaubnis — ebenfalls nach zehn Jahren.
Von allen Seiten gleichen sich die Gesetze, mit denen Einwanderer aus Nicht-EU- Ländern zur Klandestinität, Illegalität und Prekarität gezwungen werden, an. Tatsächlich liefern die Menschen ohne Papiere in all diesen Ländern mehreren Wirtschaftszweigen, vor allem der Hotellerie und dem Bau, eine Arbeitskraft, deren Arbeitsbedingungen umso beklagenswerter sind, wie sie keinerlei Schutz genießen — weder einen sozialen noch einen gewerkschaftlichen. Die Mehrzahl der Missbräuche kommt auch nicht auf der Seite der Migranten und Asylbewerber vor, sondern auf der Seite der Unternehmer.
Warum aber gehen Menschen ins Exil? Warum wandern sie aus? Warum sind in dieser Frage Gesetze nötig? Die Ursachen sind vielfältig und häufig hängen sie miteinander zusammen.
Da sind zum einen die Kriege und die polizeiliche Repression. Dann aber sind da die enormen sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichte, welche die "neue Weltordnung" mit ihrer neo-imperialistischen Prägung hervorbringt. Die Wanderungsströme weisen eindeutig aus den ärmsten Ländern in solche, die das Image "entwickelter Länder" haben — das sind die, welche die Weltwirtschaft beherrschen (die USA, Kanada, die EU, mit der erstaunlichen Ausnahme von Japan). Bis vor kurzem haben diese schreienden wirtschaftlichen Ungleichheiten Wanderungsströme aus dem Mittelmeerraum in die industrialisierten Länder Nordeuropas in Gang gesetzt. Man wird nicht mit Maßnahmen der Selektion und der Repression an die Wurzeln der Ungleichheit gehen können. Man muss die Ursachen angehen, nicht die Wirkungen.
Eine Welthandelsorganisation, die mit wirklicher politischer Macht ausgestattet ist, müsste die Bedingungen für einen gerechten Handel formulieren, der Nahrungsmittelsicherheit Vorrang geben, die Ausbeutung der Rohstoffe den Pseudogesetzen des Marktes entziehen, die industrielle Produktion von der alleinigen kapitalistischen Regel des Profits befreien, das öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesen stärken, die finanzielle Autonomie der Medien in der Perspektive einer autonomen Entwicklung der Kulturen stärken, die Verbreitung des Wissens und der technologischen Entwicklungen unabhängig von protektionistischen Patentsystemen sicherstellen. Eine solche Welthandelsorganisation müsste die materiellen und intellektuellen Ressourcen eines jeden Landes durch gerechten Austausch und unter Vermeidung jeder zerstörerischen Ausbeutung der menschlichen und natürlichen Umwelt fördern.

Claude Calame

Der Autor ist Professor an der Hochschule für Sozialwissenschaften in Paris. (Übersetzung: Angela Klein)



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